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Schlaflos in Pjöngjang (5)

4. Juni 2004

Wir sitzen bereits wieder in der komfortablen Lufthansa-Maschine von Peking nach Frankfurt. Auf den allerletzten Drücker haben wir den Anschlussflug von Pjöngjang erreicht. Der Abfertigungsschalter in Peking war bereits geschlossen. Sie haben uns dennoch über einen Seiteneingang durchgelassen. Glück gehabt.

Die Frühsommertage von Pjöngjang sind schon wieder Geschichte. Als VIP-Delegation kamen wir, als beeindruckte Gäste gingen wir. Nordkorea hat meine gesamte Gefühlspalette aktiviert: Faszination, Unverständnis, Verwirrung, Entsetzen. Wir haben die Kulissen eines Staates gesehen, doch hinter die Kulissen konnten wir nicht schauen.

 

Brautpaare posieren für den Fotografen. Der Juche-Tower im Hintergrund.

 

Die Söhne und Töchter von Kim Il Sung haben ihr Klassenziel erreicht. Sie haben uns ihr Land gezeigt, ohne dass wir ihr Land wirklich gesehen haben. Die Führung Nordkoreas präsentiert das harmonische Bild eines mutigen, selbstbewussten und  kämpferischen Landes, das trotzig und unverdrossen gegen den feindlichen Rest der Welt anzukämpfen hat. An diesem Bild malen in Nordkorea viele Kulissenmaler mit.

 

Metrostation.

 

Was bleibt?

Unser glitzerndes Hotel befand sich auf einer Insel. Unerreichbar für die Einheimischen. Entrückt der Realität für die Fremden. Unsere Funktionäre haben alles getan, um die Illusionen eines wohl geordneten Staates zu unterstreichen.  Pjöngjang ist uns nach fünf Tagen so nah gekommen und doch so fern geblieben. Da wir nur wenig selbst sehen konnten, nehmen wir mehr Fragen als Antworten mit nach Hause. Wir haben gelernt, vieles gesehen und doch nur wenig verstanden.

 

Möbeltransporte in Pjöngjang.

 

Klar ist: Das nordkoreanische Regime ist allgegenwärtig. Dennoch hören wir von Geschichten, die uns hinter vorgehaltener Hand erzählt werden:  Kinder werden nach acht Wochen von ihren Eltern getrennt. In den Hochhäusern gibt es ab der sechsten Etage kein fließendes Wasser. Es existieren sogenannte Verbotene Zonen mit Arbeitslagern. Die Nahrungsmittelreserven reichen für fünfzehn Tage. Die Menschen hungern nach wie vor. 20% der Kinder sind unterernährt. 40% der Kinder sind wachstumsgestört.

 

Akkordeonklasse im Palast der Jugend.

 

Was ist davon wahr, was nicht?

 

Fortsetzung folgt.

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Schlaflos in Pjöngjang (4)

3. Juni 2004

 Premierenstimmung. Hektische Betriebsamkeit und eine Prise Aufgeregtheit. Der deutsche Lese-Saal soll heute im Kulturhaus Chollima offiziell eingeweiht werden. Das Protokoll ist streng. Die Funktionäre sind ein wenig nervös. Es ist heiß. Gegen die aufsteigende Hitze brummen zwei Aggregate an. Der neue Raum für Information, Kultur & Austausch hat sogar eine Klimaanlage, Made in Japan. An diesem Tag steht ein winziges Stück Weltpolitik auf dem Spielplan. Schauplatz: die ehemalige Rumpelkammer des nordkoreanischen Kulturinstituts.

Nach 50 Jahren Kalter Krieg ist diese Eröffnung eine kleine Sensation. Die Bücher von Martin Walser, Christa Wolf, Ralph Giordano, Elfriede Jelinek sind ab sofort ausleihbar. Werke von Autoren und Schriftsteller kommen zum ersten Mal in ein Land, in dem jedes einzelne Wort kontrolliert und zensiert ist. In den Regalen stehen dicke Biografien über Konrad Adenauer und Gerhard Schröder, bohrende Innenansichten deutscher Vergangenheiten von Jörg Friedrich und Hilke Lorenz. Präsentiert wird deutsches Wissen aus allen Zeiten, aus Mathematik, Physik, Chemie und anderen Wissenschaften. Selbstverständlich sind die Großmeister, die Klassiker der deutschen Dichtkunst Goethe und Schiller vertreten.

 

Antreten zur Einweihung des Goethe-Lesesaals in Pjöngjang.

 

Der stolze Vater des Pjöngjang-Projekts, der Deutsche Uwe Schmelter schwelgt und ist überglücklich: „Bei aller Unzulänglichkeit, das ist ein großartiger Schritt. Nun heißt es hier in Nordkorea, ich darf das mal betonen, wie bei Don Carlos: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire! Das ist doch etwas. Wer hätte das gedacht? “ Der Kulturfunktionär hat die Hände gefaltet und lächelt zufrieden wie eine Buddha-Statue.

Wir suchen Don Carlos. Wir fahnden nach der Gedankenfreiheit im kommunistischen Orwell-Staat klassischer Prägung. Wir entdecken Maria Stuart und Wilhelm Tell. Schillers Don Carlos finden wir nicht. Schade. Das mit der Gedankenfreiheit kann Herr Schmelter sicherlich noch ändern. Im Goethe-Lesesaal ist jetzt mächtig Gedränge. Das offizielle Programm ist absolviert. Die Premiere hat stattgefunden. Das Publikum bestaunt die Inszenierung auf 140 Quadratmetern Deutschland. Die jungen Damen in ihren traditionellen koreanischen Gewändern lächeln stumm. Die Herren in Schwarz mit ihrem grienenden roten Kim Il Sung Button am Revers bleiben genauso stumm. Sie beobachten misstrauisch, wachsam und distanziert das Treiben.

