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Geschlossene Gesellschaft

Ganz im Süden von Manhattan. Richtung One World Center. Wo einst zwei Türme standen, ragt ein schlanker Superturm noch kühner in den Himmel. Zu seinen Füßen Greenwich Village. Gleich nebenan das Viertel um die High Line. Ein schickes neues Stadtviertel entlang einer stillgelegten Hochbahn. Früher der Schlachthof New Yorks – heute Szeneviertel mit Restaurants, Clubs, Cafés. Wohnen als Investment oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu den zahlungskräftigen Happy Few. Hier ist alles sündhaft teuer. Das Sandwich an der Ecke ist nicht unter zehn Dollar zu haben. Aber bitte mit Avocado! Der In-Frucht des New Yorkers.

Ein paar Ecken weiter das legendäre White Horse Tavern. Kneipe. Und Mythos. Hier feierte der Waliser Dylan Thomas seinen größten Triumph. Und sein Ende. Anfang November 1953 fand in der Nähe die szenische Premiere von Unter dem Milchwald statt. Zwanzig Jahre hatte Dylan am Text gearbeitet, geschwitzt, an jedem Wort gefeilt. Ein Stück für siebzig Stimmen. Im Mittelpunkt ein Tag im Leben einer kleinen walisischen Hafenstadt.

Dylan Thomas. (*27.10.1914- 09.11.1953). Ein Waliser in New York.

Eine Nahaufnahme von einfachen Bürgern, arm und reich, kleinen wie großen Glücksuchern. Von der Hafenhure Rosie Probert bis zum Bach-Fan Orgel-Morgan. Der Dylan-Sound geht so: „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der Kleinen Stadt. Sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See. Die Zeit vergeht. Horch, die Zeit vergeht.“

 

 

Im White Horse Tavern logierte Dylan Thomas. Drei Tage und Nächte feierte das Team die Premiere. So viele Pints, so viele Schnäpse, so viel neue Pläne. Am 9. November 1953 dem dritten Tag war Dylan Thomas tot. Der geniale Dichter und grandiose Trunkenbold. Er wurde gerade einmal 39 Jahre alt. Aufgewachsen in der tiefsten Provinz, gefeiert und gestorben in New York. Die eigentliche Premiere erlebte er nicht mehr. Ein gewisser Robert Zimmermann verehrte ihn. Damals wie heute. Er nannte sich nach seinem Vorbild – heute hat Bob Dylan den Preis, den Dylan Thomas verdient hätte: den Nobelpreis für Literatur.

Der berühmte Theaterkritiker Friedrich Luft schrieb anlässlich der „eigentlichen“ Uraufführung in Edinburgh, 1955: „Seine quellende Sprache senkt sich wie ein warmer Regen über eine Landschaft des Alltags. Und siehe, nun blühen die Kleinstadtfiguren, werden spektakulär, werden in all ihrer Spießigkeit interessant, rund, tragisch oder komisch.“

 

Das White Horse Tavern – eine New Yorker Institution. Geschlossen. Gibt es ein Comeback oder entsteht ein neues Event-Etablissement?

 

Ich wollte auf den Großen Meister im White Horse Tavern anstoßen. Doch der alte Pub ist geschlossen. Für immer? Nein, die Kneipe soll nur renoviert werden, verspricht ein kleiner Zettel am Eingang. Ein paar „Upgrades“, heißt es, man wolle das „Erbe“ einer der „besten Kneipen in der Geschichte New Yorks“ nicht verspielen. Also keine Gentrifzierung wie nebenan mit Lofts für Millionen Dollar. Eine Nachbarin winkt ab. „Ob die je wieder aufmachen? Wir werden sehen.“

Dylans Milchwald spielt im fiktiven Llarregub. Rückwärts gelesen bedeutet es Bugger all = Rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Kneipentür stand bis zur angekündigten Renovierung „Drink till late“. Was sollte man auch sonst tun? Die großartige Geschichte vom Milchwald schmuggelte sich auch in meine brandenburgischen Dorfgeschichte So viel Anfang war nie.

Es war in diesem Mai eine große Ehre das Buch vom kleinen Herzdorf im großen New York vorzustellen. Das geladene Publikum im Deutschen Generalkonsulat spitzte die Ohren. Am Ende waren alle mitgebrachten Bücher weg. Es hätten mehr sein können. Dummerweise sind Bücher schön, aber schwer. Den Abend zu feiern, muss nun verschoben werden. Ob es ein Comeback des alten White Horse Tavern gibt?

 

Kneipe dicht. Ein „Upgrade“ der legendären Dylan Thomas-Kneipe wird auf einem weißen Informationsblatt versprochen. Die Nachbarn sind skeptisch.

 

Das Theaterstück Unter dem Milchwald hingegen kommt wieder. Ende Juni 2019 steht es  auf dem Spielplan des Theatersommers Netzeband – ein echtes Kultereignis seit über zwanzig Jahren. Nur eine gute Autostunde von Berlin entfernt – in der tiefsten und schönsten Provinz, die ich kenne.

Take a walk

Reisender kommst du nach New York, heißt es: Los geht´s. Immer die Fifth Avenue lang. Geradeaus. Gen Süden. Vorbei am Central Park. Zwischen Häuserschluchten, hupenden Autos, eilenden Passanten, kichernden Touristen und misstrauischen Polizisten. In den Himmeln ragen Hochhäuser dünn wie Bleistifte. Lustwandeln wie einst Fontane? Geht nicht in dieser Stadt. Manhattan erhöht den Blutdruck. Kostenlos. Alles andere ist eine Nummer größer als anderswo und auf alle Fälle sündhaft teuer.

