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Tanz den Hotzenplotz

Er ist ein Räuber, kennt keine Gnade. Na, ja! Manchmal schon. Der Mann mit dem Donnernamen Hotzenplotz nimmt sich, was er begehrt. Sogar Großmutters Kaffeemühle, die beim Kurbeln so schön „Alles neu macht der Mai“ spielt. Kasperl und Seppel ziehen los, um dem breitbeinigen Räuberhauptmann mit Schlapphut, Feder und Pistole das Handwerk zu legen. Gemeinsam mit Wachtmeister Dimpfelmoser und Zauberer Petrosilius Zwackelmann triumphieren sie am Ende im Namen der Gerechtigkeit. Happy End! Wie schön. Als Babyboomer habe ich den Räuber Hotzenplotz geliebt. Ausgedacht hat sich diese Geschichte ein gemütlicher Mann mit vertrauensvoller Stimme: Otfried Preußler. Mit seiner „Der-Die-Das-Trilogie“ – Der Räuber Hotzenplotz (1962; Trilogie), Die kleine Hexe und Das Kleine Gespenst verkaufte er über 15 Millionen Bücher in 55 Sprachen und 275 Übersetzungen. Natürlich verschlang ich auch Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf, Kater Mikesch, Emil und die Detektive, Krabat, Momo…

 

 

Kinder brauchen Geschichten, steht auf dem Grabstein von Otfried Preußler. Hochgeehrt verließ der Autor neunzigjährig unseren Planeten. Er hinterließ Bücher, Filme und bei Kindern viele Erinnerungen. 22 Schulen tragen seinen Namen. Eine, die Otfried-Preußler-Schule in Pullach, will nun seinen Namen ablegen. Grund sei die verschwiegene NS-Vergangenheit des Kinderbuchautors. Er könne kein Vorbild mehr sein. Eine „große Mehrheit“ der Schüler-, Lehrer- und Elternschaft habe laut Schuldirektor nach fünfjähriger Debatte die Umbenennung beschlossen. Potzblitz, würde der Räuberhauptmann sagen: Preußler – ein Betrüger? Das geht auf keine Kuhhaut.

Wer war Otfried Preußler? Geboren 1923 in Reichenbach, Sudetenland. Heute Liberec, Tschechische Republik. Geburtsname: Syrowatka. Seine Oma erzählt wunderbare böhmische Geschichten. Als Jugendlicher verfällt er „dem braunen Hexer“, wie er selbst schreibt. Preußler wird HJ-Oberjungführer. Mit siebzehn schreibt er 1940 seinen ersten Roman „Erntelager Geyer“ Der Text über Pimpfe, Lagefeuer und Kameradschaft wird 1944 veröffentlicht. Mit achtzehn tritt er in die NSDAP ein, wenig später kämpft er als Kompanieführer an der Ostfront, erhält das Eiserne Kreuz II. Klasse. 1944 gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Typhus, Malaria und Fleckfieber überlebt er in seiner fünfjährigen Gefangenschaft wie durch ein Wunder nur dank einer russischen Ärztin. Abgemagert auf vierzig Kilo verfasst er im Lager Gedichte und kriegskritische Theaterstücke. Er sagt, er sei dem falschen Führer gefolgt.

 

Otfried Preußler im Sommer 1941. Als Siebzehnjähriger hatte er ein Jahr zuvor „Erntelager Geyer“ geschrieben. Das NS-tümelnde Buch erscheint 1944, wird nach dem Krieg in Ost und West aussortiert.

 

Neuanfang 1949 im bayrischen Rosenheim. Das Land liegt noch in Trümmern. Seine neue Heimat wird der Chiemgau. Bis 1970 arbeitet er als Volksschullehrer in Klassen mit bis zu 52 Kindern. Generationen von Schülern folgen begeistert seinen Geschichten, die er gerne im Unterricht erzählt. Denn: Langweilig darf es nicht sein.  Nebenbei veröffentlicht er im Bayrischen Rundfunk. Fleißig füttert Preußler in diesen Jahren „das große gefräßige Tier“, seinen Papierkorb. Darin verschwindet auch seine Hitler-Zeit, wie bei den meisten Nachkriegsdeutschen. Nur einmal erwähnt Preußler das Erntelager-Buch in einem Brief an die Künstlergilde Esslingen. Ein ganzes Jahrzehnt feilt Preußler an seinem Jugendroman Krabat. Die Geschichte eines vierzehnjährigen sorbischen Waisenjungen. Der Müllerbursche in der Oberlausitz lehnt sich im Großen Nordischen Krieg gegen seinen Meister auf. Preußler: „Mein Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Das 1971 erschienene Buch wird ein Bestseller.

 

Otfried Preußler (1923-2023) im Jahre 2010. Seine Stücke zählen zu den meistgespielten im deutschsprachigen Raum. Foto: Markus Schlaf

 

Nach Preußlers Tod 2013 mehren sich kritische Stimmen. Dem „Märchenonkel“ werden Hang zu starken Autoritäten und eine heile Welt vorgeworfen. Eine Medienexpertin stört, „dass er einen Standpunkt vertritt, der eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.“ Schlechte Zeiten für Märchen aus früheren Zeiten? Preußler ergeht es nun wie Astrid Lindgren, Michael Ende (Jim Knopf), Erich Kästner oder Hans Fallada. Der Zeitgeist wirft ihnen falsche Begriffe vor. Die hypersensible Social-Media-Community legt Wert auf Achtsamkeit, Reinheit und Tugendhaftigkeit. Sensitive Reading ist das neue Zauberwort. Der Zeitgeist der Nachgeborenen kommt offenbar mit widersprüchlichen und wandelbaren Menschen nicht mehr klar.

 

Räuber Hotzenplatz. Er brachte es barfuß und mit Räuberhut auf drei Bände und Millionen verkaufter Exemplare.

