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Wenn der Asphalt glüht…

…und der Aufzug stehen bleibt. Die U-Bahn stoppt. Das Internet schweigt. Alle Lichter verlöschen. Das Wasser aus dem Hahn versiegt. Dann herrscht der Black-Out. In New York, der Mutter der Städte, ist in diesen Sommer dieser Notfall bereits zweimal eingetreten. Die totale Havarie. K.O. in der 12-Millionenstadt, die nichts dringender in ihren Adern braucht als pulsierenden Strom. Einmal gingen in Manhattan die Lichter aus, auch am Time Square. Ein anderes Mal in Brooklyn. Stundenlang. Auch die Berliner kennen das. Manchmal trennen tollkühne Baggerfahrer zielsicher die Zufuhr mit lebensnotwendigem Saft aus der Steckdose, weil sie punktgenau die Hauptleitung lahmlegen.

 

Über den Dächern New Yorks. Cory Henry & The Funk Apostles.

 

In New York sollen die aktuellen Stromausfälle Folge der großen Hitze sein. Wenn der ganze Schlamassel wie in New York bei 115 Fahrenheit passiert, das sind stolze 46 Grad, dann kollabiert eine Stadt. Stillstand. Nur noch Schweiß fließt in Strömen. Der Bürgermeister ruft den Notstand aus. Überleben in Zeiten tropischer Temperaturen und der Stromausfälle. Wir erleben die totale Abhängigkeit von Computergesteuerten Algorithmen. Laptops und Smartphones werden schwarz, wenn sich Funknetze reihenweise abmelden.

Cool bleiben, lautet die Devise. Sobald der Strom wieder fließt, die U-Bahn losrattert und die Klimaanlagen wie gewohnt wieder heiß laufen, kehren alte Bequemlichkeiten zurück. Na siehste! Noch mal gutgegangen. Nur nichts ändern. Immerhin ist es dann wieder möglich, die andere Seite von New York kennenzulernen. Zeit um begnadete Musiker wie Cory Henry zu hören. Pianist, Wunderkind, Tausendsassa auf den Tasten. Begleiter von Größen wie Bruce Springsteen, Marcus Miller und Motor der New Yorker Kultband Snarky Puppy.

 

 

Cory Henry interpretiert auf seine Art Amazing Grace. Dieses Kirchenlied über die „wunderbare Gottes Gnade“ ist Hoffnungs- Trauer- und Trostlied zugleich. Der Legende nach ist seine Entstehung einem Schlüsselerlebnis des Sklavenhändlers John Newton zu verdanken. Der Kapitän geriet im Mai 1748 in schwere Seenot. Nach seiner wunderbaren Rettung schwor er, Sklaven als Menschen zu behandeln. Später gab er seinen Beruf sogar ganz auf, wurde Priester, schrieb den Text zu Amazing Grace und bekämpfte die Sklaverei.

Welches Schlüsselerlebnis brauchen Weltenlenker heute? Welchen SOS-Ruf? Cory Henry zaubert auf den Tasten seines Flügels den Sound nie aufzugeben, diese Welt in Seenot aus schwerem Wasser zu retten. Amazing Grace. Was für eine wunderbare Hymne!

 

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Zauber im Gutspark

Ein Sonntagabend im Juli. Das Theaterdorf Netzeband in der Prignitz, nördlich von Berlin. Eine gute Autostunde entfernt. Die Kindervorstellung ist beendet. Die Besucher abgereist. Auf den Terrassen vor der Kirche studiert der Regisseur mit Schauspielern und großem Eifer „Ellernklipp“ ein. Das neue Stück vom Alt-Meister Fontane. Der märkische Goethe reflektiert über Blumen-Unkraut. „Und wer den Todten Blumen streut, der streut sie, denk´ ich, auch den Lebenden.“ Fontanes Stimmen hallen lautsprecherverstärkt durch den Park. Auf der Wiese posieren junge Mädchen für ihre Smartphones. Sie schlagen Rad, bringen sich in Position, werfen ihren Kopf nach hinten, streichen sich verführerisch durchs Haar. Hände in die Hüften. Brust raus, den Kopf zur Seite, ein Lächeln. Klick. Dann fröhliches Gelächter.

 

Seit über zwanzig Jahren der Klassiker im Gutspark Netzeband. „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas.

 

Vor der Kneipe im Gutshaus sitzen die Männer des Dorfes, Einheimische wie Zugereiste. Sie trinken ihr Sonntagsbier, klären die Lage und stellen fest, dass früher alles besser war. Eindeutig. Ohne Frage. Die nächste Runde bitte, aber dalli! Über allem schwebt eine sirrende Drohne. Ein Netzebander steuert sein Fluggerät über den riesigen Holzhaufen des wegen Waldbrandgefahrs ausgefallenen Osterfeuers. Seine schnurrende Wespe aus Metall fliegt weiter über die Kulisse des Parks, beobachtet die Proben der Fontane-Jünger, die Trinker und tanzenden Jungschauspielerinnen. Vor einem Vierteljahrhundert, kurz nach der Wende fing alles an. Theater am Rande der Welt. Dort, wo ein Neuanfang möglich war. Was für ein Zauber!