 

Warte nicht, bleib nicht stehen! Business wird gemacht. Wo eilen die Menschen hin? Zu Events, Meetings, Partys? Der New Yorker ist busy. Time is money. Schaufenster mit prächtig-schrillen Angeboten. Teure Accessoires, zum Beispiel ein Damentäschchen in Dackelform von Gucci. Dazu Gedanken von Susan Sontag. Mode ist, „wenn Style über Inhalt, Ästhetik über Charakter und Ironie über Tragödie siegt“. Die Modebranche zitiert eine ihrer schärfsten Kritikerinnen. Muss verkaufsfördernd sein, sonst wären ihre Gedanken nicht in Bestlage ausgestellt.

Times Square. Menschen in New York. Manche sind sehr gelassen.

Schnell weiter auf dem Laufsteg der Eitelkeiten. Keine Atempause! Vor dem Trump-Tower stehen Marsmenschen. Es sind schwer bewaffnete Cops mit Helm, Sonnenbrille und MPi. Chinesische Touristen machen Selfies mit ihnen. Alle genießen die Show. Gutgekleidete Männer und Frauen im Business-Alter hetzen vorbei. Sie reden laut und mit sich selbst, über Termine, Treffen und Investments. Stöpsel im Ohr. Junge Avantgarde auf der Überholspur der Fifth Avenue. Vor den Eingängen Männer im Anzug. Hände wie zum Gebet gefaltet. Wacher Blick. Doormen oder andere Security-Gestalten. Sie kommen aus aller Welt. Viele mit hartem, osteuropäischen Akzent. Aus Montenegro, Mazedonien oder auch aus Algerien. Sie sind die Türsteher der Reichen.

 

Vor dem MoMa Menschenmassen. Kunst zieht. In den heiligen Hallen schiebende Menschentrauben – vor Vincent Van Gogh oder Gustav Klimt in der fünften Etage. Die Smartphones laufen heiß. Kampf um den besten Platz. Es klickt in einem fort. Schnell weiter. Nur nichts verpassen. Vor Kaufhäusern oder Edel-Boutiquen campieren Bettler. Manche zeigen offene Wunden an Beinen und Armen. Einer schneidet sich die Fußnägel. Sie gehören zur Straße wie Ampeln, Sirenengeheul oder schreiende Straßenverkäufer. Es beginnt zu nieseln. Eine Frau ruft „Umbrellas“. Regenschirme haben jetzt Konjunktur. 50 Dollar das Stück.

St. Patricks Kathedrale. Mittagsmesse mit Touristen und Zwischenrufen.

Rasch über die Straße! Auf den Stufen der St. Patricks-Kathedrale sitzt ein deutscher Schauspieler. Er spielt mit seinem Handy. Als wir ihn grüßen, lächelt Lars Eidinger freundlich zurück. Er ist doch nicht allein – der German-Man in New York. In der katholischen Kirche ist Mittagsmesse. Der Pastor betet, ein schwarzer Obdachloser kommentiert lautstark Predigt, Psalme und Segen. Niemand stört´s. Unsere blonde Sitz-Nachbarin zur Rechten verbirgt ihr Gesicht. Ist sie allein? Verzweifelt? Bittet sie um Hilfe? – Wer weiß es? Die Dame, Mitte vierzig, will offenbar nicht gestört werden. Take care.

Vor dem Rockefeller-Center.

Raus aus der Touristen-Kirche, rein ins Leben. Juweliere preisen edle Ringe oder anderes Geschmeide an. Diskret ohne Preise. Am Rockefeller-Center schieben sich die Massen wie Lemminge in die Geschäfte. Ein großes Messingschild erinnert an den amerikanischen Traum The pursuit uf happiness – das Streben nach Glück. Eine Ecke weiter im Medienviertel buhlen Laufbänder um Aufmerksamkeit. Fox News, Trumps Haussender, meldet: „Große Bedrohung. Artenvielfalt geht verloren. Mittlerweile leben weltweit mehr Tiger in Zoos als in der Wildnis. 12.500 Tiger in Zoos. 4.000 in Freiheit. Eine Herausforderung für Eltern, Gesellschaft und die Welt.“ Niemand schaut hin. Mitten im Business-Viertel ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Oder seinem Smartphone. Tiger sind weit weg. Dezent tätowierte zweibeinige Fabelwesen in High Heels trippeln vorbei. Ein Wachmann gähnt. Eine aufgeregte asiatische Reisegruppe schnattert hinter ihrem Reiseleiter her. Sie zücken ihre Phones wie Revolver. Jederzeit schussbereit.

Einstein rettet uns. In der Public Library.

Unser Kopf brummt. Wo ist ein Ort zum Ausruhen und Verweilen? Sorry. Das heißt hier Chillen und Relaxen. Aber wo? An der 42. Straße eine Art antiker Tempel. Selbst dieser Koloss wirkt verloren zwischen den Hochhäusern. Aber der freundliche Riese lädt ein und beruhigt. Die Public Library – „das Wohnzimmer der New Yorker“. Die Bibliothek ist kostenlos – und für jedermann frei zugänglich.  Eine Kathedrale des Wissens. Sozusagen ein begehbares Internet. Ein Gruß aus dem vergangenen Jahrhundert. Durchatmen! In der Lobby am Museumsshop grüßt ein älterer Herr mit wildem Haar. Einstein in New York. Das Genie im Angebot. Die kleinen Figuren winken fröhlich. Dazu die Botschaft: „Die wichtigste Sache im Leben ist, nie aufzuhören zu fragen.“

Aber, ach, weiter geht´s – immer die Fünfte entlang. Richtung Süden. Bis zur Spitze.