 

„Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt“, notierte Aufklärer Immanuel Kant aus Königsberg. Auch er gilt als kontaminiert. Er sei ein Rassist, lautet der Vorwurf.  Was heißt das? Muss dann Günter Grass, der seine Zeit als Heranwachsender in der Waffen-SS lange verschwiegen hat, nicht posthum der Nobelpreis aberkannt werden? Ist Otfried Preußler mit seiner NS-Jugendschwärmerei heute untragbar? Und: Gibt es lupenreine Biografien, unbefleckte Lebensläufe? Sollen „gefährliche Stellen“ ausgetauscht und entschärft werden, damit dadurch „zeitgemäße, korrekte“ Literatur entsteht? Wer entscheidet das?

So viele Fragen. Was denken Sie?

 

Transparenz-Hinweis

Mein Vater und mein Schwiegervater (beide Jahrgang 1928) waren als Flakhelfer an der Front. Beide gerieten sechzehnjährig in Gefangenschaft. Der eine einige Monate in Frankreich in einem ehemaligen deutschen KZ, der andere drei Jahre lang an der Wolga in sowjetischen Lagern. Diese Erfahrung hat ihr Leben geprägt – bis zuletzt.

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Tapfer in den Tod?

Stille und mutige Menschen haben es schwerer als umjubelte Heldenfiguren, die ans Licht drängen. Frauen und Männer, die wenig Aufhebens machen, die um der Sache willen tätig werden. Hilde und Hans Coppi sind stille Helden. Sie Zahnarzthelferin, er einfacher Dreher. Ein verliebtes junges Paar in Zeiten des Faschismus. Sie ist schwanger. Beide schließen sich einer Gruppe Gleichgesinnter an, die in den ersten erfolgreichen Kriegsjahren der Nationalsozialisten nicht schweigen wollen. Während die NS-Propaganda von allen Fronten Siegesmeldungen verkündet, wagen in Berlin rund 150 Menschen kleine Widerstandsaktionen. Sie kommen aus allen Schichten, kleben Flugblätter an Hauswände, hören ausländische Sender ab, schicken Funksprüche nach Moskau. Die Gestapo nennt sie „Rote Kapelle“. Nach Verrat werden deren Mitglieder bis 1943 nahezu alle festgenommen und hingerichtet. Ihr Aufbegehren – ein sinnloser Akt?

 

Hilde Coppi. (1909-1943)

 

Hilde Coppi ist Anfang dreißig. Mit ihrer großen Liebe Hans verbringt sie herrlich unbeschwerte Sommertage an märkischen Seen. Hilde ist eher zurückhaltend, beobachtend. Ihr Spitzname: die „Gouvernante“. Als sie bemerkt, dass Hans in ihrer Datsche heimlich Funksprüche nach Moskau absetzt, macht sie mit. Die werdende Mutter hört „Radio Moskau“ ab, um Gefangenenmeldungen weiterzugeben, hinterlegt in der S-Bahn Flugblätter. Unspektakuläre Formen von Widerstand gegen das allmächtige NS-System. Die beiden werden denunziert. Die schwangere Hilde kommt im September 1942 ins Frauenzuchthaus an der Barnimstraße. Sie bekommt ihr Kind im Gefängnis und nennt den Jungen Hans wie ihren Mann, der im Dezember 1942 unter dem Fallbeil stirbt. Auch Hilde wird wegen „Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen“ zum Tode verurteilt. Ihr Gnadengesuch lehnt Hitler im Juli 1943 persönlich ab.

 

Hilde Coppi. Foto: Stiftung 20. Juli

 

In der Todeszelle schreibt sie an ihre Mutter Hedwig Rake: „Du wirst dir denken können, dass ich keine schönen Stunden hinter mir habe. Ein Glück, dass das kleine Hänschen noch bei mir ist, in seinem Interesse muss ich mich sehr zusammennehmen. Ach, Mama, der Gedanke an die Trennung von meinem Kinde will mich fast verzweifeln lassen. Ich glaube für eine Mutter kann es keine größere Strafe geben, als sie von ihrem Kind zu trennen.“ Die Hinrichtung wird um einen Monat verschoben, damit sie ihren kleinen Hans abstillen kann. Am 5. August 1943 wird Hilde Coppi in Plötzensee mit zwölf weiteren Frauen der „Roten Kapelle“ enthauptet.

Andreas Dresen hat dem Ehepaar Coppi ein filmisches Denkmal gesetzt. Liv Lisa Fries aus „Babylon Berlin“ spielt „In Liebe, deine Hilde“ eine junge Hilde, die ihrem Gewissen folgt. Der sensible, kammerspielartige Film geht unter die Haut. Selbst das abgebrühte Berlinale-Pressepublikum zückt Taschentücher. Dabei werden Hilde und Hans Coppi nicht verklärt. Sie bleiben nahbar, zuversichtlich bis verzweifelt, mutig wie resigniert. Bei den Verhören fehlen übliche Klischees. Es wird nicht ständig gebrüllt. Der Film konzentriert sich auf die kalte Mechanik eines Apparats, der jeden Widerspruch verfolgt. Aufseherinnen, Ärzte, Schwestern, Vernehmer und Richter sind Rädchen – „Das ist Vorschrift!“ – im Getriebe eines Systems, das von millionenfacher Anpassung getragen wurde. Dresens filmische Umsetzung öffnet Raum für eigene Gedanken: Wie hätte ich mich verhalten?

 

https://youtu.be/c8JrsRS6O4s?si=ootPHuVBrS6A09gW

 

Von den geheimen Funksprüchen nach Moskau kam nur ein einziger durch. Die Reichweite des Funkgeräts war zu kurz. Die Aufrufe zum Widerstand in Museen oder an Wänden wurden getilgt, Flugblätter vernichtet, als wäre nichts geschehen. Nach dem Krieg wurde das hingerichtete Ehepaar Coppi in der DDR als Widerstandskämpfer gefeiert, im Westen lange als kommunistische Verräter ignoriert, danach gesamtdeutsch vergessen. Der neue Dresen zeigt beklemmend, dass ihre Widerstands-Geschichte keineswegs Vergangenheit ist. Politischer Terror ist heute weltweit auf den Vormarsch. Und kommt uns immer näher. Sohn Hans Coppi Jr. lebt in den USA. Er warnt mit seinen 81 Jahren am Ende des Films, Geschichte möge sich nicht wiederholen. „Anstand lohnt sich immer“, betont Drehbuchautorin Laila Stieler. Wirklich? Auch wenn die Todesstrafe droht? Tja, noch eine Aufforderung zum Nachdenken.