 

Stil-Leben im Gutshaus.

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Der Tintensklave

Fontane? Mmmh. Dieser preußische Goetheverschnitt und Märkische Heimatdichter? Ein Fall für Gestrige und angestaubte Geister, sagen viele. Einer für Deutsch-Lehrerinnen und Männer-Gesangsvereine. Aber nichts für Menschen von hier und heute. Tja. Der Meister sagte über sich selbst, er sei „mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose“. Dieses Talent zu würdigen, schlägt des Dichters Geburtsstadt Neuruppin, eine Autostunde von Berlin entfernt, mächtig auf die Werbetrommel. Der 200. Geburtstag ist zu feiern, mit Worten, Taten, Ausstellungen, Inszenierungen und dem ganzen Gedenk-Gedöns. Fontane gibt es natürlich auch als Playmobil-Figur.

Das kleine Neuruppin geht den großen Fontane 2019 sehr ambitioniert an. Nicht was der Dichter geschrieben hat, steht im Mittelpunkt einer zentralen Ausstellung. Sondern wie er die Welt aufgefasst, geschildert und interpretiert hat. Das Fontane-Prinzip wird vorgestellt. „So oder ähnlich. So oder ganz anders.“ Fontane liebte solche Wendungen. Dinge im Ungefähren lassen. „Sie erzielen den Effekt von Realität. Weil sie gelten lassen, dass die Wahrheit etwas Subjektives und Relatives ist“, schreiben Ausstellungsmacher.

 

Das Leben … ist ein weites Feld. Gesehen in Wittstock. Juli 2019.

 

Der Apotheker-Sohn aus Neuruppin entwickelte seine spezielle Meisterschaft des Dialogs. Fontane notierte alltägliche Situationen, alltägliche Ereignisse, würzte sie mit banalen Details. So erscheinen seine Romane bis heute real. Das Offenlassen in Dialogen als Prinzip. „Warum machst Du keine Dame aus mir? – Möchtest Du`s? – Nein.“ Das fragt Effi Briest im Alter von 17 Jahren ihre Mutter. Sie muss den 38-jährigen Landrat Innstetten heiraten. Das Ende? Effi stirbt mit 29, vermutlich aus Langeweile. Nicht anders funktionieren heute Serien auf Netflix oder TV-Quotenrenner wie „In aller Freundschaft“.

 

Der Meister in der Scheibwerkstatt. Theodor Fontane (30.12.1819 – 20.09.1898) Copyright: bpk

 

Fontane war eine unermüdliche, einzigartige Worterfindungsmaschine. Er mixte in seiner Schreibwerkstatt Buchstaben/Gedanken/Wörter neu zusammen. Sammeln als Leidenschaft. Geschichten im Kopfkinoformat. Den Kern herauspulen, das war ihm wichtig, mit „Pusselei“ und „Bastelei. Fontane: „Ich ordne, gruppire, erfinde, nur das Gestalten glückt nicht.“ Diese Fontane-Maschine lief auf Hochtouren.

Kostproben aus der Fontane-Manufaktur: Aufsteigemensch. Ängstlichkeitsprovinz. Behaglichkeitsbau. Dunkelstunde. Einbahnstraßenpersonenhülle. Erkältungsgeneigtheit. Generalpapierkorb. Hintertreppenweg. Kolossalschnupfen. Korrespondenzartikel-Fabrikant. Lobkugeln. Mauseloch-Existenz. Nervenpleiten. Vertraulichkeitsausdruck. Vorurteilsalbernheit. Weltfriedensbrecher. Wiederverheiratungsgeschichten. Totalkenntnis. Trübsinns-Apathie.

 

Fontane als Ampelmännchen in Neuruppin. Das brandenburgische Städtchen hat zum 200.Geburtstag selbst das Verkehrsgeschehen „fontanisiert“.

 

Fontane. Ein alter Mann von gestern? In „Irrungen, Wirrungen“ notiert er über die Brandenburger Mentalität folgendes: Ängstlichkeitsprovinz. „Unsere gute Mark Brandenburg ist die Sparsamkeits-, und wo geholfen werden soll sogar die Ängstlichkeitsprovinz.“

Über das Lobkugeln. Diese können direkt in den Leib geschossen werden. Fontane: „Nur Blech und Oedheit.“ Das Parkett der Gesellschaft der Lobkugler sortiert sich folgendermaßen: „Alles ist doch schließlich Eitelkeit, Dünkel, Aufgeschlossenheit, Wichtigtuerei. Dazwischen brennt eine Tochter durch und der Sohn muss nach Amerika.“

Vortrefflichkeits-Schablone. Als Lohn- und Tintensklave war der Meister zu Lebzeiten stets in Geldnöten. Das schärfte seinen Blick auf Eliten wie Kutscher, Wichtigtuer wie Verlierer. Fontane. „Man kann alle Reisenden in zwei Charakterklassen theilen, in freundliche Sanguiniker, die überall sehen und auch sehen wollen, wodurch sich die Fremde vortheilhaft von ihrer Heimath unterscheidet und in leberkranke Nörgler, die sich zu Hause eine Vortrefflichkeits-Schablone zurechtgemacht haben und über alles verstimmt sind, was davon abweicht.“

 

„Fontane-Rose“ Jahrgang 2019. Blumen und Pflanzen waren für den Apotheker-Sohn das „ABC der Seele“.