Neues Deutschland

Harte Arbeit, schlecht bezahlt.  Viele Termine, keine Zeit. Ständig auf dem Sprung, völlig ausgebrannt. Wer mithalten will, muss alles geben, sich ständig optimieren. Durchhalten bis zum Umfallen. Deutschland hat sich verändert. Kaum zu glauben: Nur wenige Flecken dieser Erde sind gleichermaßen so wohlhabend wie gereizt, so strebsam wie genervt. Unter Druck heißt das neue Buch von Jana Simon, Autorin bei der Zeit. Die Journalistin hat genau hingeschaut und noch genauer zugehört. Eine Tugend, die selten geworden ist. In einer Zeit, in der jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.

Sechs Menschen dieses Landes hat Simon porträtiert. Eine Ingenieursfamilie kurz vor dem Burn-Out. Eine coole aber gestresste Influencerin, die täglich neue Selfies-Botschaften aussendet. Ein Investmentbanker, der Terminen und Erfolgen hinterherrennt. Eine Krankenschwester, die trotz harter Arbeit und Überstunden in München obdachlos zu werden droht. Ein Polizist, der zwischen alle Fronten gerät und sich alleine gelassen fühlt. Ein hochgebildeter Biedermann, der als Brandstifter unterwegs ist. Dieser neue Erfolgstyp ist der einzige Prominente: Alexander Gauland, der joviale Vordenker der Aufsteiger-Partei AfD. Ein Krisengewinnler. Ein selbsterklärter Abendland-Retter. Einer, der nicht nur unter Druck steht, sondern auch kräftig Druck macht.

Jana Simon. Foto Mike Minehan.

So unterschiedlich Lebenswege und Erfahrungen sind. Eines eint diese sechs Deutschen. Angst vor der Zukunft. Vor Verlust, Abstieg, Armut, Alter, Krankheit, den Krisen und Kriegen der Welt. Diese aufsteigende Nervosität zieht sich wie ein roter Faden durch die Episoden. Die Porträts beginnen 2013, mit Euro-Krise und Bürger-Krieg in Syrien. Es folgt der Flüchtlingssommer 2015. Alles ändert sich. Das Klima wird rau. Lautstarke Wutbürger, ratlose Eliten. Demokratieverdruss, Fremdenhass und Sehnsucht nach einer starken Hand. „Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich“, beobachtet Jana Simon.

Alle sechs Porträtierten kämpfen mit den Folgen der Globalisierung.  Der Boom schafft eine Menge Gewinner und noch mehr Verlierer. Mieter werden vertrieben, verlieren ihre Heimat. Menschen leben in einer neuen Welt, in der sie sich nicht mehr zurecht finden. Wohlstand für alle?“ Das war einmal das Erfolgsrezept der alten Bundesrepublik. Und: „Leistung lohnt sich.“ Die Frau eines Bosch-Ingenieurs aus dem Stuttgarter Speckgürtel winkt ab: „Wohlstand ist, wenn du Sicherheit hast, ein Haus besitzt, aus dem dich keiner rauswerfen kann.“ Die Familie zahlt ihr teures Reihenhaus ab – bis zur Rente. „Wenn du in dem Moment, wo du krank wirst, alles verlierst, ist das kein Wohlstand.“

Ihre Kinder haben den Familien-Alltag in einer Zeichnung festgehalten. Ganz vorne in der Lokomotive sitzt der Zugführer. Er transportiert viel Geld. – Ist das der Konzern, bei dem der Vater arbeitet? – Dahinter einige Wagen, in denen Menschen mit Sektgläsern Party feiern. Hinter dem Zug rennen Menschen her, die versuchen, aufzuspringen. „Geld, Haus, Wohnung, Ferien, Auto, Rente“, ist in Denkblasen notiert. Darüber ist dreimal geschrieben: „Angst!“ mit Ausrufezeichen. Die hartarbeitenden, gutverdienenden Eltern wollten übrigens ihren richtigen Namen auf keinen Fall in diesem Buch lesen. Wie heißt es so schön beim schwäbischen Vorzeigebetrieb? „Schaffst du bei Bosch, halt dei Gosch!“

Ein wichtiges, einfühlsames und sehr aufschlussreiches Buch. Empfehlenswert. Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert hat. S. Fischer. 2019.

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„Reich aber sexy?“

„Und am Ende der Straße steht ein Haus am See, Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg“, singt Peter Fox von Seeed. Der Traum vom idealen Heim, von Natur und Freiheit, Gemeinschaft und Geborgenheit. Der Häusle-am-See-Song ist genau elf Jahre alt. Genau solange ist ein Mann am Ruder, dessen Wirken in Berlin Aufregung, Staunen wie Unbehagen auslöst: Michael Zahn, Jahrgang 1963, Diplom-Volkswirt aus Freiburg. Der Super-Mann des Konzerns Deutsche Wohnen.

In Zeiten, in denen selbst ein Wohnwagenplatz 600 Euro kostet, soll sein Unternehmen nun volkseigen werden. Mietdämpfung durch Enteignung. Das sieht ein Bürgerbegehren vor. Im Visier ein Immobilienkonzern, der zwei riesige Wohnbaugenossenschaften übernommen hat: erst die Gehag, 2013 die GSW. Mittlerweile verwaltet die einstige Deutsche Bank-Tochter Deutsche Wohnen in Berlin rund 115.600 Wohnungen, alles ehemaliger Senatsbesitz. Die Folge: Preise steigen, Temperaturen fallen. Volkswirt Zahn: „Wir wussten gar nicht, dass die Heizung ausgefallen ist.“ Mieter frieren, weil Reparaturen und Service an Drittfirmen ausgelagert wurden.