 

 

Leider ging der berührende und pathosfreie Film über Hilde und Hans Coppi auf der Berlinale leer aus. Keine Preise, keine Erwähnung, auch nicht für die hervorragende Lena Liv Fries. Das war fast erwartbar. Berlinale-Jurys favorisieren eher zeitgeistige, cineastische Außenseitersujets. Da haben es heimische stille Helden und deren Geschichten über Anstand, Mut und Tapferkeit schwer. Am 17. Oktober 2024 kommt „In Liebe, Eure Hilde“ in die deutschen Kinos.

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Berlins längste Röhre

Fehrbelliner Platz. „Einsteigen, bitte!“ In der U7 kannst du Berlin hautnah erleben. Der alltägliche Untergrund. Authentisch, ungeschminkt, ruppig und überraschend wie die Stadt. Willkommen in Berlins Bandwurm U-Bahn von Spandau nach Rudow, unweit vom Flughafen BER. Die U7 ist die längste unterirdisch verlaufende U-Bahn-Linie Deutschlands. Eine Zeit lang war sie sogar der längste Tunnel der Welt. Der Spaß kostet 3.50, – im Einzelfahrschein. Die Strecke ist 32 Kilometer lang, zählt vierzig Stationen. Die Fahrt durch die längste Röhre der Hauptstadt dauert eine knappe Stunde.

 

 

„Zurück bleiben!“ In vollen Zügen riecht es nach Alk, Schweiß, Parfum, kaltem Rauch und immer häufiger nach Armut. An den Haltestellen kannst du rasch die sozialen Milieus oberhalb am Tageslicht erkennen. Auf das piefige Spandau, folgen die bürgerlichen Enklaven Charlottenburg und Wilmersdorf. Das lebendige Schöneberg endet abrupt im dunklen Drogenloch U-7-Yorckstraße in Kreuzberg. Weiter geht die Reise im 5-Minutentakt zum sogenannten „Gazastreifen“, der spätestens am Hermannplatz beginnt, mit allem Licht und Schatten, was Berlin zu bieten hat. Schließlich wird es Richtung Rudow wieder etwas entspannter und braver.

„Hey, von der Tür weg. Sonst mach ich Pause!“ dröhnt es aus dem Lautsprecher. Die U7 transportiert die ganze Welt aus über 150 Nationen. Berufstätige, Pendler, Schüler, Studis, Rentner, Selbstdarsteller, Paradiesvögel, Touris, Bettler, Obdachlose, alles ist an Bord. Alle vier, fünf Stationen kann jemand mit Programm zusteigen. Text ungefähr so: „Tach. Ich bin Rudolf, unfreiwillig auf der Straße. Ich weiß, ich nerve. Ich weiß aber nicht, wo ich heute schlafen soll. Jede kleine Spende hilft. Ein Apfel, zwei Groschen, kann auch mehr sein, Ihre Pfandflasche. Bleiben Sie gesund. Gute Weiterfahrt.“ Nach seinem Kurzauftritt schiebt sich der Verzweifelte durch die stumme Menge. Sogleich kreist ein schmutziger Becher vor deiner Nase, du sollst etwas geben. Dein abgebrühtes Großstadt-Gesicht verhärtet sich zu Beton. Schon der dritte Schnorrer heute. Sollen doch andere etwas geben. Ich kann nicht alle in Not retten…“

 

 

„Knocking on heavens door…!“ Ein Australier quält seine Gitarre und die meisten Mitfahrenden. Er meint, Bob Dylan zu sein. Eine Migrantenmama brüllt in ihr Smartphone. Der Ton ist voll aufgedreht. Ein Alki ist eingeschlafen. Er lümmelt auf der Bank in voller Länge. Plötzlich steigen zwei Aufpasser vom Ordnungsdienst zu. „Geschlafen wird hier nicht“, sagt der Kräftigere in gebrochenem Deutsch und rüttelt den Mann wach. „Lass ihn doch pennen“, kontert eine junge Frau mit lila rot gefärbtem Haar. „Er stört doch keinen.“ Wortlos schnappen sich die beiden Bodybuilder-Jungs den verkaterten Kerl und bugsieren ihn beim nächsten Halt auf den Bahnsteig. Sie gestikulieren noch: „Bruder. Dort Ausgang. Tschüss!“

507 Gewalttaten verzeichnet die Statistik in einem Jahr. Die U7 liegt auf Platz zwei in der Hauptstadt. Schlimmer ist nur noch die U8. Selbst die kräftigen Kontrolletis fürchten Messerattacken. Stiche in den Oberkörper zählen bei Gericht als „schwere Körperverletzung“. Stiche in den Oberschenkel dagegen als „versuchten Mord“, wegen der Hauptschlagader. Wen sie ohne Ticket antreffen, dem sagen sie: „Wenn du nichts zahlst, musst du Strafe, Bruder.“ Trotz alledem fahre ich fast täglich U-Bahn. Nicht aus Leidenschaft, aber sie bringt mich in der verstopften Stadt schnell ans Ziel. Trotz aller Vorfälle und Schlagzeilen fühle ich mich sicher. Wenn die U-Bahn nur nicht so oft ausfallen würde wie in jüngster Zeit. In späten Abendstunden kommt sie manchmal gar nicht mehr. Die Gründe sind so vielfältig wie Berlin. Baustellen. Personalmangel. Grippewelle. Kabeldiebstahl. Oder das allseits beliebte: „Störungen im Betriebsablauf!“

 

 

„Nächster Halt: Fehrbelliner Platz.“ Meine Station an der längsten Berliner U-Bahn-Linie U7. Irgendwo in den langen Gängen streiten sich übermütige Kids. „Kriegst gleich was auf die Fresse.“ Ich ziehe den Kopf ein, eile die Treppen hoch, laufe den krumm gebogenen Bahnsteig der U3 entlang, Richtung Ausgang Hohenzollerndamm. An der letzten Bank ist der Stammplatz der Trinkerfraktion. Die Sterni-Flaschen kreisen. Im Beutel scheppern leere Pfandflaschen. Einer steckt sich seine selbstgedrehte Kippe an. „Hör uff! Roochen is verboten, weeßte doch!“ lallt sein Banknachbar. Der Kippenmann winkt ab: „Is mir doch egal!“