 

Mehr Fontane gibt es hier. „Fontane.200/Autor – Die Leitausstellung zum 200. Geburtstag Theodor Fontanes.“ Bis 30. Dezember 2019 im Museum Neuruppin. Empfehlenswert. Besonders mit Führung. Denn man sieht nur, was man weiß. Noch so ein Fontane-Gedanke.

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Aus Kellern und Dachböden

Wer ist Anna Hönigsberg? Sie „wohnte“ im Block L112. In Theresienstadt. „Judenlager.“ Eine alte Postkarte, abgeschickt in Italien von einer Melanie Friedrich, abgestempelt am 13. Mai 1943. Ist die Karte angekommen? Wurde sie gelesen? Was ist aus den beiden Frauen geworden? Aus Absenderin und Empfängerin? Lukas Lev winkt ratlos ab, genau wie sein Freund Jiri Smutny. Die beiden Tschechen haben diese Karte gefunden. Und viel mehr. Briefe, Ghetto-Ausweise, Essensmarken, Flaschen, Teller, Besteck, Knöpfe, Ringe, Schmuck. Sogar eine Handgranate, die stammt allerdings aus dem I. Weltkrieg.

 

Jiri Smutny und Lukas Lev. Die Spurensucher von Terezin.

 

Spuren menschlichen Lebens. Ausgegraben aus meterdickem Schutt in Kellern und auf Dachböden im einstigen Ghetto Theresienstadt. Anna Hönigsberg war im Haus L112 interniert. L stand für Längs. Q für quer. L112 war ein Ort der Prominenten aus Berlin und Wien, sagt Lukas. Juden wurden während des NS-Regimes aus ganz Europa nach Theresienstadt verschleppt. Von der Außenwelt ab Ende 1941 hermetisch abgeriegelt, errichtete die SS in einer ehemaligen Militärfestung aus der K.u.K-Zeit ein riesiges Sammellager, eine Stunde von Prag entfernt.

 

Theresienstadt. Ehemalige Bahnhofstraße. Von 1941 bis 1945 Ghetto.

 

Vom Ghetto aus gingen insgesamt 63 Transporte weiter in Todeslager, in der Regel nach Auschwitz. Theresienstadt war kein Vernichtungslager. Theresienstadt war eine Art Zwischenstation. Die Menschen vegetierten zusammengepfercht auf durchschnittlich anderthalb Quadratmetern pro Bewohner. Sie starben „wie die Fliegen“. Über 35.000 Menschen an Hunger, Krankheit, Erschöpfung. Insgesamt waren bis zur Befreiung im Mai 1945 rund 140.000 Juden in Terezin, so der heutige Name, interniert.

 

Essensmarken aus dem Ghetto. Gefunden im Block L112. Jedes Haus steckt noch voller Geheimnisse. Man muss nur suchen.

 

Lukas Lev, der 37-jährige Guide von Theresienstadt sucht unermüdlich weiter. „Einer muss es ja machen. Sonst macht es niemand.“ Sein Motto. Tagsüber führt er Touristen aus aller Welt durch Theresienstadt, in seiner Freizeit gräbt er mit Freunden nach Spuren aus der Ghetto-Zeit. Seine Motivation? „Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Großmutter mit dem deutschen Namen Clausnitzer hatte. Sie war Sudetendeutsche“. Lukas sagt, er weiß, was Unrecht mit Menschen macht. Erst der Genozid der Nazis, dann die Vertreibung nach 1945. „Das lässt mich einfach nicht los.“

 

Aktuelle Grabungsstätte. Der Dachboden von L425.

 

2015 eröffnete er mit ersten Funden, es waren Wandzeichnungen, Gedichte und Graffitis, auf dem Dachboden L237 in der ehemaligen Bahnhofstraße eine kleine Ausstellung. Sie hieß: „Finde Träume, Erinnerungen und Wirklichkeit“. Für Lukas sind die Botschaften aus der Vergangenheit eine Art Facebook. Made in Terezin. Graffitis und Kritzeleien, Ausdruck von Verzweiflung, Angst, aber auch Hoffnung, Heimatliebe und dem Willen zum Überleben. Seine private Aktion mit der Ausstellung brachte ihm viel Anerkennung, aber auch massiven Ärger. Er wolle wohl mit dem Holocaust Geld verdienen, wurde kolportiert. Die Gedenkstätte entließ ihn als Touristenführer, stellte ihn aber nach einigen Monaten wieder ein. Lukas macht seinen Job einfach zu gut. Er kann gelangweilten Schulklassen Geschichte lebendig nahebringen. Und Lukas spricht dank seines Germanistikstudiums ein wunderbares Schwejk-Deutsch. Er ist ein Erlebnis.