Wer ist Michael Zahn? Auf der Website heißt es: „Der Chief Executive Officer verantwortet die strategische Ausrichtung der Deutsche Wohnen-Gruppe. Er steuert die Bereiche Strategy, Asset Management, M&A/Disposals, Corporate Communication, Procurement & Strategic Participations, Human Resources, Marketing und IT.” Alles klar? Über den Mann aus Baden ist nur wenig bekannt. Er liebt und sammelt Kunst, fördert Handball und bevorzugt schnelle Autos. Schwarze Maseratis zum Beispiel. Öffentliche Auftritte behagen ihm weniger. Diskretion ist sein Geschäftsmodell.

Seit der Enteignungsdebatte („Kommt jetzt die DDR zurück?“) steht der Wohnungs-Chef unter Druck. Er reagiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits betont er: „Wir haben teilweise zu wenig mit den Mietern und mit der Öffentlichkeit gesprochen und zu wenig über die positiven Aspekte unserer Arbeit berichtet.“ Andererseits gibt er sich kämpferisch: „Wir lassen uns nicht enteignen und wir werden nicht enteignet.“ Die Emotionen kochen hoch. Berlin brummt, zittert, wettert, stöhnt und streitet. Die Nation schaut zu.

Berlin-Mitte. Dorotheen- Ecke Schadowstraße. Überall wird abgerissen, neu gebaut. Eine Stadt im Boom. Jeder Quadratmeter ist umkämpft.

Der Berlin-Boom hat Michael Zahn nach oben katapultiert. Der Vorstandsvorsitzende konnte innerhalb von wenigen Jahren sein Gehalt nahezu verdoppeln. Derzeit liegt seine Vergütung bei geschätzten 4.4 Millionen Euro im Jahr. Damit verdient der Herr der Deutsche Wohnen mehr als zehnmal so viel wie die Bundeskanzlerin. Sie kommt unterm Strich auf rund 300.000 Euro brutto pro Jahr. Deutschland hat sich verändert.

Dieser Wandel geschieht ganz legal. Folge der Liberalisierung auf dem Wohnungsmarkt. Der eine zahlt (immer mehr) Miete, der andere wird reich. Zahn ist seinen Aktionären und nicht den Mietern verpflichtet. Er kümmert sich um Börsenkurse, nicht um das Gemeinwohl. Das ist Angela Merkels Aufgabe. Verrückte Welt? Viele Menschen verbringen derzeit schlaflose Nächte. Sie wissen nicht, ob sie bleiben können. Oder wenn ja, wie sie die nächste „energetische Modernisierung“ sprich: Erhöhung bezahlen sollen.

https://youtu.be/kJen73982SE
Ich suche neues Land
Mit unbekannten Straßen,
Fremde Gesichtern und keiner kennt meinen Namen!
Alles gewinnen beim Spiel mit gezinkten Karten.
Alles verlieren, Gott hat einen harten linken Haken.
Ich grabe Schätze aus im Schnee und Sand.
Und Frauen rauben mir jeden Verstand!
Doch irgendwann werd ich vom Glück verfolgt, hmm
Und komm zurück mit beiden Taschen voll Gold.
Ich lad‘ die alten Vögel und Verwandten ein, ou
Und alle fangen vor Freude an zu weinen.
Wir grillen, die Mamas kochen und wir saufen Schnaps.
Und feiern eine Woche jede Nacht.

Peter Fox. 2008

Für alle anderen geht es munter und fröhlich weiter: Auf zur nächsten Party. Berlin ist nun reich und sexy für alle, die es sich leisten können. Die Hauptstadt hat sich verändert. Schon vor zehn Jahren zelebrierte Peter Fox seinen Traum, ein Haus am See: „Ich hab 20 Kinder meine Frau ist schön, alle kommen vorbei, ich brauch nicht mehr rauszugehen.“

Trockenbewohner

Eine schöne Bleibe. In Berlin. Am besten mit Terrasse über den Dächern. Mit Blick auf Fernsehturm, Park und Spree. In der begrünten Straße Kneipe, Club und Späti. Dazu nette Nachbarn. Hausfeste. Immer ein Parkplatz vor der Tür. Wenn´s sein soll, Nightlife bis der Arzt kommt. Warum nicht? Alles eine Frage des Etats. Wer zahlt, kann alles haben. Wer nicht mithalten kann, hat eben Pech gehabt. Alles neu? Von wegen.

Der Mann – ein Dichter, knapp bei Kasse – ist Anfang fünfzig, im besten Alter. Frau, vier Kinder. Die Familie ist „Trockenbewohner“ einer feuchten Parterrewohnung am Landwehrkanal. Der Eigentümer, ein Holzhändler, erhöht kräftig die Miete. Der arme Poet bittet um Gnade. Die Familie in der Tempelhofer 51, parterre, jedoch muss raus. Wir schreiben das Jahr 1871. Berlin ist im Gründerrausch. Der gekündigte Parterrebewohner heißt Theodor Fontane. Nun beginnen seine Wanderungen auf dem Wohnungsmarkt.

Fontane war stets auf Wanderschaft. Auch in eigener Sache. Zweimal wurde ihm in Berlin gekündigt. Wohnen in vertrauter Umgebung ist auch heute „kein Naturrecht“, sagt ein Sprecher der Immobilienverbände.