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„Wir werden mehr gehasst als Nordkorea“

Es ist zum Verzweifeln! Wie bei Kain und Abel nimmt das Drama im Nahen Osten seinen Lauf. Scharfmacher schüren das Feuer. „From River to the sea, Free Palastine!“ rufen pro-palästinenische Aktivisten. Ein kleines Häuflein jüdischer Gegendemonstranten kontert: „Free Palastine – from Hamas!“ Demos vor der FU Berlin mobilisieren ein Großaufgebot an Polizei. Hörsäle werden besetzt und Vorträge müssen abgebrochen werden. Ein jüdischer Student wird krankenhausreif geschlagen. Die studentische Mehrheit an den Unis schaut weg, die Uni-Leitung versucht sich rauszuhalten. Der FU-Präsident braucht eine Woche Zeit, um erst nach großem öffentlichen Druck ein dreimonatiges Hausverbot für den Schläger zu erteilen. Die Lautstarken bestimmen den Ton. Das Klima ist vergiftet. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober, seit dem Einmarsch der Israelischen Armee mit mehr als zwanzigtausend Toten, stellt sich die Frage, was wir tun könnten. Zum Beispiel David Grossman zuhören, dem großen alten Mann der israelischen Literatur.

 

David Grossman. „Frieden ist die einzige Option“.

 

„Wissen Sie, manchmal höre ich hier Leute sagen, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Deutschen uns im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Ich denke, das ist falsch, aber ich glaube, dass etwas Komplizierteres wahr ist und es mit dem zu tun hat, was man uns angetan hat. Wir sind deshalb nicht in der Lage, wirklichen Frieden zu schließen. Das Gefühl des tiefen Misstrauens und der Verletztheit muss geheilt werden, bevor wir in der Lage sind, Frieden mit den Palästinensern zu schließen.

Israel kann kritisiert werden und sollte manchmal sogar kritisiert werden. Aber es sollte nicht delegitimiert werden. Es sollte keine Zielscheibe für Stimmen sein, die dazu aufrufen, Israel zu vernichten. Wir hören es immer wieder, Massendemonstrationen, Tausende oder Hunderttausende von Menschen, die den Tod Israels fordern, die Zerstörung. Kein anderes Land der Erde hat solche Stimmen gegen sich. Nicht einmal das schreckliche, grausame Nordkorea, nicht der Irak zur Zeit Saddam Husseins, nicht Russland, das die Ukraine vergewaltigt. Niemand sagt, lasst uns Russland abschaffen, lasst uns den Irak abschaffen. Diese Rufe gibt es nur, wenn es um Israel geht.

Die moralische Verantwortung der Deutschen gegenüber Israel ist es, die Legitimation zu betonen und daran zu erinnern, auf die Nuancen der Situation zu achten. Es gibt so viele Nuancen. Jeder, der Ihnen sagt, dass er oder sie das Pro­blem sofort lösen könne, weiß nicht, wovon er spricht. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir anfangen, uns zu erholen. Von der langen Besatzung und von dem schrecklichen Massaker. Und noch einmal, ich vergleiche die beiden nicht. Ich denke, dass beides zwei völlig verschiedene Realitäten sind.“

 

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023. Das Wohnhaus der Familie Babis in Nir Oz. Die Großeltern wurden erschossen. Mutter Shiri (33) und Vater Yarden Bibas (34), ihre Kinder Ariel (4) und Kfir (damals 10 Monate) wurden entführt. Sie sind verschollen.

 

Gaza-City nach israelischen Bombardierungen. Ende Oktober 2023. Bisher kamen über 27.000 Menschen ums Leben. (Stand: Mitte Februar 2024 nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde)

 

Frieden ist die einzige Option, so heißt das neue Buch von David Grossman. Der 70-jährige fragt: „Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“ Der Schriftsteller verlor 2006 seinen zwanzigjährigen Sohn Uri im zweiten libanesischen Krieg. Grossman hielt im Oktober 2023 in Israel die Trauerrede für die Angehörigen des Hamas-Massakers.

 

Uri Grossman (1985-2006)

 

Über den frühen Tod seines Sohnes schrieb er diese Zeilen:

Aus der Zeit fallen…

„Wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter
am Tag der Gleiche sich treffen,
so mischen Tod und Leben sich in mir
mit einer Präzision und Weisheit,
die mir – Elendigen –
zuteil wurde zum Preise deines Lebens
(welch bitteres, abscheuliches Geschäft!) –
Und doch, mein Mädchen, ich muss es dir sagen,
sonst werd ich verrückt –
zum ersten Mal weiß ich jetzt
nicht nur, was Tod,
sondern auch was das Leben ist.“

 

 

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An der Grenze

Kann Kino die Welt verändern? Ja, manchmal für ein paar heitere Stunden. Ganz selten kann ein Film eine Gesellschaft aufrütteln oder ein ganzes System von Gewissheiten durchschütteln. Das ist Zielona Granica (Green Border) gelungen. Es ist der neue Spielfilm von Agnieszka Holland, der großen alten Dame des Kinos. Zweieinhalb Stunden emotionales Kino, genauer und aufwühlender als die meisten TV-Dokus oder Internetschnipsel zusammen. Wie alle großen Würfe ist die polnische Produktion Green Border höchst umstritten: Machwerk für die einen, Meisterwerk für andere. Bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 mit Preisen überschüttet, in Polen attackiert und von der damaligen Regierung als NS-Propaganda diffamiert.