 

Ein harter Job. Große Hitze. Staub. Dreck. Tonnen von Schutt. Doch es wird immer wieder etwas gefunden.

 

Lukas Lev will nicht locker lassen. Die aktuellen Grabungen mit seinen Unterstützern finden in diesem Sommer im Block L425 statt. L425 war die alte Weinstube, heute Kamensheko 154. Auch hier stoßen die ehrenamtlichen Archäologen ständige auf neue Ghetto-Spuren. Theresienstadt ist für ihn wie ein großes Geschichtsbuch. Voller Schicksale, voller Dramatik. Zu schade, um wegzuschauen. Wer nur war Anna Hönigsberg?

 

Einer der ersten Funde. Die berühmte Prager Burg mit Karlsbrücke als Wandzeichnung. Durch Zufall auf dem Dachboden entdeckt vor mehr als fünf Jahren im Haus L237. Heute ist dort eine Pizzeria.

 

Aktualisierung (10. Juli 2019)

Mittlerweile teilte das Arolsen Archives – das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus auf Anfrage von Lukas Lev mit:

„Anna Hönigsberg, geb. 03.03.1864 in Kirchschlag, wurde am 22.07.1942 aus Wien mit dem 33. Transport, Kennung IV/5, Nummer auf dem Transport: 973, ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Letzte Adresse: 10. Alxingerg. 97. Sie wurde in Theresienstadt befreit und ist nach Wien zurückgekehrt.“

Anna Hönigsberg hat Theresienstadt überlebt.

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Blicke

Zu den Schönen, Kreativen, Wichtigen zu zählen, ist ein gutes Gefühl. Es ist aber auch anstrengend. Immer on top zu sein. Eine Einladung zu haben. Das Bändchen am Gelenk tragen zu können. Berlin brummt. Jeden Abend feiert die Szene sich selbst. Welche Szene? Es gibt im Swinging-Berlin der späten Zehner-Jahre so unendlich viele wie Tage im Jahr. Oder noch mehr. 24/7. Selbst Profis kommen ins Schwitzen. Wohin gehen? Wen muss man kennen? Was darf man auf keinen Fall verpassen? Film und Fernsehleute, Kunst, Theater, Literatur dazu die versammelte Lobbyisten-Blase aus Politik, Wirtschaft und Investment von Bitcom bis zum Bundesverband der Brauer begehen unentwegt jeden Abend ein Come-Together. Ein Event. Oder ein Sommerfest. Stehen Sie auf der Gästeliste?

Das Tipi-Zelt am Kanzleramt. Zu Gast beim Produzententreff der Film- und Fernsehbranche. Berlin dampft. Sahara-Hitze 35 Grad. Bei Hummus-Wraps und Tonic-Cocktails treffen sich A-B-C-Promis. Mittendrin: Iris Berben, Didi Hallervorden, Burkhard Klausner, Heike Makatsch. Grüppchen-Bildung. Konzentrische Kreise um Entscheider und angesagte Menschen. Schnelle Blicke. Scannen: bist du, mein Gegenüber wichtig? Lohnt es sich? Kannst du mir einen Job vermitteln?

 

 

Männer mit Sonnenbrillen in Sneakers ohne Socken. Frauen mit buntem Geschmeide und luftigen Sommerkleidchen. Nimm-mich-Blicke, ich will spielen. Coole Jungs, kleine Weinstein-Verschnitte. Aufgedrehte Ladys. Posieren für die Fotografen. Verschwörerische Kreise. Geschäftsgespräche, wer gegen wen? Überall Heckenschützen, murmelt jemand. Das Brüllen der Fotografen übertönt alles. Ringen um das beste Bild. Erschöpfte, verschwitzte Klatsch-Reporter.

Gelangweilte Gestalten. Ihr Blick: Ich weiß alles, kann alles. Ich bin der Beste – wer sagt mir das jetzt endlich? Manager, Produzenten, Geldgeber. Geldsucher. Kreative und Kommerzmenschen. Immer wieder Blicke. Kurz, intensiv, suchend. Muss ich den/die kennen? Was machst du? Abwenden, wenn das Gegenüber ein Suchender wie man selbst ist. Ein Spiegelbild. Mist. Motto: „Prüfe deinen Status. Überprüfe dein Mindset. Folge deinen Trieben.“ Karma, Kontakte, Konkurrenz, Kampf. „Nimm mich!“

 

Berlin der Zwanziger Jahre. Otto Dix. Die Stützen der Gesellschaft.