 

Großer Andrang im Lesesaal nach der Eröffnung.

 

Die deutsche Delegation gibt sich siegessicher, stolz und selbstbewusst. Die Goethe-Delegation ist hier wer. Der nordkoreanische Kulturfunktionär, der genau so aussieht, wie man sich ihn vorstellt, spricht in seiner abgelesenen Rede mindestens ein Dutzend Mal von Deutslandu. Wenigstens einmal kommt auch Kim Il Sung vor. Das muss wohl sein. Ohne ihn geht es nicht.Der große geliebte Führer ist immer dabei.

Die mitgebrachten Bierflaschen klappern in der Plastiktüte. Wir hasten durch eine riesige leere Vorhalle. Kein Mensch ist zu sehen. Wir befinden uns im Fernseh-Gebäude, im Zentrum der Propaganda-Zentrale, sozusagen im Herzen des Schurkenstaates. Der Direktor des Hauses und eine gut aussehende Mitarbeiterin empfangen uns in einem viel zu großen Raum mit dekorativen Sesseln, Sofas und einer hochmodernen Schnitteinheit. Der Schneideraum scheint für uns extra präpariert worden zu sein. Wer sonst in der Welt verfügt schon über bequeme Sofas am Arbeitsplatz? Die Gastgeber sind freundlich, professionell, aber höflich reserviert.

 

Gelingt die Überspielung nach Mainz? Die erste TV-Direktleitung Nordkorea – Deutschland erlebt ihre Premiere.

 

Wir bereiten eine weitere Premiere vor. Wir stehen kurz vor der ersten Überspielung einer Fernsehnachricht von Nordkorea nach Frankfurt in der fernen Bundesrepublik Deutschland. Nach vielfältigen diplomatischen Aktivitäten, Gesprächen, Telefonaten und Kontakten läuft alles problemlos. Wir können unser selbstgedrehtes Material von unserer Kamera direkt einspeisen. Ein kleines Verbindungskabel, mehr ist nicht erforderlich.

Alles klappt. Goethe wird über einen Satelliten von Pjöngjang nach Frankfurt gejagt. 7.000 Kilometer in Echtzeit, eins zu eins ohne Komplikationen und Störungen. Die Nachricht kommt an. BBC, CNN und viele weitere Sender von Australien bis Island schließen sich an. Unsere Bilder laufen rund um die Welt. Es geht also, wenn man nur will. Das Land, das sich wie kein anderes abschottet , sendet neue, andere Lebenszeichen in die Welt. Nachrichten über Austausch, Kommunikation und Information.

Wir öffnen die mitgebrachten Bierflaschen, Marke Tiger. Das Bier kommt aus Singapur und stammt aus dem Intershop. Die Stimmung wird dank Tiger gelöster. Der Direktor schreibt einen Vertrag. Der Preis ist überraschend niedrig. 600 Euro. Das ist gerade einmal die Hälfte der verlangtem Summe vom Vorabend und nicht zu vergleichen mit den 15.000 $ , die zunächst als Forderung im Raum standen.

 

Ein Lächeln für die Hotelgäste aus Deutslandu…

 

Wer hat da hinter den Kulissen am Rad gedreht? Wir wissen es nicht. Wir lassen das Tiger-Bier kreisen. Ich zahle in Euro. Das ist die Leitwährung in Nordkorea. Die Funktionäre lieben unsere Währung mehr als den verhassten Dollar. Wir tauschen kleine Freundlichkeiten aus, stoßen ein letztes Mal auf die Völkerfreundschaft an und verlassen mit unseren drei Aufpassern das leere Gebäude. In der Empfangshalle verabschiedet uns Kim Il Sung, der von einem gigantischen Gemälde weise auf uns herab lächelt.

Es ist 22Uhr 30. Pjöngjang schläft bereits. Wir rumpeln in unserem japanischen Kleinbus durch die Straßen der Hauptstadt. Nur die Scheinwerferkegel werfen ein fahles Licht auf den Asphalt. Die Stadt ist stockdunkel und wirkt wie ausgestorben. Keine Menschenseele ist zu sehen. Kein Licht lenkt ab. Der Fahrer konzentriert sich auf den Weg.

 

Einzig und allein der Juche-Tower war noch hell erleuchtet. Wenig später wurde alle Straßenbeleuchtung abgeschaltet – Energieeinsparung, so die Begründung

 

Es ist dunkel in Nordkorea, selbst in der Hauptstadt. Das Regime muss sparen. Es herrscht totaler Energiemangel. Die Kraftwerke werden stundenlang abgeschaltet. Das Land hat keine Devisen für Rohstoffe. Das Militär verschlingt alles. Einzig und allein am Denkmal für den Großen Führer brennt Licht. Kim Il Sung strahlt einsam und allein in der Dunkelheit, wer sonst?

Um 23 Uhr verlischt auch bei ihm das Licht. Dann ist für wenige Minuten wieder diese geheimnisvolle Melodie zu vernehmen, die so melancholisch die Bürger dieses Landes in die Betten schickt.