Im März 1872 müssen die Fontanes auch ihre nächste Berliner Bleibe in der heutigen Stresemannstraße verlassen. Wieder zu teuer. Familie Fontane macht Bekanntschaft mit Mietsteigerungen, Verdrängung und Immobilienspekulanten. Fontane schreibt an seine Freundin Mathilde von Rohr: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon schrieb, dass unser Haus verkauft ist, dass die Mieten mindestens verdoppelt werden, und dass wir alle ziehen.“

Am 3. Oktober 1872 ziehen die Fontanes in die Potsdamerstraße 134 c. Drei Treppen links. Hier begrüßen sie Kakerlaken. Es stinkt erbärmlich. Sohn Friedrich beschreibt die neue Bleibe als furchtbar heruntergekommen. Egal. Die Familie wohnt nun im Vorderhaus. Doch die Vormieterin, eine ältere alleinstehende Frau muss weichen. Sie zischt dem Nachmieter Fontane hinterher: „Na, Freude soll er hier nicht erleben.“ Fontanes sind von nun an „Drei-Treppen-hoch-Leute“. Fontane ist zufrieden. „Drei Treppen hoch wohnt sich´s gut“. Der soziale Aufstieg. Hier bleibt er bis zu seinem Tode 1898.

Und heute? Ein gutes Jahrhundert danach? Wieder boomt Berlin. Wieder müssen weniger Betuchte ihre Wohnungen räumen, ob parterre oder „Drei-Treppen-Hoch.“ Es explodieren die Preise. Die Welt teilt sich wieder in Gewinner und Verlierer. Das Überraschende: Jetzt jammern alle. – Alle? – Ja. Sogar Immobilienmakler. Einer klagt: „Unser Streben war, Mietwohnungen auch an sozial Benachteiligte zu vermitteln, über unsere Bank-Partner Finanzierungsmöglichkeiten zum Kauf des ersten Eigenheims ohne viel Eigenkapital zu beschaffen und bezahlbare Gewerberäume für Start-Ups zu finden.“

„Gemeinschaft schafft bei gleichem Ziel – aus wenig viel“. Inschrift an einem Genossenschaftshaus in Berlin-Wilmersdorf aus den zwanziger Jahren.

Makler Holtz hat die Schuldigen ausgemacht: „ Das politische Establishment dankt’s uns und unserer Zunft nun mit einem ganzen Korb voller sinnloser und schädlicher Regularien, die nichts bringen: Einer Mietpreisbremse, die nicht wirkt, einem sogenannten „Bestellerprinzip“, das Miethöhen und Kaufpreise für Eigentumswohnungen aufheizt, anstatt sie zu beruhigen, Milieuschutzverordnungen, Baurechtsverschärfungen, und Enteignungs-Phantasien.“

Quelle: OL.

Bange Frage: Wann gehen Zehntausende Makler, Investoren und Hausbesitzer auf die Straße? Berlin im Jahre 2019. Trockenbewohner Fontane hätte sich amüsiert. „Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist, kommt keine Klugheit auf“, sagte der Meister und schleppte sich drei Treppen hoch, zu einem Teller Griessuppe, seinen Tagebüchern und den Kakerlaken, die umsonst mitwohnten.

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Make Bach great again

Leipzig im Frühjahr. Die Helden-Stadt von 1989. Die Messe-Metropole blüht auf. Wärmende Sonne. Zuversicht. Zuzug. Tüftler, Studenten, junge Familien wagen ihr Glück. In den Straßen innerhalb des Rings herrscht geschäftiges Treiben. Doch die Stadt ändert gerade ihr Gesicht. Wieder einmal. So wie vor dreißig Jahren – nach der Wende. Die Globalisierung drückt ihren Stempel auf. Schleichend, aber unübersehbar.

An der belebtesten Fußgängerzone, der Grimmaischen Straße, befand sich einst ein großer Buchladen. Heute? – Sitz von Vodafone. Smartphones statt Schiller und Ferdinand von Schirach. Ein paar Schritte weiter das Kino Capitol, einst zentraler Ort des Dokfilmfestivals. Heute? – Zalando Outlet. Eine ältere Leipzigerin schüttelt den Kopf. „Das Kino haben sie plattgemacht. Eine Schande.“ Einen weiteren Steinwurf entfernt der Thomaskirchhof. Der sympathische, gut sortierte Buchladen. Heute? – Coffee Shop Bigoti. Die Schaufenster sind verhängt. Ein Schild erklärt – Coming soon. Ein Plakat verspricht: „Coffee keeps me going until it´s time for wine.“ Ach so.

„Coffee“ statt Bücher. Leipzig. Thomaskirchhof im Frühjahr 2019.

Ich drehe mich um. Wenigstens er ist noch da. Johann Sebastian Bach. Er steht weiter auf festem Fundament. Zu seinen Füßen Geburtstagsblumen. Ich bin erleichtert. Zu feiern ist Ende März sein 334. Geburtstag. Der Leipziger Thomas-Kantor mit seinen rund tausend Kompositionen hat noch Freunde, bleibt wohl ewig jung. Selbst Globalisierungsgewinner Google begeht diesen Tag. Bach First. Was schenkt der Suchmaschinenkonzern? – Ein Google Doodle Bach.

Bach im Internetzeitalter. Google hat ein aufwendiges Kompositionsprogramm entwickelt. Ein selbstlernendes System für den eigenen Hausgebrauch. Komponieren wie Bach – Do it yourself! Google-Programmierer haben den Algorithmus von 360 Bach-Original-Chorälen eingelesen. So kann jede(r) Bachfreund mit Hilfe künstlicher Intelligenz einen vierstimmigen Satz komponieren. Beliebig veränderbar. Auf Midi-Dateien speicherbar. Maschinen machen Musik.



