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Putins Geburtstag

Am 7. Oktober 2023 feiert Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen 71. Geburtstag. Vor siebzehn Jahren, am 7. Oktober 2006 fallen an seinem Ehrentag gegen 17 Uhr vier Schüsse in einem Moskauer Treppenhaus. Die Journalistin Anna Politkowskaja wird direkt vor ihrer Wohnung ermordet. Mit Hilfe einer Überwachungskamera kann der unmaskierte Täter gefilmt und identifiziert werden, doch er wird von der Polizei nie gefasst. Der Mord ist das tragische Ende einer jahrelangen Verfolgung durch russische Sicherheitsbehörden. Bis heute gilt Anna Politkowskaja als eine der wichtigsten Kritikerinnen von Putins Regime. 2004 schrieb sie: „Russland steht davor, in einem von Putin und seiner politischen Kurzsichtigkeit gegrabenen Abgrund zu stürzen.“

 

Als ihre Mutter im Kugelhagel starb, war Vera Politkowskaja 26 Jahre alt und schwanger. In ihrem Buch Meine Mutter hätte es Krieg genannt“, beschreibt sie Anna als mutige, traurig-entschlossene, aber auch bisweilen strenge Mutter „Mit schlaflosen Augen“ habe sie unerschrocken über den grausamen Tschetschenien-Krieg berichtet. Sie schilderte wie Soldaten und Offiziere, Banditen, vor allem aber gewöhnliche Menschen in den Fleischwolf des Feldzuges gerieten. Anna deckte Amtsmissbrauch, Willkür und Korruption in Armee, Wirtschaft und im russischen Alltag auf. Kritisch begleitete sie Putins Aufstieg zum uneingeschränkten Herrscher. Vera über ihre Mutter: „Sie war fast immer Überbringerin schlechter Nachrichten“. Die unbequeme Kassandra hat Putin keine Sekunde vergessen. Die bis zur völligen Erschöpfung arbeitende Journalistin wurde zur Staatsfeindin. Vera zieht mittlerweile eine deprimierende Bilanz: Ihre vielen Berichte hätten am Ende „nichts geändert“.

 

Mit Anna Politkowskaja in Leipzig auf der Buchmesse. März 2005. Foto: Christiane Munsberg

 

Auch den Ukraine-Feldzug, so schätzt Vera Politkowskaja, unterstützen 75% der Russen, obwohl längst massenweise Gefallene in Polyäthylen-Säcken von der Front zurückkehren. Im Volksmund heißen die Transporte „Fracht 200“. Der Siegeswahn werde den Menschen durch ständige Propaganda in den Staatsmedien eingeimpft So werde der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis täglich beschworen. Dieser Kult sei barbarisch und bizarr. Was bringt die Zukunft?  „Nichts wird besser, wenn Putin weg ist“, sagt Vera.

 

Banksy. März 2022.

 

Was wird aus Russland? Die Opposition ist zerschlagen, verhaftet oder im Ausland. Mehr als sechzigtausend Kreative, Künstler und Dissidenten hätten das Land verlassen, heißt es. Niemand kennt die genaue Zahl. Zudem: Außerhalb des Moskauer Autobahnrings beginnt das eigentliche Russland. In den Weiten des riesigen Landes leben viele Menschen in Armut, nicht wenige von Kindergeld und Schwarzarbeit. Die Not ist groß. Kinder gehen nicht zu Schule. Sie sammeln Pilze, Fallholz, Beeren und Altmetall. „Im Dorfladen gibt es nur noch Fusel, gestreckten Glasreiniger“, notiert die Journalistin Jelena Kostjutschenko in ihrem gleichfalls neuen Buch Das Land, das ich liebe. Jelena bewundert die ermordete Anna Politkowskaja. Die junge Journalistin berichtete wie ihr großes Vorbild für die Nowaja Gaseta. Die letzte unabhängige Tageszeitung Russlands stellte im März 2022 wenige Wochen nach Kriegsbeginn ihr Erscheinen ein. Seit Putins Überfall lebt Jelena Kostjutschenko im Exil. Genau wie Vera Politkowskaja. Sie sind zwei von Hunderttausenden, die für das andere Russland stehen.