 

Fortsetzung folgt.

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Schlaflos in Pjöngjang (3)

Die Welt taumelt am Rande einer Katastrophe schreibt der Spiegel. „Jeden Augenblick könnte der Atomkrieg ausbrechen“. Die Rede ist von Nordkorea. Viele Menschen fürchten, dass am anderen Ende der Welt plötzlich einer die Nerven verliert. Diktator Kim Jong-Un und US-Präsident Donald Trump belauern, provozieren und drohen sich bis ans Messer. Droht der große Knall? Sterben für Korea? Ich will lieber vom Leben erzählen.

Vor über zehn Jahren hatte ich die einmalige Gelegenheit, das geschlossene System der Kim-Dynastie eine Woche lang zu besuchen. Als Mitglied einer deutschen Delegation unter Leitung der damaligen Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach. Eine kluge und unbeugsame Frau, die vor einem Jahr verstorben ist und in diesen Zeiten so sehr fehlt. Ich zitiere zum ersten Mal in Auszügen aus meinem Reisetagebuch. Übrigens: 2004 hieß der nordkoreanische Führer Kim Jong-Il. Der heutige Nordkorea-Diktator Kim Jong-Un ist dessen dritter Sohn. US-Präsident war damals George W. Bush.

 

Skyline von Pjöngjang.

 

2. Juni 2004

Schlaflos in Pjöngjang. Der Jetlag fordert seinen Tribut. Die Aufregung tut ein Übriges. Hotel Yanggkado. 40. Etage. Zu unseren Füßen ruht die Millionenstadt. Es herrscht Stille. Absolute Stille. Es ist dunkel. Absolute Dunkelheit. Das Fenster lässt sich öffnen. Der Blick hinaus ins Nichts macht neugierig. Die Luft ist milde. Irgendwo in der Ferne ist ein Zug zu hören. Die Stadt liegt tiefrabenschwarz vor unserem Hotel. Kein Licht, Kein Lärm, nichts. Pjöngjang ruht. Gespenstisch. Unwirklich.

 

5 Uhr morgens.

Ein metallenes Geräusch. Ein Ton, der sich stetig zu einer Melodie verdichtet. Es klingt wie ein elektronischer Weckruf. Was ist das? Woher kommen diese Geräusche? Die bizarre Melodie hallt über der Stadt. Ein Morgenruf? Die Aufforderung zur Meditation? Sollen die Genossen das Tagewerk beginnen? Oder ist alles nur eine Fata Morgana wie dieses ganze Land?

Ich bin unsicher. Ich lausche. Ich versuche die Töne zu sortieren. Es gelingt mir nicht. Die Pjöngjang-Melodie über den Dächern der Stadt klingt ein wenig traurig. Es dämmert. Ein neuer Tag bricht heran. Ich nicke ein.

 

In den Straßen von Pjöngjang.

 

7 Uhr morgens.

Zwei Sirenen erklingen kurz und scharf. Dann herrscht wieder Ruhe. Irgendwo schmettert ein Männerchor. Pjöngjang erwacht. Der Verkehrslärm ist bescheiden, der kräftiger Chor tiefer Männer-Stimmen schwingt durch die Straßen. Es klingt militärisch. Wer führt hier Regie? Was ist das für eine Inszenierung? Was ist echt, was ist Kulisse? Unwirkliche Wirklichkeit, fünfzehn Flugstunden entfernt.

 

Frühsport. Blick aus dem Hotelfenster in der 40. Etage in einen Innenhof.

 

14 Uhr nachmittags.

Auf der Toilette des Hotel-Restaurants spricht mich nach dem Mittagessen ein Einheimischer auf Englisch an. Ich bin überrascht. Denn bislang hatte ich nur mit Offiziellen Kontakt. Sein Englisch ist fließend. Der Anzug ordentlich. Vielleicht ist er ein Chinese oder Südkoreaner auf Dienstreise. In der Unterscheidung asiatischer Nationalitäten ungeübt, muss ich die Frage nach der Herkunft unbeantwortet lassen.

Dialog auf dem Pissoir.

„Woher kommst Du?“ – „Aus Berlin.“ – „Was machst Du hier? Bist Du Tourist?“- Ich verneine. – „Was machst Du dann hier ? Business?“ – Ich widerspreche nicht. Ich will mich nicht als westlicher Journalist offenbaren und lieber in Ruhe meine notwendigen Geschäfte zu Ende bringen. Er lacht laut und heftig los. – „Was willst Du hier für Business machen? Hier gibt es doch nichts…“ – Vor lauter Lachen pinkelt er sich fast seine Hose voll.

 

Einer, der sich um Sicherheit kümmert.

 

Abends. 20 Uhr.

Die Lobby des Hotels. Die kleinen agilen Herren mit den schwarzen Anzügen und den roten Parteiabzeichen haben uns gleich bei Ankunft die Reisepässe abgenommen. Die Männer von der Sicherheit vermissen einen Pass. Das macht sie nervös. Sie signalisieren, dass sie solange suchen werden, bis sie das Dokument finden.

Als dann die Frage aufkommt, was mit dem angebrochenen Abend anzufangen sei, schlägt jemand aus der Reisegruppe einen Nachtbummel vor. Wenig hilfreich dieser Vorschlag, meint diplomatisch der Vertreter des Goethe-Instituts Uwe Schmelter, der normalerweise in Seoul lebt. Er hebt vielsagend die Augenbrauen. Dann beginnt er uns aufzuklären.