 

Wenn es nur nicht so heiß wäre. Frischen Wind fächern in der aufgestauten Hitze. Nächste Chance, nächstes Glück: Ach, woher kennen wir uns denn?

Waren so die Zwanziger? Spielen wir mittlerweile das Revival? Diese aufgeregt-plappernde Dauer-Börse der Suchenden. Der florierende Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die Stunde der Schwätzer und Sinnsucher. Positionierungsexperten und Coach-Helden, Salon-Löwen und Fitness-Gurus, Spielwütigen und Schönheiten, Freisprecherinnen und Damen-Imitatoren, Selbstdarsteller und Yoga-Krieger-Übende, Narzissten, Zyniker, Rund-um-die-Uhr-Talker. Überall Dampfplauderer. Schweigen macht verdächtig.

 

 

Nach einer knappen Stunde ziehen Fotografen und Society-Klatsch-Reporter müde und erschöpft weiter. Zur nächsten Party. Der Schönen, Kreativen, Wichtigen. See you again?

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Mehr Wibke wagen

Was diese Frau alles bewegte. Wibke Bruhns präsentierte die ZDF-Nachrichten – als erste Frau im Blümchenkleid. Damals eine Sensation in der westdeutschen Männerwelt. Fast fünfzig Jahre ist es her. Und stets die gleiche Frage: wie war´s beim ersten Mal? Saß die Frisur? Gab es einen Versprecher? Wibke: „Wir durften an dem Text nix machen zum Wohle der Grammatik. Der langweiligste Job meines Lebens.“ Aber sie wollte keine „Sprechpuppe“ sein. War sie auch nie.

Einfach nur Nachrichten verlesen war nicht ihr Ding. Wibke Bruhns mischte sich ein, machte 1972 Wahlkampf für die SPD, für Willy Brandt. Als Nachrichtensprecherin. Das war damals noch möglich und führte zielsicher zum Skandal. Ein einziger Shit-Storm ging über sie hernieder. Alle trotzten: Wibke. Das ZDF. Ihr Publikum. Wibke wurde zum Vorbild für eine ganze Generation. Doch die kalte Rache folgte auf dem Fuß. Man dichtete ihre eine Affäre mit Willy Brandt an. Es ging um ein Collier. Aber vielmehr um ihren Ruf. Sie wehrte sich. Die Legende von der Kanzler-Geliebten hielt sich bis heute. Sie sollte Recht behalten. „Auf meinem Grabstein wird irgendjemand schreiben. Sie war die erste Nachrichtenfrau und die Geliebte Willy Brandts.“

 

Wibke Bruhns. (1938-2019) Im ZDF-Nachrichtenstudio. Still sitzen für das 68er-Projekt. 2018. Foto: Heinz Kerber.

Kämpfen, eigene Wege gehen, nicht aufgeben, das war ihr wohl in die Wiege gelegt. Aufgewachsen in Halberstadt als fünftes Kind einer großbürgerlichen Unternehmer-Familie. Vater Hans-Georg Klamroth wurde 1944 von den Nazis als Verschwörer gegen Hitler in Plötzensee hingerichtet. Wibke musste lernen, dass sie selbst im Nachkriegs-Deutschland noch als Mitglied einer Verräterfamilie attackiert wurde. „Entweder du gehst daran kaputt oder du wirst stärker“, antwortete sie selbstbewusst. Motto: Lächeln, auch wenn es schwer fällt.

Ihr zentrales Lebensthema – das Schicksal ihrer Familie – verarbeitete sie 2004 in ihrem Bestseller „Meines Vaters Land“. Ein Generationenkonflikt. Was hast Du damals getan? Ungeschminkt erzählt sie die tragisch-aufwühlende Familiengeschichte. In ihrer Autobiografie „Nachrichtenzeit“ (2012) schilderte sie schnörkellos ihre Stationen als Journalistin. Ob in Hamburg oder Bonn, Jerusalem oder Washington, bei den Mächtigen oder Ohnmächtigen. Wibke Bruhns war eine genaue Beobachterin und unerschrockene Zeitzeugin. Auch wenn sie das ungerne hören mochte. „Es ist zum Kotzen wofür ich alles herhalten sollte. Ich habe doch nur meinen Job gemacht.“

 

Vergessen? Geht gar nicht. Es ist essentiell. Wenn wir das nicht mehr tun, dann können wir auch aufhören zu existieren.“ Mit Wibke Bruhns im ehemaligen KZ-Außenlager Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt. April 2018.  Foto: Heinz Kerber.