 

 

Die Geschichte spielt im Beloweschen Wald, einem der letzten Urwälder Europas an der belorussisch-polnischen Grenze. Im Sommer 2021 organisierten Putin und Lukaschenko eine Route für Armutsflüchtlinge aus aller Welt, schleusten Abertausende Menschen aus aller Welt, um sie als Waffe gen Westen zu schicken. Die überforderten polnische Grenzer schickten auf Geheiß ihrer nationalkonservativen PIS-Regierung die Menschen postwendend zurück. Die Folge: Brutale Push-Backs an der EU-Außengrenze, in Einzelfällen bis zu fünf- oder sechs Mal. Die gesamte Grenzregion wurde militarisiert. Eine Sperrzone errichtet. Flüchtlinge wurden hin- und hergetrieben, abgeschnitten von jeder Hilfe. Der Alltag: Tritte, Schläge, Schusswaffengebrauch, Pfefferspray, Ausziehen bei Leibesvisitationen, Verletzungen, Unterkühlung, Erfrieren. Bisher wurden 55 Tote registriert, über dreihundert Menschen gelten bis heute als vermisst. Die NGO-Hilfsorganisation „Grupa Granica“ konnte rund zehntausend Menschen in Not helfen. Mittlerweile hat Polen für vierhundert Millionen Dollar einen nahezu unüberwindbaren fünf Meter hohen Zaun gebaut.

„Die Realität an der Grenze ist härter als im Film, das Drama da draußen ist noch größer“, sagt die polnische Journalistin Anna Alboth. „Wie in jeder Gesellschaft gibt es diejenigen, die Leben retten, und diejenigen, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmern.“ Regisseurin Agnieszka Holland erzählt das Flüchtlingsdrama in ihrem Heimatland aus verschiedenen Perspektiven. Da sind: Bashir und Amina, sowie deren syrische Familie, die vor Krieg und Willkür nach Schweden flüchten. Jan, der sensible Grenzschützer. Seine Frau ist schwanger. Er baut ein Haus und will seinen Job nicht verlieren. Julia, die erschöpfte Psychotherapeutin. Sie will sich an ihrem Feriensitz neu erfinden, gerät in den Strudel der Ereignisse und entscheidet sich zu helfen.

 

Agniezska Holland (links) mit Schauspielerin Maja Ostaszewska (Julia) Ende Januar 2023 bei der Berliner Premiere.

 

Die vielfach ausgezeichnete 75-jährige Agnieszka Holland sagte bei der Premiere in Berlin, sie könne keine Dokus machen. Deshalb die Geschichte als Fiktion. Was ein Glück! Gerade der Spielfilm entwickelt die Kraft, hinter Mauern von Vorurteilen und Klischees zu schauen: Wer sind die Geflüchteten? Die Grenzer? Die Helfer? Der Film differenziert und holt ein Stück Wirklichkeit aus dem Hinterhof Europas auf die Leinwand. Regisseurin Holland: „Wir dürfen unsere Menschlichkeit nicht verlieren. Die Schutzimpfung durch den Holocaust hat an Wirkung verloren.“ Ihr Film hat eine Menge bewegt. Er war der zweiterfolgreichste Streifen des letzten Jahres in Polen, er löste leidenschaftliche Debatten aus, die Jarosław Kaczyński-Regierung wurde abgewählt. Jetzt läuft Green Border in Deutschland. Agnieszka Holland: „Europa hat Angst. Wir haben keine Antworten auf Krieg, Klimakrise und Migration. Die einzige Antwort sind Mauern.“

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Bye, bye Boomer

Karen Heumann ist eine kluge, erfolgreiche Werbefrau. Sie hat alles erreicht. Die gebürtige Wetzlarerin ist eine von Millionen Baby-Boomern. Vor kurzem ist sie als Vorständin mit 58 Jahren vorzeitig in Ruhestand gegangen. Warum? Sie fühle sich zu alt. Außerdem sei es Zeit, Jüngeren Platz zu machen. Ihr Gefühlshaushalt? „Oh Gott. Jetzt muss ich ohne meine Droge auskommen. Und das ist nicht schön. (sie lacht) Ich hatte mir ein Feriengefühl vorgestellt, aber zunächst war es eher ein Verlustgefühl, eine Mischung aus Liebeskummer und Ratlosigkeit.“ In diesem Jahr gehen offiziell 1.175.870 Menschen des Jahrgangs 1958 in Rente. Einer von ihnen bin ich. Die Babyboomer werden durch 719.250 Menschen des Jahrgangs 2003 ersetzt. Die Zahlen beruhen auf Mittelwerten. Nicht wenige haben sich längst beruflich verabschiedet. Weil sie nicht mehr können oder wollen. Am Ende bleibt eine Lücke von 400.000 Erwerbsfähigen. Take Over, Generation Z, ihr werdet gebraucht!

 

Karen Heumann. 2019.

 

Danke Boomer, schrieb die ZEIT im letzten Sommer. Zur „besten Generation aller Zeiten“ zählen 21,75 Millionen Nachkriegskinder (geboren von 1946-1964). Es sind die Glücklichen, die ein Leben lang kein Hunger, keine Not und keinen Krieg erlebten, sondern stetig Mehr von allem erfuhren: Besitz, Chancen, Fortschritt, Wohlstand. Sie waren Teil der 68er-Revolte, von Willy Brandt, Hippies, Punk und Disco. So gesehen haben die Boomer in ihrer Jugend die komplette kulturelle Grundausstattung der westlichen Moderne eingerichtet – von den Beatles über Alice Schwarzer bis zu Madonna. Ohne Boomer kein I-Phone, kein Techno, kein Internet.

 

The times they are a-changin…

 

Eine von den 22 Millionen Boomern ist Annette Humpe. Die einstige Frontfrau von Ideal ist mittlerweile 73 Jahre alt. Vor über vierzig Jahren performte sie „Deine blauen Augen“ mit übergroßer Kapitänsmütze.  „Der ganze Hassel um die Knete/macht mich taub und stumm/Für den halben Luxus/Leg ich mich nicht krumm/Nur der Scheich ist wirklich reich/und deine blauen Augen machen mich so sentimental.“ Ein Hit auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle. Die Boomer sind die vielleicht kreativste, kooperativste und friedlichste Generation, die in den vergangenen zweihundert Jahren gelebt hat. Kaum eine Generation hat so viel Gutes und so wenig Böses hervorgebracht. Bleibt es so?