Ohne Pass könne jeder Ausländer in Pjöngjang sofort auf der Straße festgenommen werden. Den Pass bekomme man erst kurz vor der Rückreise wieder ausgehändigt. Als Europäer falle man in Pjöngjang sowieso auf wie eine Ananasplantage in Alaska. Das sei ein leichtes Spiel für Polizisten und Sicherheitsleute. Noch Fragen? Keiner von uns plant einen Nachtbummel mit anschließendem Kurzbesuch im nordkoreanischen Kittchen. Das erscheint wenig reizvoll.

Wir bleiben im Hotel. Wo ist der fehlende Reisepass?, fragt der amtliche Betreuer. Er schaut uns deutlich strenger an. Von seiner anfänglichen Höflichkeit ist wenig geblieben.

 

Fortsetzung folgt.

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Schlaflos in Pjöngjang (2)

Die Welt taumelt am Rande einer Katastrophe schreibt der Spiegel. „Jeden Augenblick könnte der Atomkrieg ausbrechen“. Die Rede ist von Nordkorea. Viele Menschen fürchten, dass am anderen Ende der Welt plötzlich einer die Nerven verliert. Diktator Kim Jong-Un und US-Präsident Donald Trump belauern, provozieren und drohen sich bis ans Messer. Droht der große Knall? Sterben für Korea? Ich will lieber vom Leben erzählen.

Vor über zehn Jahren hatte ich die einmalige Gelegenheit, das geschlossene System der Kim-Dynastie eine Woche lang zu besuchen. Als Mitglied einer deutschen Delegation unter Leitung der damaligen Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach. Eine kluge und unbeugsame Frau, die vor einem Jahr verstorben ist und in diesen Zeiten so sehr fehlt. Ich zitiere zum ersten Mal in Auszügen aus meinem Reisetagebuch. Übrigens: 2004 hieß der nordkoreanische Führer Kim Jong-Il. Der heutige Nordkorea-Diktator Kim Jong-Un ist dessen dritter Sohn. US-Präsident war damals George W. Bush.

 

Bronze-Denkmal Staatsgründer Kim Il Sung.

 

Teil 2

Dienstag, 1. Juni 2004

„Willkommen an Bord einer russischen Verkehrsmaschine, die wahrscheinlich so viele Jahre auf dem Buckel hat wie ich.

Interieur, Designs, Teppiche, Sitze, Bezüge, Beleuchtung, kurzum alles atmet den verblichenen Duft der sechziger Jahre. Aus den Lautsprechern dröhnen fröhlich-piepsende Heldenlieder. Es klingt wie ein munteres Vogelgezwitscher, unterbrochen von zeitweiligen Stößen eines Presslufthammers.

Die Iljuschin brummt, rollt auf die Startbahn und gewinnt ächzend an Fahrt. Die farbenfroh gewandten Stewardessen, hübsch anzusehen, bleiben stehen. Es gibt offenbar keine Sitzplätze für sie. Sicherheitsvorschriften? Anschnallen? Das gilt nicht für sie. Tapfer halten sich die jungen Damen fest, während sie ihr geheimnisvolles unnahbares koreanisches Lächeln aufsetzen.

 

Flug Peking – Pjöngjang.

 

Die Iljuschin vibriert inzwischen mit dem Temperament einer Höllenmaschine und erhebt sich. Meine deutsche Sitznachbarin warnt mich vor dem Backofen, der uns gleich bevorsteht. Die Klimaanlage, sagt sie, wird in der Regel abgestellt, um Treibstoff zu sparen. Sie irrt sich. Glücklicherweise. Offenbar ist genug Kerosin im Tank. Ich bin beruhigt. Wir kommen nicht ins Schwitzen.

 

Bordverpflegung.

 

Wir fliegen über karge, bergige, nahezu unbewohnte Landschaften. Die dauerlächelnden Stewardessen servieren ein Tablett mit bunten Schälchen. Es gibt Reis, Geflügel, Käse und Wurst. Zum reichhaltigen Angebot gehört neuseeländische Butter. In der Linienmaschine sitzen chinesische und nordkoreanische Funktionäre. Und wir sind dabei, eine fünfzehnköpfige Gruppe deutscher Handlungsreisenden der Goethe-Gesellschaft mit Jutta Limbach an der Spitze. Unterwegs, um ein neues Institut feierlich einzuweihen.

 

Flughafen Pjöngjang International.

 

Achttausend Meter unter uns liegt Nordkorea. Die Delegation aus dem fernen Deutschland ist im Anflug. Pjöngjang, wir kommen!“

 

Fortsetzung folgt.

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Schlaflos in Pjöngjang

Die Welt taumelt am Rande einer Katastrophe schreibt der Spiegel. „Jeden Augenblick könnte der Atomkrieg ausbrechen“. Die Rede ist von Nordkorea. Viele Menschen fürchten, dass am anderen Ende der Welt plötzlich einer die Nerven verliert. Diktator Kim Jong-Un und US-Präsident Donald Trump belauern, provozieren und drohen sich bis ans Messer. Droht der große Knall? Sterben für Korea? Ich will lieber vom Leben erzählen.