 

Klartext reden, das war Wibke Bruhns. Offen, frech, fröhlich. Manchmal auch beißend bis an die Schmerzgrenze. Wibke: „Ärger stählt. Ich habe nie Schwierigkeiten gehabt mich mit irgendjemandem rumzuzanken. Es sei denn, ich war hochmütig. Dann kriegte ich eins auf den Deckel. Das war auch in Ordnung.“

Mit dem heutigen Journalismus haderte sie: „Was heute im Programm ist, kann ich kaum noch aushalten. Fernsehen machen ist auf jeden Fall schöner als Fernsehen schauen.“ – Chapeau, Madame! Also zogen wir 2018 noch einmal gemeinsam los. Zögernd und eher widerwillig stellte sie sich einem Filmprojekt zu den Fragen über die 68er. Fünfzig Jahre danach. „Was soll ich denn da?“, fragte sie. „Ich bin keine 68erin.“ Korrekt – Wibke Bruhns. Widerspruch war ihr Leben. Dazu brauchte sie keine Jahrestage, keine inszenierten Heldengeschichten, keine Konferenzen oder Jubelfeiern. Einfach sagen, was ist. Das war ihr Leben.

 

Ihr letztes Projekt 2018. Wibke Bruhns zieht Bilanz. Was haben die 68er erreicht? – Für Eilige: Wibke Bruhns ab TC 13:18.

 

Wibke Bruhns starb im Alter von 80 Jahren in Hamburg am 20. Juni 2019.

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Tl; dr

Die Überschrift – ein Rätsel? Funde aus vergangenen Zeiten? Eine chemische Formel? Nichts verstanden? – Da kann geholfen werden. Hier grüßt der digitale Zeitgeist. Tl bedeutet too long – dr = didn´t read. Kurzum: Wenn Geschichten zu lang sind, werden sie nicht gelesen. So einfach ist das. Kein neues Phänomen, aber ein neuer Name. Wenn Texte langweilen, steigt die geneigte Leserschaft aus. Oder fängt erst gar nicht an. Die User im Netz sind höchst sensibel, nervös und ungeduldig. Die nächste News, der nächste Spot. Wisch und weg.

Das hohe Gut Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource. Was tun? – Trotzig dagegen halten? Oder mitsurfen und nach Schlagzeilen schielen? Die Klicks und Likes versprechen? Google verspricht schnelle Hilfe. In jeder Lebenslage und Frage. Aufbruch in Berlin, heißt es nun. Eine bunte, analoge Broschüre des Internet-Konzerns feiert auf Papier (!) unser täglich digitales Brot als unverzichtbares Lebensmittel. Als Heil und Heilung. Als Wahrer des Guten, als Kämpfer für eine bessere Welt.

 

Die Google-Mitarbeiter sind cool, smart, divers, feministisch, international, innovativ, weltoffen. Google-like eben. Sie tragen dezent-legere Kleidung, modische Zöpfe und ticken 24/7 im Gründer-Modus. Das Leben als Startup. Sie forschen über Künstliche Intelligenz, vernetzen sich in Coworking-Spaces und produzieren rund um die Uhr Event- und Podcasts-Reihen. Ihre Abteilungen heißen Cloud, Lokalisierung, Marketing, Google Play, Policy, Sales, Google for Startups, youtube.

 

 

In Kreuzberg unerwünscht. In Berlin-Mitte zuhause. Google in Deutschland. Auf Imagekampagne.

 

Too long? Gut möglich. Nur noch ein Gedanke. Über eine Googlerin heißt es: Sie sei Mutter und Feministin, Nachrichtenjunkie und Twitter-Pionierin. Fakten-Checkerin und Womanwill-Netzwerkerin. Ihr Motto: „Sie kann einfach nicht genug bekommen.“ Kreuzberg wollte Google nicht. Die Neue Heimat der schönen Google-Welt befindet sich nun in Berlin-Mitte, in der Tucholskystraße. Die Räume sind modern, nachhaltig und hübsch aufgemöbelt. Früher war dort die Geburtsklinik der Charité. Täglich kam neues Leben in die Welt. Und heute?

 

Too long? 2.004 Zeichen. Lesedauer: 2 Minuten

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„Top of the world“

Eine lange Schlange vor dem Jazz-Club Village Vanguard. Anstehen für das zweite Konzert. Warten auf Ben Wendel. Ein Kanadier in New York. Am Ende der Straße leuchtet das One World Center. Errichtet auf den Trümmern des World Trade Center. Manhattan kurz vor halb elf abends. Gelbe Taxen huschen vorbei, hupen, halten. Starten durch. Die Menge verharrt geduldig. Der erste Durchgang ist vorbei. Das Halb-neun-Publikum strömt die Stufen aus dem Basement nach oben, verlässt den Club, wird verschluckt vom unablässigen Strom der Menschen, Autos, Busse, Bahnen.

Unten im Bauch des Vanguard viel roter Plüsch an den Wänden. Schwarz-Weiß-Fotos von Jazz-Größen. Sparsame Beleuchtung. Es ist klein, eng, dunkel und voll. Jeder Zentimeter ist verplant. Fleißige Kellnerinnen servieren das Fläschchen Bier zum Preis von acht Dollar. Der Hausherr startet routiniert seine Ansage. Rauchen, Fotografieren, alles nicht erlaubt. Strengstes Handyverbot. Aber ansonsten „Let us entertain you“ und natürlich „Have Fun“. Das Licht wird weiter heruntergedimmt. Am Nachbartisch hat ein Pärchen auf diesen Moment gewartet. Es geht in den Nahkampf über.