 

 

„Zu reich, zu satt, zu wenig Einsatz für die Umwelt“, monieren Vertreter der Generation Z. Zu ihnen zählen 11,57 Millionen Menschen in Deutschland, die seit 1996 das Licht der Welt erblickt haben. Boomer kontern die Kritik der Jungen mit Sprüchen wie: „Von nichts kommt nichts. Früher haben die Leute härter gearbeitet. Gendern zerstört die deutsche Sprache. Der Klimawandel kommt schon nicht so schlimm.“ Statt Revolte zu machen, kümmern sich die ergrauten Boomer heute eher um das Verlegen von Stolpersteinen oder die Buchung der nächsten Hurtigruten-Reise. Und die Jungen? Schimpfen über die Ignoranz der Alten und erholen sich dank Mamas Reisezuschuss beim Ayurveda-Seminar in Spanien. Den Sound für alle liefert Annette Humpe: „Deine blauen Augen machen mich so sentimental, so blaue Augen. Wenn du mich so anschaust, wird mir alles andre egal, total egal.“

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Miteinander reden?

Die Republik ist in der Krise. Die Demokratie in Gefahr. Bei den letzten Wahlen verliert die regierende SPD deutlich Wählerstimmen. Ihre wankelmütige Vierer-Koalition war nach nur zwei Jahren auseinandergebrochen. Die Rechten feiern einen überwältigenden Aufschwung. Ihr Anteil schnellt hoch: von 2,6% auf 18,3% Zustimmung. Ein Plus von 15,7%. Achtung! Es handelt sich um den 18. September 1930. In Berlin wie in der gesamten Republik ist die Stimmung aufgeheizt. Ende Oktober 1930 organisiert der österreichische Dramaturg Arnolt Bronnen ein brisantes Radiogespräch für die „Berliner Funkstunde“. Thema: „Nationale und Internationale Kunst“. Der berühmte Theatermacher und überzeugte Kommunist Erwin Piscator soll sich mit dem ehrgeizigen NS-Demagogen Joseph Goebbels zu einem Streitgespräch treffen.

 

Erwin Piscator (1893-1966), Theaterlegende 1929. „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige husten“.

Beide Männer sind misstrauisch. Ein Vorgespräch wird vereinbart. Das auf fünfzehn Minuten anberaumte Treffen dauert am Ende mehrere Stunden. Es geht um Schiller und Goethe, um Mozarts Musik. Heftig diskutiert wird die Frage, ob Kunst „national“ (Goebbels) oder „international“ (Piscator) ausgerichtet zu sein habe. So jedenfalls ist es in einem Protokoll nachzulesen, das Goebbels später verfasst. In seinem Tagebuch notiert G.: »Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche. Es war sehr amüsant und die ganze Bronzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht.«

 

Joseph Goebbels (1897-1945), als Propagandachef der Nationalsozialisten vor dem Reichstag 1932.  „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich den Revolver“.

 

Die Kontrahenten kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. Piscator seinerseits notiert, im anderen „ein Menschengesicht“ zu erkennen, „trotz des widerborstigen inneren Widerspruchs, trotz Unbehagen, Abwehr, physischer Widerwärtigkeit. Er gefiel mir plötzlich mehr, als er mir missfiel, er missfiel mir weniger, als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die, über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren.“

 

Wahlkampfplakat der NSDAP 1930.

 

Zum Zeitpunkt ihres bizarren Treffens ist Goebbels Gauleiter der NSDAP für Berlin. Der Mann fürs Grobe, der begnadete Hetzer („Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen“). Seit dem NS-Wahlerfolg sucht er auffallend Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen, um gemäßigt und wählbar zu wirken. Piscator fühlt sich getäuscht, als ihm später Goebbels Protokoll vorgelegt wurde: »Er hatte alle meine grundsätzlichen Argumente sich selbst zu eigen gemacht, so als ob er sie erfunden und zugleich widerlegt hätte.«

 

Wahlkampfplakat der SPD, 1930.

 

Nach der legendenumwobenen Begegnung im Berliner Rundfunk, so eine weitere Anekdote, fragt Goebbels. „Piscator, wollen wir zusammen essen gehen?“ Der Angesprochene setzt sein charmantestes Lächeln auf: „Aber ich gehe doch nicht mit Ihnen über die Straße, Herr Dr. Goebbels!“ Ach, ja. Die Sendung fand nie statt. Dennoch gibt es eine Fortsetzung, ein letztes Kapitel: Goebbels bittet den großen Theatermann im Frühjahr 1935  aus seinem Moskauer Exil zurückzukehren. »Ich käme gerne zurück«, lässt Piscator ausrichten, »und zwar sofort — wenn er nicht mehr da wäre.«

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Lass Dir nicht alles gefallen

Die letzten Jahrzehnte lebte Werner Fischer in seinem selbstgewählten Exil. Ein Leben im Hölderlin-Turm, gut versteckt in einer Dachetage über dem Jüdischen Friedhof am Kollwitzplatz. Hölderlin verzweifelte in seiner Matratzengruft, ähnlich wie Nietzsche: „Warum schläft denn nur bei mir der Stachel in der Brust?“ Des Dichters Antwort: „Dunkel wird´s und einsam unter dem Himmel. Wie immer – im ich.“ Wer ist nun Werner Fischer? Nie gehört! Das sagen viele. Aber manche erinnern sich. Fischer gehört zu den wenigen Mutigen in Ost-Berlin, die in aussichtsloser Situation versuchten, Verhältnisse zu ändern, die scheinbar in Beton gegossen zu sein schienen. Er war kein Anpasser, Mitläufer oder Opportunist. Fischer arbeitete sich in der DDR an den Mächtigen ab, die mit Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung reagierten. Sein Vergehen: er träumte den Traum von einer besseren DDR. Nach der Wende musste er keinen Widerstand nachholen. Aufarbeitung interessierte ihn nicht. Den Gratismut derjenigen, die immer auf der richtigen Seite sein wollen, verachtete er.