Vor über zehn Jahren hatte ich die einmalige Gelegenheit, das geschlossene System der Kim-Dynastie eine Woche lang zu besuchen. Als Mitglied einer deutschen Delegation unter Leitung der damaligen Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach. Eine kluge und unbeugsame Frau, die vor einem Jahr verstorben ist und in diesen Zeiten so sehr fehlt. Ich zitiere zum ersten Mal in Auszügen aus meinem Reisetagebuch. Übrigens: 2004 hieß der nordkoreanische Führer Kim Jong-Il. Der heutige Nordkorea-Diktator Kim Jong-Un ist dessen dritter Sohn. US-Präsident war damals George W. Bush.

 

Pjöngjang Kim Il Sung-Platz.

 

„Dienstag, 1. Juni 2004

Warm Welcome radebrecht der Portier an der Rezeption auf Englisch. Wir sind an einem heißen Frühsommertag am anderen Ende der Welt angekommen nach fünfzehn Stunden Flug … um sogleich aus der Zeit zu fallen

Das schlichte Zimmer 4020 befindet sich im Yanggakdo-Hotel. Diese prächtig glitzernde Devisen-Burg steht auf einer Insel, die einen breiten Fluss teilt, dessen Name ich mir nicht merken konnte.

Ich bin in Pjöngjang. Es ist die Hauptstadt der Koreanisch Demokratischen Volksrepublik. Besser bekannt als Nordkorea.

Ich sortiere meine mitteleuropäische Vorstellungswelt und stelle fest: ab jetzt bin ich Teil einer kuriosen Inszenierung, die anziehend und verstörend zugleich ist. Nordkorea. Der Schurkenstaat. Das kommunistische Disneyland. Das riesige Straflager.

Alles ist echt und wirkt doch inszeniert.

 

Parade in Pjöngjang.

 

Die Zeitreise beginnt in Peking.

Der Transitbereich im Flughafen Peking. Hektisch, laut, rücksichtslos. Alles ist komplett westlich geprägt. Reklameschilder, Luxusartikel, die Ikonen der Gucci und Christian Dior Welt leuchten. Luxusartikel werden an jeder Ecke angepriesen. Die Chinesen eilen, schubsen, drängeln. Sie wollen am neuen Kuchen teilhaben. Schnell, schnell, schnell. Nicht stehen bleiben. Hurry up, don´t wait, ruft der Gepäckträger. Wer dabei sein will, muss sich sputen. China ist im Konsumrausch. Der Raubtierkapitalismus wird hier zelebriert. Selbst der Klo-Mann schnorrt für eine Papierserviette einen Euro. Eine kleine Flasche Wasser kostet 3 Euro.

Endlich ist der Schalter G 16 erreicht. Air Koryo steht handgeschrieben über dem Schalter. Letzte Fragen, die Bordkarte. Der Gang zur Maschine in Richtung Pjöngjang. Und ab jetzt wird alles anders.“

 

Fortsetzung folgt.

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Alles nur Theater

An der blauen Donau. Die Chefin ist eine stattliche Frau. Mit strengem Dutt, einer stattlichen Tracht auf dem Leib und glühender Leidenschaft für ihr Haus. Christine Geierhofer, irgendwo in den Siebzigern, ist Hausherrin am Stadttheater Grein an der Donau. Grein? – Nie gehört! – Ein Fehler. Denn dieser kleine Ort in Österreich erzählt eine große Geschichte: Von der Bühne des Lebens. Seit 1791, seit Napoleons Zeiten, spielen sie im winzigen Donaustädtchen ums Leben gern Theater.

 

 

Stadtheater Grein. Seit 1791 Bühne für kleine und große Geschichten.

 

Christine Geierhofer erklärt, lächelt, schwärmt. Einmal die Woche führt sie Besucher aus aller Welt durch ihr Haus. Es wird zu einem echten Schlüsselloch-Blick hinter die Kulissen. Der Rundgang beginnt im Kerker. Die Zelle hat eine Besonderheit. Ein winziges Loch in der Wand ermöglichte den Deliquenten freien Zugang zur Kultur. Neben der Zelle führt eine Stiege zum Saal. Platz für 160 Besucher. Mit Sperrsitzen im Originalzustand. An der Wand ein Schlüsselbrett. Der Abonnent konnte mit dem passenden Schlüssel seinen Stammplatz aufschließen. Und nach Verlassen wieder sperren.

 

Sperrsitz. Nur mit Schlüssel zu entsperren.

 

„Sperrsitze gibt es im Original nur noch bei uns“ betont die Prinzipalin. „Das ist weltweit einmalig. Genau wie das stille Örtchen im Theatersaal.“ Tatsächlich befindet sich nach wie vor ein Locus Vivendi mit Vorhang im Greiner Rokoko-Theater. Wer musste, konnte bei Lachern, rasch den Vorhang lüften und verfolgen, was auf der Bühne gerade geschah. „Herrlich. Das passt doch“, freut sich Christine Geierhofer. Ihr Dutt wackelt im Rhythmus ihres Lachens.

 

Linkerhand. Das „stille Örtchen“ mit Blick auf die Bühne.

 

Das Repertoire? Gespielt wird alles, was ein Publikum findet. Leichte Kost, Operette, Volksstücke. „Sogar die Wiener kommen zu uns“. Aber auch Brechts „Dreigroschenoper“ oder Dürrenmatts „Biedermann und Brandstifter“ stehen auf dem Spielplan. Das Ensemble von der Greiner Dilettantengesellschaft – so heißen sie wirklich –ist mit Feuereifer dabei. Seit unzähligen Generationen. Für 16 Euro auf allen Plätzen. „Das reicht gerade so. Mit Theater wird man nicht reich“, ergänzt die unerschrockene Theaterintendantin. Das Publikum sei heutzutage leider launisch und verwöhnt. „Ach, das Internet!“

 

Für treue Abonnenten. Hier hängt der Schlüssel zum Sperrsitz und Theatergenuss.