Die Google-Generation aus Silicon Valley bezeichnet Bach als den größten Meister der Kompositionstechnik. Original-Ton Bach: „Alles, was man tun muss, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.“ Nun perfektionieren und globalisieren die Netzgurus aus dem 21. Jahrhundert den Mann aus dem 18. Jahrhundert – per Klick. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. „Schönheit, Wahrheit, Hoffnung“ aus dem Rechner. Wer braucht da noch Buchläden, Kinos, Kirchen?

Happy Birthday – Johann Sebastian Bach 2019.

https://youtu.be/Oz1lYc3NfoM
Swinging Bach. Ein Live-Konzert mit echten Musikern von Bobby McFerrin bis Jacques Loussier in Leipzig. Toller Mitschnitt aus dem Jahre 2000.
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Kafka Ahoj!

Kafka, Kundera, Vaclav Havel. Ach, und der berühmte Schwejk vom Schelmendichter Hasek! Das sind die Helden der tschechischen Literatur. War´s das? Keineswegs, versprechen die Macher von Gastland Tschechien. Sie rufen laut und fröhlich Ahoj! Dreißig Jahre nach der Samtenen Revolution von 1989 präsentiert sich unser Nachbar auf der Buchmesse in Leipzig. 55 Autorinnen und Autoren mit insgesamt siebzig Neuerscheinungen sagen, was zu sagen ist.

Die Tschechen bringen ihr ausgeprägtes Talent für Geschichten mit – dieser ganz spezielle Mix aus Tragödie und Komödie. Immer dazwischen. Meist auf der falschen Seite. Besetzt von Nationalsozialisten wie Kommunisten. Das Schicksal eines kleinen Landes im Konzert der Großen. So haben sich die Tschechen nach der Wende von der Slowakei getrennt und sind um die Hälfte geschrumpft. Statt eines  Dichter-Präsidenten mit kurzen Hosen steht mit Andrej Babis ein Altkader und Oligarchen-Premier mit dickem Portemonnaie an der Spitze des Zehn-Millionen-Volkes.

Tschechien profitiert heute wie kein anderes Land von der EU und lehnt Brüssel entschieden ab. Während die Prager Intellektuellen für Europa eintreten, werden sie von den Populisten als “Bessermenschen“ verlacht. Die Mehrheit wählt stramm national. Flüchtlinge sind unerwünscht. So viel Tragödie, Komödie und eine kräftige Prise Schwejk. Das hat die Literatur zu bieten. Gastland Tschechien. Hier einige Empfehlungen.

 

Eine junge Frau sucht ihren Platz in der Welt. Sie ist schüchtern und lebt zurückgezogen, hat die Nase von den Aufschneidern voll. Konsequent zieht sich in einen Kleiderschrank in ihrer Hinterhofwohnung zurück. Und fordert ihre Mitmenschen heraus. Ein starkes Roman-Debüt.

Jarolsav Rudis. Winterbergs letzte Reise.

Der Star und Entertainer der Nachwende-Szene lässt seine beiden Helden – einen Veteranen und seinen Pfleger – von Berlin aus zum Schlachtfeld Königgrätz von 1866 ziehen. Am Ende landen sie in Sarajewo. Eine wilde Tour voller Historie, Witz und packender Reportage. Nominiert für den Buchpreis 2019.

Jaroslaw Rudis vor dem Café Liberál in Prag. Sein Lieblingsort.

Radka Denemarková. Ein Beitrag zur Geschichte der Freude.

Ein Ermittler muss einen Mord an einem Prager Geschäftsmann aufklären. Er verliebt sich in die schöne Witwe. Der Plot nimmt eine jähe Wendung, denn der Ermittler stößt auf drei ältere Damen, die weltweit gewalttätige Männer jagen. Das weibliche Simon Wiesenthal- Trio kennt kein Pardon. Schwalben spielen eine wichtige Rolle in diesem Roman der bekanntesten Gegenwartsautorin des Landes, der Schwalbe von Prag.

Vrastilav Manak. Heute scheint es, als wäre nichts geschehen.

Eine langweilige Familienfeier. Plötzlich werden Erinnerungen wachgeküsst, die Jahrzehnte zurückliegen. Geheimnisse tauchen auf. Der Aufstand der Skoda-Arbeiter in Pilsen vom Juni 1953. Opa erzählt, wovon keiner etwas wusste oder jemals wissen wollte. Vielversprechender Roman eines dreißigjährigen Talents.

Martin Becker. Warten auf Kafka.

Der Angestellte Franz Kafka begeistert die Massen. Auch wenn ihn die Wenigsten lesen. Kafka ist Touristenmagnet und der tschechische Megastar. Berühmter als Karel Gott, Vaclav Havel oder die tschechische Torwartlegende Petr Cech. Was würde es für Boulevard-Blätter bedeuten, wenn herauskäme, dass Kafka verheiratet wäre? Martin Becker weiß es.

Petr Hruska. Irgendwohin nach Hause.

Hruskas Heimat ist Ostrava. Eine Malocher-Region. Hart, hässlich, schmutzig grau. Dort wird nicht viel geredet. Eigentlich ein echtes Manko für begabte Lyriker. Dichter Petr Hruska beweist das Gegenteil. Packende Poesie aus einer Bergarbeiterstadt.

Mehr eigenwillige, aufregende und absurde Geschichten aus dem Lande Schwejks auf der Leipziger Buchmesse vom 20. bis 24. März 2019.

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Macht. Das Gedicht. Aus. – An.