 

Werner Fischer. 1950-2023

 

Aus Werner Fischers unvollendeten Aufzeichnungen

Januar 1988. Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Vorwurf: „landesverräterische Agententätigkeit.“

„Ich hatte Angst vor dem Moment, indem die Zellentür hinter mir ins Schloss fallen würde. Wirklich gefangen zu sein, erzeugte schon in meiner Fantasie eine Panikattacke. Doch ich blieb ganz ruhig. Ich konzentrierte mich auf eine nüchterne und neugierige Sicht meiner neuen Situation, an der ich nichts ändern konnte, außer dass ich eine Methode finde, die mich stabilisiert. Ich redete mir ein: Du hast Observationen erlebt, Telefon- und Postüberwachung, etliche Stunden und Tage hast Du nach Festnahmen in Verhören verbracht. Jetzt konzentriere dich auf etwas, was du noch nicht kennst. Sieh dir genau alles an.  …

Ich war inzwischen in eine Zwei-Mann-Zelle verlegt worden. Paul, so stellte er sich jedenfalls vor, war von nun an mein Zellengenosse. Ein eifriger, devoter Typ von etwa dreißig Jahren, der angeblich wegen versuchter „Republikflucht“ hier einsaß. Seit meiner Zeit als Rohrleitungsmonteur auf Großbaustellen der DDR und besonders seit meiner Armeezeit hatte ich große Schwierigkeiten, mit mehreren Männern mein Zimmer und damit meine Intimsphäre zu teilen.  …

Er machte sich sogleich daran, das Klo- und Waschbecken zu reinigen. Die Notdurft würden wir verrichten, wenn der andere im Verhör sitzt. Es funktionierte gut. Gemeinsam hielten wir uns mit Gymnastik fit. … Wir teilten unsere Zigaretten und spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Mühsam brachte ich ihm Schach bei. Als es anfing Spaß zu machen, musste ich ihn verlassen. Die Zelle, das Gefängnis und das Land. …

 

Berlin in den achtziger Jahren. Blick auf die Hauptstadt der DDR.

 

Jeden Tag wurde ich zu den Vernehmungen aus der Zelle in einem Seitenflügel der Untersuchungshaftanstalt geführt. Vormittags und nachmittags. Seitenlange Protokolle tippte Burckhardt (Anm. der Vernehmer) in seine Schreibmaschine. Jedes Mal weigerte ich mich, sie zu unterschreiben. Er nahm nur halbherzige Versuche, mich zum Unterschreiben zu veranlassen. Ich hatte auch in früheren Vernehmungen nie etwas unterschrieben. … Ich hatte nicht den Eindruck, dass Burckhardt, so richtig von seinem Auftrag überzeugt war. Er wirkte zu leidenschaftslos. Es konnte aber auch Taktik sein. Als ich ihm einmal sagte, dass es ziemlich unerheblich sei, was er mich frage und was ich antworte, letztlich werde die Entscheidung über den Ausgang dieser Sache an ganz anderer Stelle entschieden, hob er nur die Schultern. Im Übrigen sei das Ministerium für Staatssicherheit keine geeignete Institution, mit der man die anstehenden politischen Probleme in unserem Land klären könnte, es sei sogar ziemlich überflüssig und gehöre aufgelöst, diktierte ich ihm in die Maschine und auf Band. Das Tonband lief während aller Vernehmungen. Diesen Absatz im Protokoll habe ich unterschrieben.“

 

Werner Fischer mit Bärbel Bohley und Oskar

 

Werner Fischer. Am 29. März 1950 geboren. 1964 weigerte er sich der FDJ beizutreten und wurde nicht zum Abitur zugelassen. Lehre als Rohrleitungsmonteur. Von 1968 bis 1971 Wehrdienst bei den Grenztruppen. Ab 1972 Berliner Metropoltheater.  Ab diesem Zeitpunkt wird Fischer überwacht. Die Observationen der Staatssicherheit, darunter IM-Berichte der Mutter, wachsen bis zum Ende der DDR auf 67 Bände an.

1985 Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“. 1986 Berufsverbot. Intensive Kontakte zur internationalen Friedensbewegung und zur Opposition in Osteuropa, insbesondere zur Charta 77. Verfasser und Unterzeichner zahlreicher Aufrufe. Januar 1988 Verhaftung Werner Fischers im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration wegen „landesverräterischer Agententätigkeit. Abschiebung zusammen mit Bärbel Bohley nach England.

Im August 1988 Rückkehr nach Ost-Berlin. Ab Oktober 1989 in der Berliner Gethsemane-Kirche Mitorganisator der unabhängigen Untersuchungskommission zu polizeilichen Übergriffen und Verhaftungen. 1990-1992 Beauftragter zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. 1992-1994 Pressesprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen. Bekennnender Fan der Rolling Stones. Ende November 2023 fand er seine Ruhe.

 

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Bauern, Bonzen und Bomben

Schleswig-Holstein vor knapp hundert Jahren. Ein lokaler Hilfsredakteur berichtet 1929 über Bauernproteste. Der Mann ist im Dauereinsatz. Im kleinen Neumünster protestieren rund dreitausend wütende Bauern mit Handstöcken und Knüppeln. Sie fordern ein Ende von Pfändungen und Steuernachzahlungen. Die Polizei versucht die Landvolkfahne mit Pflug und Schwert in ihren Besitz zu bringen. Die Bauern verteidigen ihr Symbol. Es gibt zahlreiche Festnahmen und mehrere Schwerverletzte. Der Reporter: „Ich sitze tatsächlich zwischen den Stühlen, bin vormittags gegen die Polizei und für Bürgertum und Bauern und nachmittags umgekehrt.“ Der Mann zwischen allen Stühlen heißt Rudolf Ditzen. Besser bekannt als Hans Fallada. Zwei Jahre später erscheint sein wegweisender Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“.

 

Kleiner Mann, ganz groß! Rudolf Ditzen alias Hans Fallada. 1893 – 1947. Kein anderer erzählte so ergreifend Geschichten aus dem wirklichen Leben. Foto Aufbau-Verlag

 

Ditzen hat es 1928 nach Neumünster verschlagen. Für einen Hungerlohn versucht er, Anzeigen zu verkaufen, verfasst außerdem kleine Lokalberichte. Aus nächster Nähe erlebt er mit wie Honoratioren ticken. Eine eine eigene Welt aus Denunziation, Staatsverdrossenheit und Intrigen. „Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für große auch.“ Hilfsredakteur Ditzen bekommt „Einblicke in Kämpfe um Macht, kleine Eifersüchteleien, Geldsackangst, Parteidisziplin, Geschrei, Drohungen und Lavieren“.