 

Ab 4. November 2017 gibt es noch „Die Weberischen“. Eine musikalische Komödie über Mozarts Gattin. Anfang Dezember wird dann das traditionsreiche Haus, früher einmal ein Getreidespeicher, zugesperrt. Für drei Monate. „Wegen Denkmalschutz“. Im Winter wären Heizkosten und Brandgefahr einfach zu hoch. Im März heißt es im 226 Jahre alten Stadttheater wieder: Vorhang auf! Wir spielen – wie es euch gefällt.

 

Ein Stück weit Donauabwärts. Ein Monument für die Nibelungen. Helden sind wieder gefragt.

Hoch hinaus

„Solang ich klettern kann, solange ich Bücher schreiben kann, so lange bin ich jung.“ Zum Schluss wurden die Berge zu hoch. Die Knochen zu müde. Nur der Verstand blieb wach, fand keine Ruhe. Heiner Geißler. In einem seiner letzten Interviews vom Sommer erklärte er: „Die einzige Angst, die berechtigt ist, ist die vor dem Tod. Von hundert Leuten sterben hundert.“ Das Tröstliche: Sein Vermächtnis bleibt unsterblich. Wage zu denken. Nutze dein Leben. Gehe deinen eigenen Weg.

Heiner Geißler durfte ich in den letzten Jahren näher kennenlernen. Es war ein Vergnügen ihn zu treffen. Er öffnete Türen, ließ Gedanken zu, auch wenn er manche für unausgereift hielt. Er selbst wurde im Alter immer kompromissloser und unbeugsamer. Nur ein Beispiel: In einem kurzen Kulturbeitrag für aspekte forderte er die sofortige Sprengung der Siegessäule in Berlin. Warum? Das Monument stehe wie kein anderes für preußischen Militarismus, antwortete der gebürtige Schwabe trocken. Wir schafften es mit diesem Vorschlag auf Seite eins des Boulevards. BILD schäumte. „Geißler dreht durch“, hieß es.

 

Heiner Geißler. 2016 auf der Frankfurter Buchmesse.

 

Hatte sich Helmut Kohls einstiger Scharfmacher vom Saulus zum Paulus gewandelt? Einst attackierte er die Sozis als „fünfte Kolonne Moskaus“ und die Grünen brandmarkte er als Vertreter „eines Pazifismus, der Auschwitz erst ermöglicht“ habe. Nach seinem Sturz als CDU-Generalsekretär 1989 ging der bekennende Katholik und Jesuit eigene Wege. Alle Versuche eines Comebacks hintertrieb Kohl. Geißler suchte und fand nach Umwegen aber die Rolle seines Lebens. Als Mahner, Quer-Denker und radikaler Utopist. Er träumte den Traum einer besseren Gesellschaft.

 

Mit Heiner Geißler auf dem Blauen Sofa.

 

Geißler warnte vor der „Renaissance des Nationalismus“, das zu einem „architektonisch eher mittelmäßigen Hohenzollernschloss“ geführt habe. 2012 fragte er: „In welchem Geisteszustand befindet sich eigentlich die Verwaltung und Regierung von Berlin, die im Herzen ihrer Stadt das dümmste Monument der Republik anstandslos akzeptiert, nämlich die Siegessäule mit eingelassenen Kanonenrohren aus denen die Preußen auf deutsche Landsleute und Franzosen geschossen hatten, und die Hindenburgplätze, ja sogar Dscherschinski-Straßen für angemessen hält, es aber ablehnt, auch nur eine Nebenstraße nach dem von rechtsextremen Nationalisten ermordeten ersten Reichsfinanzministers Matthias Erzberger zu benennen.“

 

Siegessäule in Berlin. Weil er sie nicht sprengen konnte, nutzte er „das hässliche Moument“ als Trainingsstätte.

 

In seinem lesenswerten Buch „Sapere audere – Wage zu denken“ geißelte er die „Schande des Kapitalismus“. Er verurteilte „Spekulation mit Grundnahrungsmittel“ und forderte eine Transaktionssteuer. Damit schaffte er es in Talkshows, blieb im politischen Tagesgeschäft jedoch chancenlos. Heiner Geißler suchte stets die Herausforderung. Augenzwinkernd erzählte er mir noch über die Siegessäule, die er eigentlich sprengen wollte. „Da dies zeitnah nicht umzusetzen war, beschloss ich das Monument als Trainingsstätte zu nutzen. Für zehn Groschen alle Stufen rauf und wieder runter. Ein ideales Fitness-Programm.“ Dann lächelte er und schlug vor, die Zeit für einen guten Tropfen „Gleisweiler Hölle“ zu nutzen. Sein geliebter Wein aus dem eigenen pfälzischen Anbau.