 

Spot an. Ben Wendel und sein Quartett entern aus dem dunklen Nichts die winzige Bühne. Der Saxophonist gilt als neuer Stern am Jazz-Himmel. In den USA handeln ihn die Medien als Mann der Zukunft, als Shooting Star. Er sei ein Talent von großer Bandbreite. Mit Kent Nagano gab er klassische Konzerte. Mit Pop-Größen wie Prince stand er auf der Bühne. Mit seiner eigenen Band Kneebody war der 46-jährige bereits für den Jazz-Grammy nominiert.

 

Wendel im feinen Sakko erinnert an den jungen Brian Ferry von Roxy Music. Sein New Yorker Publikum begrüßt er mit dem der Stadt angemessenen Selbstbewusstsein. „Welccome in the Greatest Club of the World“. Einige wenige lachen, die meisten klatschen. Natürlich bestreitet er den Abend mit der „Greatest Band of the World“. Was sonst? Und los geht es. Wendel zelebriert einen abgeklärt-sehnsuchtsvollen Saxophonsound, immer wieder gebrochen durch überraschende Wechsel, aufgeladen mit dynamisch-pulsierenden Rhythmen. Wow! Jazz vom Feinsten. Innovativ, spannend und mit sehr viel Gefühl.

 

 

Ein hochmusikalischer Abend. Die Band spielt sich in Fahrt. Doch nach einer guten Stunde ist plötzlich Schluss. Zugabe? – Fehlanzeige. Das Licht geht an. Der Beifall verstummt sofort. Die Kassiererin eilt von Tisch zu Tisch, sammelt flink ihre Dollars ein. Das Publikum erhebt sich, kontrolliert kollektiv die aus den Taschen gezauberten Smart-Phones. Nun dimmert es überall blau. Das Pärchen von nebenan ist längst verschwunden. Professionell bittet das Personal die Besucher den Club zu verlassen. „The next show will start soon.“

Time is money. Also raus auf die Straßen von Manhattan. Hinein in den flutenden Strom von Flaneuren, Vergnügungssüchtigen, Wartenden, Ewig-Suchenden, Einzelgängern, Pärchen, chinesischen Reisegruppen und deutschen Besuchern, die versuchen sich in ihren Reim auf das Erlebte zu machen.

 

 

Apropos Europa. Ben Wendel ist im Sommer auf Tournee quer durch den alten Kontinent. Zum Beispiel am 15. und 16. Juli 2019 ab 21:00 Uhr im Jazz Dock in Prag. Ben Wendel with The Jazz Dock Orchestra. Möglicherweise gibt es dort Zugaben. Der Mann hätte es verdient.

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Was uns blüht

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Eine alte Weisheit. Immer wieder neu erlebt. Was hatten die frisch vereinten Deutschen vor dreißig Jahren für Träume, Hoffnungen, Erwartungen. Meinungsfreiheit. Blühende Landschaften. Viasfrei bis Hawaii. Die friedliche Wende hat sich in ein lautes, verzagtes Jammern, Klagen und Verdammen verwandelt.

Geh ins Offene, empfahl Hölderlin. Doch wohin? Ohne Geländer? Ohne Führung? Selbstbestimmt gar? Das verquere Ding mit der Einheit. So viel Frust war nie. Der Osten wütend, der Westen genervt. Die SPD ausgelaugt, die AfD stark. Tonnen an Büchern, Schriften und Rechtfertigungen versinken im trockenen Sand wie ein heißer Sommerregen. Der gemeinsame Grund scheint ausgelaugt und verstaubt zu sein wie der Waldboden in unserem zweiten Dürrejahr.

 

40 Jahre Militärische Sperrzone. Seit knapp 30 Jahren erholt sich die Natur. Blick aufs „Bombodrom“ – Kyritz-Ruppiner Heide zwischen Neuruppin und Wittstock. Juni 2019.

 

1989 hieß es. Wir wollen Lügen nicht mehr Wahrheiten nennen, und Wahrheiten nicht Lügen. Eine banale Forderung und doch so richtig. Die allesverschlingende Globalisierung spülte gleichwohl alte Gewissheiten einfach weg. Ungebremst gilt das Recht des Stärkeren, des Geldes, der Vermögenden. Es zählen die Argumente der Macht. Nicht die Macht der Argumente. Dabei ist diese Macht anonym und scheinbar unangreifbar geworden. Regiert wirklich die von uns gewählte politische Elite? Oder nicht die Zentralen des Plattform-Kapitalismus – Investmentfonds, Google, Facebook und wie sie alle heißen. Was bleibt? Die Empfehlung „Optimiere dich selbst“.

 

„Heimatschützer“. In abgelegenen Teilen In Brandenburgs überall plakative Wahlversprechen – auch lange nach der Wahl. Die Botschaften bleiben einfach hängen.