 

 

Den Bauern geht es schlecht. Zinsen und Steuern sind hoch. Viele Betriebe unrentabel. Seit Jahren treiben Kreditschulden und hohe Kosten vor allem kleine Höfe in den Ruin. Schlachtreifes Vieh muss weit unter Preis verkauft werden, weil die „Preise stürzen“. Als im November 1929 wieder einmal bei einem Schuldner zwei Ochsen gepfändet werden sollen, errichten Bauern brennende Barrikaden. Das Landvolk ist aufgebracht. Funktionäre wiegeln zum Kampf gegen das ungerechte System auf. Ein Teil der Bauernschaft radikalisiert sich. Es gibt Bombendrohungen und Anschläge. Die Obrigkeit verlangt: Hart durchgreifen.

 

Teil 1 Bauern. Bonzen und Bomben. Die Verfilmung von Egon Monk. 1973. Leider lässt die technische Qualität zu wünschen übrig, aber wer sich einlässt, wird belohnt.

 

Die Bauern verhängen einen Boykott gegen die Stadt Neumünster. Ein dreiviertel Jahr lang liefern sie kein Obst, Gemüse, Getreide, Butter oder Milch. Große Teile der Wutbauern beteiligen sich. Rechte Stimmungsmacher wiegeln das Landvolk zusätzlich nationalistisch, antisemitisch und völkisch auf. Eine Kraftprobe, von der später nur eine Partei profitiert: die NSDAP. Die Saat geht auf, die Hitlerpartei kommt an die Macht. Das war vor knapp hundert Jahren. Alles vergangen und vorbei?

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Willkommen 2024!

„Arm, aber sexy.“ Vor genau zwanzig Jahren platzierte der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seine Botschaft. Kommt nach Berlin! Zu diesem Zeitpunkt war die Hauptstadt pleite. Wowereit und sein Finanzsenator Thilo Sarrazin verkauften ihr Silber. Kommunale Betriebe, Immobilien und zehntausende Wohnungen, um der Schuldenkrise des CDU-Vorgängersenats Herr zu werden. Fortan hieß es also: arm, aber sexy. Der flotte Spruch des beliebten Partykönigs Wowereit entwickelte für das Stadtmarketing die Wirkung eines Sechsers im Lotto. Sexy zu sein passte wie der Deckel auf den leeren Topf. Zunächst kamen junge Kreative aus aller Welt, von Sindelfingen bis Sidney, von Castrop-Rauxel bis Santiago de Chile. Zehntausende Abenteurer, Künstler und Glücksritter fanden Berlin vor allem deshalb sexy, weil arm. Niedrige Mieten und Lofts, billige Döner und coole Clubs, alles war erschwinglich. Berlin, the place to be!

 

Immer ein wenig anders. Damenmode. Gesehen auf einem Berliner Wochenmarkt.

 

Derart angelockt folgten Projektentwickler und Makler, Investoren und Hedge-Fonds von Shanghai bis Stockholm. Schaut auf diese Stadt! Sie empfängt euch mit offenen Armen. Alles billig. Mit gigantischen Renditechancen. Das internationale Kapital ließ sich nicht zweimal bitten. Wohnblocks und ganze Straßenzüge wechselten die Besitzer. „Verwirklichen Sie Ihre Träume“, hieß die neue Parole. In angesagten Szenevierteln am Kollwitzplatz oder in der Kreuzberger Bergmannstraße wurden Bevölkerungsteile ausgetauscht. Die neuen Bewohner waren jung, dynamisch und wohlhabend. Sie brachten Hafermilch, Lastenfahrrad, kurz ein „neues urbanes Bewusstsein“ an die Spree. Volvo-fahrende Neu-Berliner übernahmen mit behelmten Kindern auf Spielplätzen die Altbauquartiere. Die Söhne und Töchter der Erbengeneration aus Heilbronn oder Hildesheim eroberten Viertel, wo früher neben Langzeitstudis Verkäuferinnen, Busfahrer oder Klempner wohnten.

 

Wohnen in Berlin? Improvisation, Glück und Ausdauer sind vonnöten. Foto: Constantin Grolig

 

Genau zwanzig Jahre nach dem Arm, aber sexy-Spruch präsentiert sich ein neues, anderes Berlin. Heute heißt es: In der Mitte neureich, sonst schlecht gelaunt. Günstige Ateliers, kultige Kellerclubs oder bezahlbare Stuckwohnungen sind längst unbezahlbar geworden. Selbst im eher windschattigen Bezirk Wilmersdorf, kein Hotspot der Hipster, wird eine neue 5-Zimmer-Eigentumswohnung für 3.7 Millionen Euro angeboten. Irgendein ein zahlungskräftiger Investor wird sich wohl finden, der für das „lukrative Investment“ Leerstand in Kauf nimmt oder die Wohnung im besten Fall für „hochpreisige“ Mieten anbietet. Das Kapital triumphiert. Die Politik schaut zu. Die neue Gründerzeit der letzten Jahre spülte eine kleine Zahl von Gewinnern nach oben, die große Gemeinde der Arm-aber-Sexy-Alteingesessenen jedoch hinaus ins Umland. Eigenbedarf ist das neue Schreckenswort. Berlin hat sich verändert.

 

Nichts Neues. Berlin am Limit. Das Anti-Kriegsmuseum musste 1930 wegen Geldsorgen geschlossen werden.

 

Und nun? Seit drei Jahren schmort das positive Votum eines Volksentscheids (57,6%) zur Enteignung der großen Wohnungskonzerne auf dem Abstellgleis. Nichts tut sich. Die Wunderformel „Bauen, bauen, bauen“ greift in Inflations- und Heizungsgesetz-Zeiten nicht. Im Gegenteil: Es werden nach wie vor nur wenige preiswerte Wohnungen gebaut. Auf einer Party kurz vor Silvester erzählte eine Frau von ihrem letzten Friseurbesuch. „Eine Stimmung wie 1989! Kurz vor dem Vulkanausbruch!“, legt sie los. Als ich als einziger mit westlichem Migrationshintergrund nachfrage, winkt sie nur ab: „Ach, weißte. Einfach alles läuft schief.“

Ich wünsche allen ein frohes, glückliches und gesundes 2024 mit einer sicheren Bleibe.