 

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Der Schladi geht um

Alltag in einem Amt der Hauptstadt. Könnte auch woanders sein. Dienstag sind verlängerte Öffnungszeiten. Das ist im Behördenjargon der Schladi = der „Scheiß Lange Dienstag“. Gegen solche Zumutungen hilft nach Aussagen der zusammengesparten Mitarbeiterschaft nur die „Kuchenpause“. Sonst fällt der Zuckerspiegel, droht ein Burn-Out und am Ende geht gar nichts mehr. Ausweise verlängern? Auto ummelden? Hochzeit festlegen? Dafür braucht es viel Geduld und einen langen Atem. Ganz Berlin ist eine BER-Baustelle, die nie fertig wird. Ready to take off … für die nächste Verschiebung.

 

Herausforderungen sind das Salz in der Suppe des täglichen Betriebsablaufes. (Gesehen am Markt in Wroclaw/Breslau)

 

Wie wäre es mit dem Neubau einer Schule? Bildung ist wichtig, sagen alle. Kinder werden wieder in die Welt gesetzt, wie wir erfreut verzeichnen. Wer also bauen will, kann folgende Herausforderungen fest einplanen. Zunächst gilt es eine neue zentrale Aufgabenstellung mit zu definierenden Prioritäten, nachhaltiger Bürgerbeteiligung und unter Berücksichtigung geschlechtsneutraler sowie EU-weiter Ausschreibungskriterien festzulegen. Dann folgen Risikofaktoren wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter bei notwendiger Anhörung und Zustimmung der Personalräte.

 

Aufgaben und Zielstellung sind in eine geordnete Abfolge zu bringen. (Gesehen in St. Petri-Kirche Lübeck „Double Act“)

 

Beginnen wir das Werk: 1) Bauherr definiert Bedarf, 2) Mittel werden beantragt, 3) Testat wird erstellt, 4) Senat für Finanzen verabschiedet Investitionsplan, 5) Anmeldung durch Bezirk, 6) Senatsbeschluss, 7) Erarbeitung Bedarfsprogramm, 8) Genehmigung Bedarfsprogramm, 9) Vergabeverfahren, 10) Auswahlentscheidung, 11) Vorplanungsunterlagen (VPU) werden erarbeitet, 12)  VPU werden genehmigt, 13) Veranschlagung im Haushalt, 14) Bauplanungsunterlage (BPU) wird erarbeitet, 15) BPU wird genehmigt, 16) Ausführungsplanung, 17) Ausschreibungscheck, 18) Baubeginn, 19) Fertigstellung, 20) Einweihung der Bildungsstätte durch Senat, Bezirk, Integrations- und Gleichstellungsbeauftragte. 21) Verteilung von Schultüten.

 

Eine Momentaufnahme vom stillgelegten Flughafen Tempelhof.

 

Im konkreten Fall nahm dieser Ablauf gerade einmal acht Jahre in Anspruch. Das ist durchaus sportlich zu nennen. Der Flughafen BER strebt möglicherweise, vielleicht oder vielleicht auch nicht im sechzehnten Jahr seiner Planung, Genehmigung und Ausführung (genauer Ablauf siehe einen Absatz weiter oben) der Vollendung entgegen. Merke: Den Bürokratismus in seinem Lauf, halten weder Ordnungsamt noch Schladi auf.

Wut ist ein Geschenk

Er ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um drei Uhr früh auf, um zu meditieren. Um fünf wurde gebetet. Danach ging es ans Tageswerk. Der disziplinierte Frühaufsteher war Anwalt, Pazifist, Publizist und Politiker. Sein Motto: „Die Kraft jedes Einzelnen kann die Welt ändern.“ Der Mann hieß Mahatma Gandhi. An die friedliche Veränderbarkeit der Welt glaubte er bis zu seinem gewaltsamen Tod. Gandhi starb 1948 beim Gebet – durch drei Schüsse eines Nationalisten.

 

Mahatma Karamchand Gandhi. (1869 – 1948)

 

Die Geschichte des schmächtigen Mannes, der nur 1 Meter 64 groß war, erzählt nun sein Enkel Arun. 1934 geboren, nannte er seinen berühmten Großvater nur Babuji. In elf Lektionen nähert sich Arun einem Menschen, der so bescheiden lebte wie die Mitglieder der untersten Kasten: „Sein Blick glich zwei weichen Lichtern im Dunkel“. Das Buch erzählt von der Freundschaft zum Großvater und der Wut der vielen Ausgegrenzten und Unterdrückten. Wut sei der erste Schritt zur Überwindung.

 

Gandhi 1930 – beim Protestmarsch. Ein kleiner unscheinbarer Mann mit Schultertuch, Sandalen und Wanderstock stürzt das Salzmonopol der Briten.

 

„Die meisten Menschen brauchen sehr wenig, um glücklich zu sein“, zitiert Journalist Arun seinen Großvater. „Wer am lautesten schreit, hat am wenigsten zu sagen“, denn: „Hohle Trommeln dröhnen am lautesten“. Typische Gandhi-Gedanken. Aus der Zeit gefallen? Keineswegs, findet Enkel Arun. Er besteht darauf, dass sein Prinzip der Gewaltlosigkeit im Zeitalter von Terror, Kriegen und neuem Nationalismus aktuell bleibe. Mahatma Gandhis Antwort an seine vielen Gegner: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du“,

Allerdings gab es durchaus Momente, die an Gandhis Pazifismus Zweifel nähren. Als Hitler die Judenverfolgung perfektionierte, schrieb er dem Rabbiner Leo Baeck: „Mein Rat an die deutschen Juden lautet, am selben Tag zur selben Stunde gemeinsam Selbstmord zu begehen. Dann wird das Gewissen Europas erwachen.“ Gandhi meinte tatsächlich auch angesichts größter Verbrechen, dass Hungerstreik und gewaltloser Widerstand die besten Waffen seien.