So viel Aufregung war selten. Avenidas. Ein Gedicht. Acht Zeilen. Geschrieben auf einer Wand. Knallharte Konflikte um einen alten Dichter. Eugen Gomringer (94), der „Altmeister der konkreten Poesie“.  Getilgt im Namen von Aufklärung, Sittlichkeit und Reinheit der Lehre. Der Preis für derartige politische Korrektur: 31.575,59 Euro. So viel kostete die Übermalung. Nun ist das Acht-Zeilen-Gedicht wieder aufgetaucht. Ein Comeback, ein paar Straßen weiter. Avenidas ziert nun ein Genossenschaftshaus im Berliner Bezirk Hellersdorf.

Berlin-Hellersdorf. „avenidas“ ist zurück an der Fassade eines Plattenbaus. Quelle: Wohnungsgenossenschaft Grüne-Mitte Hellersdorf.

So viel Wirkung war selten. Der bizarre Berliner Bilderstreit lässt eine weitere Blüte der Poesie reifen. Seit einigen Tagen heißt es wieder:

„Alleen/Alleen und Blumen/ Blumen/Blumen und Frauen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer.“

Das neue, politisch genehme Gedicht, ausgelobt von den Gremien des Allgemeinen Studier_Innenausschusses (ASTA) der Alice-Salomon-Hochschule – Name hoffentlich korrekt zitiert, oder heißt es Studierendenausschuss (?) – stammt von der Lyrikerin Barbara Köhler. Es lautet.

„SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN/IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK.“

Gomringers avenidas war zu anstößig. Es stelle eine „patriarchale Kunsttradition“ dar, in der Frauen nur schöne Musen seien wodurch sexistische Tendenzen vermittelt würden, hieß es. Nach aufgeheizter und nervöser Gender-Debatte musste das Gedicht weichen. Die Hochschule war obenauf. Doch jener Bildersturm hatte zumindest auch eine positive Seite. Monatelang wurde leidenschaftlich über Lyrik gestritten, über acht Zeilen eines Gedichtes. Mehr kann Kunst nicht erreichen.

Der Deutsch-Schweizer Dichter Eugen Gomringer pflanzte acht Kinder in die Welt. Sieben Söhne und eine Tochter. Nora nahm den Staffel ihres Vaters und seiner „Konkreten Poesie“ fantasievoll auf. Sie erfreut eine wachsende Fangemeinde mit wortmächtig-witzigen, tiefgründig-treffenden Versen, Texten und Stücken. Die 39-jährige Nora Gomringer stritt vergeblich gegen die selbsternannten avenidas-Sprachreiniger von der Berliner Hochschule.

Sprache ist Macht. Verwaltung ist Herrschaft. Dogma ist Unfreiheit. „Macht. Das Gedicht aus“, heißt es auf ihrer Website. Die in Bamberg lebende Bachmann-Preisträgerin Gomringer konzentriert sich auf „Texte in natürlicher Umgebung“. Sie denkt nach über das „Verhandeln des Poetischen im Öffentlichen“. Eine Suchende. Eine, die Grenzen überschreitet. Ein Freigeist.  Sie dichtet: Ohne Körper keine Stimme

„Ich mache das nicht zum Vergnügen
Das Auflösen in Sprache

Wie eine Tablette

Und vor ihr der Schmerz“

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Prager Fenstersturz

Wirkliche Veränderungen, so heißt es bei Bismarck, sind aus Blut und Eisen geschmiedet. Anpacken, zur Tat schreiten, vollendete Tatsachen schaffen. Die Prager haben damit Erfahrung. Dreimal in ihrer Geschichte haben sie den Fenstersturz als Methode des Herrschaftswechsels praktiziert. Zuerst stürzten aufständische Hussiten 1419 die Obrigkeit aus dem Rathaus. 1618 warfen wütende Protestanten katholische Statthalter aus dem Fenster der Burg. Die Herren überlebten. Aber nicht Außenminister Masaryk 1948. Er lag zerschmettert im Hof des Czernin-Palastes.

Der 1618er-Fenstersturz löste einen verheerenden dreißigjährigen Glaubenskrieg in Europa aus. Der 1948er sicherte den Kommunisten eine vierzigjährige Herrschaft in der neuen CSSR. Der Eiserne Vorhang teilte fortan Europa. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In der Mitte das eingemauerte Berlin. Fensterstürze können geschichtsmächtige Prozesse entwickeln. Unumkehrbar. Mit weitreichenden Folgen.

Dieser Herkules mit Keule empfängt den Besucher im Prager Czernin-Palast.

Was am 10. März 1948 im prächtigen Prager Czernin-Palast genau geschah, bleibt bis heute ungeklärt. Sicher ist nur: Der liberale, aus dem englischen Exil zurückgekehrte Außenminister war tot. Er stürzte im Palast fünfzehn Meter in die Tiefe, das Fenster in seinem Badezimmer stand offen. Jan Masaryk, Sohn des tschechoslowakischen Staatsgründers, war äußerst beliebt und der letzte verbliebene bürgerliche Politiker im neuen Kabinett. Die Kommunisten hatten die Macht übernommen.

British Pathé News 1948. „Europe divides“.

Gestürzt oder gestürzt worden? Die amtlichen Untersuchungen 1948/49 sprachen von einem Selbstmord. Zweifel blieben. Die offizielle Version, er habe an Depressionen gelitten, haben viele nicht geglaubt. 1968 im „Prager Frühling“ nahmen Behörden ihre Ermittlungen wieder auf. Sie wurden mit dem Einmarsch der Sowjets jäh gestoppt. Nach der „samtenen Revolution“ 1989 mühte sich eine Kommission über ein Jahrzehnt lang um Aufklärung. Das Ergebnis 2004 lautete auf Mord. Aber es sei nicht mehr eindeutig und zweifelsfrei beweisbar.