 

„Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“ Das erkannte rasch der viel zu früh verstorbene Schriftsteller Jurek Becker. Er kannte sich mit Wahrheiten aus. Sein wichtigstes Werk war „Jakob der Lügner“ über einen Juden, der mit kleinen Lügen die Hoffnung in der KZ-Hölle nährt. Und heute? Das Erbe der untergegangen DDR bleibt ihr Versprechen: eine faire, gerechte, gemeinschaftliche Gesellschaft anzustreben. Eine Hoffnung, die von der DDR-Führung bürokratisch und planmäßig mit Mauer und Überwachung erdrosselt wurde. Bis das Land erstickte.

 

Blühende Landschaften rund um Berlin 2019. Der Trockenheit abgetrotzt.

 

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, sagte Hermann Hesse, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Genau über diese wunderbare Zeit handelt So viel Anfang war nie, als alles möglich erschien.

 

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Mann mit Fahrrad

Ein Mann steht stumm mit seinem Fahrrad am Straßenrad. Er schweigt. Dabei hätte er viel zu sagen. Touristen ziehen vorbei, fotografieren ihn. Oder sie knipsen sich, am besten ein Selfie mit dem stummen Radfahrer. Der Mann mit Mütze und skeptischem Blick steht in Oslo. Direkt an der Karl Johans Gate, dem Kurfürstendamm der norwegischen Hauptstadt. Wartet er? Ist er verabredet? Was hat er vor? Er kann nichts sagen. Er ist aus Bronze. Ich bewundere den stillen Zeitzeugen. Ein Freund hatte mir den Tipp gegeben, ihn in Oslo zu besuchen.

 

Mann mit Fahrrad in Oslo. Touristen fotografieren gerne den Mann mit der Schiebermütze. Wer weiß schon, wer dieser Unbekannte wirklich ist?

 

Gunnar Sonsteby heißt der unbekannte Radfahrer mit der kecken Schiebermütze. „Freiheitskämpfer 1940-1945“ ist auf einem Schild vermerkt. Während ich die schlichte Skulptur betrachte und gleichfalls fotografiere, nähert sich ein älterer Osloer. „Wissen Sie, wer das ist?“ fragt er freundlich auf Englisch. „Nein. Nicht wirklich. Ein Widerstandskämpfer?“ – „Ja. Er heißt Gunnar. Ein Arbeiterjunge aus einer Industriestadt in der Provinz. Beim Einmarsch der Deutschen 1940 stand er genau hier – mit seinem Fahrrad.“

Der Mann kommt in Schwung. Er berichtet, die deutschen Truppen seien gerade siegesstolz über den Boulevard Richtung Schloss marschiert. Gunnar sei „total schockiert“ gewesen. In diesem Moment habe er sich entschlossen, in den Widerstand zu gehen. 23 Jahre sei er gewesen. Alles habe er riskiert, sein Leben, um die Freiheit Norwegens wiederzuerlangen. „A National Hero“, betont der Osloer. Jedes Schulkind kenne seine Geschichte.

 

Die Karl Johans Gate in Oslo. Morgens früh um sieben Uhr. Hier zogen im Frühjahr 1940 die siegreichen deutschen Truppen zum Schloss. Gunnar stand stumm am linken Straßenrand.

 

Plötzlich fragt er mich, wo ich herkomme. Aus Berlin, antworte ich. Pause. Er runzelt seine Stirn. Seine Augen bleiben freundlich, sagen wohl, ist ja interessant. Viele Deutsche, die er kennengelernt habe, hebt er an, fühlten sich „guilty“. Das sei Unsinn. Verantwortlich, das sei okay, aber nicht schuldig. Er sei Jahrgang 1948, habe in seinem Leben nichts anderes als Frieden, Wohlstand und Fortschritt erlebt. Keine Kriege. „Wir sind Glückskinder. Unsere Generation. Nicht wahr?“

 

Gunnar Sønsteby (1918 – 2012). Er war der hochdekorierteste Bürger Norwegens.

 

Er fragt, wie alt ich sei. Jahrgang 1958 antworte ich. „Auch ich bin ein Glückskind. Keine Kriege, keine Not, kein Mangel.“ Nur Alltagssorgen kenne unsere Generation, ergänzt meine Zufallsbekanntschaft und mustert den Mann mit dem Fahrrad, vor dem wir stehen. Der ältere Norweger lächelt mich an. „Wir gehören zusammen. In unserem Europa.“ Er gibt mir die Hand. Ich bin gerührt, schlage dankbar ein. Er geht, ich bleibe zurück. He made my day. Was kann jetzt noch passieren? – Ich grüße noch einmal den Mann mit dem Fahrrad. Mir ist, als würde er zurückwinken. Aber er bleibt stumm.

 

Nur ein paar Meter von Gunnar entfernt befindet sich Oslos führender Jazz-Club Nasjonal. Hier das Espen Eriksen Trio live im Club an der Karl Johans Gate in Oslo.