 

„Die Kraft jedes Einzelnen kann die Welt ändern.“

 

Gandhi saß immer wieder in Haft. Er überlebte acht Anschläge. Dennoch verzieh er seinen Attentätern. „Viel Glück. Sollte es mein Schicksal sein, dann sterbe ich von ihrer Hand. Wenn nicht, denn eben nicht.“ Das neunte Attentat überlebte er nicht. Am 30. Januar 1948 um fünf Uhr nachmittags feuerte sein Landsmann Nathuram Godse die tödlichen Kugeln ab.  Der Mörder war ein nationalistischer Hindu. Er warf Gandhi Verrat an der indischen Nation vor.  Zur Trauerfeier für den 78-jährigen strömten mehr als anderthalb Millionen Menschen zusammen. „Unfriede kann keinen Frieden schaffen. Das ist, als versuche man, Trauben von Distelbüschen zu ernten“, erwähnt Arun des Großvaters Vermächtnis.

 

War er nicht unglaublich naiv? Brauchen wir einen neuen Gandhi? Enkel Arun ist überzeugt, dass seine Botschaft sinnvoller ist als jemals zuvor. „Millionen Menschen spürten seine Aufrichtigkeit und tiefen Glauben. Eine unwiderstehliche Kombination“, schreibt er. „Wut als Geschenk. Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi.“ Eine kurze, kompakte Streitschrift zum Nachdenken. Beklemmend aktuell.

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Stadt von morgen

Neu in Berlin? Auf Wohnungssuche? Viel Spaß. Der Traum von einer neuen Bleibe: Schwierig bis unbezahlbar. Eine Drei-Zimmer-Wohnung im Berliner Zentrum liegt bei 2.000 Euro. Busfahrer, Polizisten und Krankenschwestern sind ohne Chance. Ein WG-Zimmer für 650 Euro. Nur etwas für den Nachwuchs der Besserverdienenden. Wer ändert das? – Wir, versprechen die Parteien, dann wird´s besser.

 

Kontraste. Alt -neu. Günstig – abgehoben.

 

Wenn Wohnen oder Kaufen in den Innenstädten zum Luxus wird. Dann ist Zeit über Alternativen nachzudenken. Wir blättern in Schriften und Archiven, finden diesen Aufruf:

„Vorspruch. Unsere Städte sind für eine frühere Zeit und die damals gültigen Lebensbedingungen der Menschen gebaut. Mit der fortschreitenden Entwicklung unserer „technischen Welt“ stimmen unsere Städte dabei immer weniger überein, sie funktionieren nicht mehr.

Wir erleben es täglich: Das Leben des einzelnen, das Dasein der Familie und der Gemeinschaft aller Bürger sind in dem nicht mehr passenden Stadt-Gehäuse in Unordnung geraten. Um das Leben in der Stadt wieder in Ordnung zu bringen, müssen wir daher heute die Stadt von morgen planen.“

 

Die Traumwohnung für „unter“ 200 Euro/Monat. Gesehen in Berlin-Charlottenburg

 

Was tun, fragen die unbekannten Autoren. „Unsere öffentlichen und privaten Mittel müssen nach einer Rangfolge verteilt werden, in der die Aufwendungen für Umgestaltung und Erneuerung unserer Städte an bevorzugter Stelle stehen. Wer Städte von morgen bauen will, muss die Nutzung ihres Bodens bestimmen können. Hierzu müssen neue Begriffe und neue gesetzliche Ermächtigungen geschaffen werden, deren Kernpunkt das Verfügungsrecht über den Boden ist.

 

Interbau-Broschüre von 1957 – wie soll die Stadt von Morgen aussehen?

 

Boden darf keine Ware sein, deren Verfügung im Belieben des Eigentümers liegt. Boden ist die Grundlage unserer Ernährung und unseres Bauens. Keine Angst vor Planung! Sie bedeutet nicht Planwirtschaft, sondern ist eine unentbehrliche Hilfe, um im engen Raum Freiheit und gesunde Lebensbedingungen für alle zu sichern.“ Am Ende heißt es: „Ob das geschieht, liegt auch in deiner Hand. Der Bauherr Deiner Stadt bist Du!“

 

Gebaute Utopie. Das Hansaviertel. Das Flagschiff – die Akademie der Künste. 1960.

 

Wer hat dieses Programm verfasst? Weltfremde Spinner, Jusos oder 68er-Altkader? Keineswegs. Diese Ideen sind genau sechzig Jahre alt. Entwickelt von Architekten und Stadtplanern für die Interbau 1957. Die ungenannten Verfasser suchten West-Berliner Antworten auf Krieg und Teilung, Wohnungsnot und SED-Propaganda. Es war die Utopie von einer besseren Gesellschaft auf Basis einer sozialen Marktwirtschaft. Im untergegangenen alten Hansaviertel wurde dieser Traum Realität. Mit allen Vorzügen und Fehlern der Moderne. Das Hansaviertel wird in diesen Tagen sechzig Jahre alt. Sein Versprechen ist aktueller denn je.

 

„Gemeinschaft schafft bei gleichem Ziel aus wenig viel“. Inschrift an einem Berliner Mietshaus der 50er Jahre.

 

Alle Zitate aus der Broschüre „Die Stadt von morgen“ von 1957.