Das Fenster in der dritten Etage, aus dem Jan Masaryk 1948 stürzte. Im Halbschatten Romanautor Marek Toman.

So bleibt das Geheimnis um den letzten Fenstersturz bestehen. Der Czernin-Palast hat in seinen Gemäuern viele Wechsel erlebt. Barocke Pracht. Habsburger Pomp. Niedergang des K.u.K.-Reichs. 1918 Neugeburt und Ende der Tschechischen Republik 1938. Amtssitz des Hitler-Statthalters Reinhard Heidrich. Fenstersturz 1948. Heute residiert im Barock-Palast das Außenministerium der tschechische Republik, die sich 1992 mit der Trennung von der Slowakei halbiert hatte.

Czernin-Palast. Seit dem 17. Jahrhundert Ort von Macht- und Ränkespielen. Heute Sitz des tschechischen Außenministeriums.

„Lob des Opportunismus“. Der tschechische Autor Marek Toman hat einen Roman über die Geschichte des Czernin-Palastes geschrieben. Mit Helden und Halunken, Festen, Feiern, Machtspielen und Intrigen. Das beeindruckende Palais hoch über der Moldau hat die Toiletten mit dem schönsten Ausblick in ganz Mitteleuropa, sagt Toman. Er weiß, wovon er spricht. Der hochgewachsene Mann arbeitet im tschechischen Außenministerium. Nur sollte man sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.

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Villa mit Wartezeiten

„Das nächste halbe Jahr sind wir komplett ausgebucht“, betont die junge Dame stolz. Sie führt uns durch ein Meisterwerk der Moderne. Die Villa Tugendhat in Brünn. Architekt: Mies van der Rohe. Bauhaus at its best. Die deutsche Journalistengruppe nickt zustimmend. Was für eine Villa! Leicht, luftig, elegant. Motto „Weniger ist mehr“. Flachdach. Fließende Räume, viel Beton und Glas. Die erste tragende Stahlkonstruktion in einem Privathaus. Seltene Materialien: Onyx aus Marokko, italienischer Travertin, Holzfurniere aus Südostasien. Einzigartig: eine Warmluftheizung. Elektrische Jalousien. Alles erbaut  in vierzehn Monaten.

1930 zogen Fritz und Grete Tugendhat mit ihren fünf Kindern in die neue Villa ein. Das Haus am Hang mit Blick auf die Altstadt von Brünn zählte zum Modernsten, was es in Europa gab. Die Tugendhats machten ihr Geld mit Stoffen, Tuch und Seide. Brünn war das „mährische Manchester“. Doch ihr Glück in der luftigen Villa währte gerade einmal acht Jahre. 1938 mussten sie Hals über Kopf flüchten, als Hitler nach dem Münchner Abkommen Mähren annektierte. Schlechte Zeiten für jüdische Familien.

Die Tugendhats setzten sich über die Schweiz nach Venezuela ab. Die Nazis nutzten das „jüdische Haus mit Flachdach“ als ein Konstruktionsbüro für die Rüstungsproduktion. Auftrag: „Bomben für den Endsieg“. 1945 marschierte die Rote Armee in Brünn ein. Die Soldaten brieten im Wohnzimmer am offenen Feuer Ochsen und verwandelten die Villa in einen Pferdestall. Jetzt wurden die Deutschen aus der Stadt vertrieben. Den berüchtigten „Brünner Todesmarsch überlebten im Mai 45 Tausende nicht.

Mies van der Rohe. Villa Tugendhat.

Nach Kriegsende zogen Kinder und Kranke in die Luxus-Villa am Berg ein. Das Haus wurde zuerst als Ballettschule, in den fünfziger Jahren als medizinische Einrichtung für Heilgymnastik genutzt. Im großzügigen Wohnzimmer wurde nun geturnt. Ab den achtziger Jahren stand die Tugendhat-Villa leer. Die kommunistische Regierung entschied schließlich auf Drängen tschechischer Architekten das Haus einer Kapitalistenfamilie zu sanieren. Die Villa diente nun als Gästehaus der Regierung.

Noch einmal schrieb Anfang der neunziger Jahre die Villa Geschichte. Der Tscheche Vaclav Klaus und der Slowake Vladimir Meciar beschlossen 1992 die Trennung ihres Landes. Nach zwei Stunden im Wohnzimmer war alles vorbei. Die Tschechoslowakei hörte auf zu existieren. Immerhin eine friedliche Scheidung und  kein blutiger Exzess wie in Jugoslawien. Der Wunsch der Witwe Grete Tugendhat nach „Öffnung des Hauses für alle“ konnte erst im 21. Jahrhundert erfüllt werden.

Eine Villa mit Liebe zum Detail.

Die Villa wurde in den Jahren 2010 bis 2012 aufwändig und originalgetreu grundsaniert. Mies van der Rohes kühner Entwurf ist mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe. In diesem Jahr feiert das Bauhaus sein hundertjähriges Jubiläum. Der Tipp: Rasch auf die Warteliste setzen lassen. Der Ausflug nach Brünn lohnt sich. Zu entdecken ist nicht nur ein faszinierendes Denkmal der Moderne. Die Villa mit ihren Höhen und Tiefen erzählt viel mehr über das vergangene Jahrhundert als alle dicken Geschichtsbücher.

Die Villa Tugendhat in Brünn/Tschechische Republik. 100 Jahre Bauhaus. Lohnenswert. Aber 2019 mit langen Wartezeiten.