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Typisch Berlin

Rotz an der Backe? Na, und! Was soll´s? – Wirklich große Städte haben ihre eigenen Gesetze. Die Melodie lautet: Anonymität, Massen, Tempo, Vielvölkergemisch. Es ist bunt, laut, schmutzig. Was geht? Große Klappe, schräge Typen, merkwürdige Gestalten. Ein Käfig voller Narren: Außenseiter, Glückssucher, Selbstdarsteller. Der Bühnenvorhang öffnet sich jeden Tag. Die hektische Metropole mitten in der märkischen Streusandbüchse pflegt seit einem Jahrhundert, seit den schmutzig-goldenen Zwanzigern den Mythos von Babylon Berlin. Die Stadt an der Spree spült die besten und die schlimmsten Seiten der Menschheit nach oben. Freiheit und Toleranz vs. Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit. Wer regiert die Stadt? Die politische Elite? Lobbyisten? Springers Bild? Oder die Woken, der rot-grüne Latte Macchiato-Mittelstand? Oder vielleicht etwa Nationalisten, Clans und Strippenzieher im Hintergrund? Jeder nach seiner Façon, ist das Einzige, worauf sich Berlin einigen sollte, einst wie heute.

 

Hausnachrichten in Berlin-Neukölln.

 

Im Alltag prallen alle menschlichen Gefühlslagen aufeinander. Viele Emotionen haben sich längst in die Jagdgründe des Internets verlagert. Doch in Altbauten oder Plattenburgen, in engster Nachbarschaft gibt es umso mehr Gelegenheiten, worüber jede/r sich freuen, ärgern, anbandeln oder ausrasten kann. Überraschung: Die gute alte Zettelwirtschaft hält sich selbst im Chatbot-Zeitalter. Der gebürtige Münchner Joab Nist fotografiert und sammelt seit über einem Jahrzehnt solche Nachrichten an Türen, Hauswänden und Treppenhäusern. Es ist eine wunderbare Fundgrube. Der Neuköllner Nist schreibt: „Die Notizen sind wie die Menschen, die hier leben: direkt, laut, kreativ, tolerant, freiheitsliebend, skurril, einsam, romantisch und definitiv nicht auf den Mund gefallen. Und die Themen, die kommuniziert werden: Pure Alltagskultur in ihrer reinsten Form.“

 

Berlin. Prenzlauer-Berg.

 

Es geht um alles, was Menschen in nächster Nachbarschaft gemeinsam aushalten, erdulden und ertragen müssen. Laute Partys, falsche Klaviertöne, stinkende Katzenklos, geklaute Utensilien aller Art, heftige Liebesgeräusche bei offenen Fenstern, verschwundene Pakete, Müll. Kurzum: Die angeklebten Haus-Nachrichten künden von großen Kleinkriegen direkt vor der Haustür, von den täglichen Zumutungen, wenn Menschen (zu) dicht aufeinander leben und irgendwie miteinander klarkommen müssen. Eine Entdeckung: Notes of Berlin. Eine Seite, die jede Menge über das heutige Berlin und sein Personal erzählt. Im Guten wie im Schlechten. „Spiel endlich leiser, es nervt…!“

 

Berlin. Friedrichshain.

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Neue Wege

Es war ein 14. Mai. Mein Geburtstag. Doch als Rotterdam 1940 in Schutt und Asche gelegt wurde, war ich noch lange nicht auf der Welt. Erst achtzehn Jahre später sollte es so weit sein. Da waren die Trümmer von Rotterdam längst beiseite geräumt. Viele Städte in Europa erlitten das gleiche Schicksal. Dresden zum Beispiel im Februar 1945, oder Berlin. Der Krieg kehrte dorthin zurück, wo er angezettelt wurde. 1945 bauten die Holländer ihre zerstörte Stadt an der Maas wieder auf. Im Zentrum Rotterdams blieb nur die Ruine der Laurenzkirche (Laurenskirk) stehen. Verloren zeugte sie von einer gigantischen Zerstörungsorgie. Die Deutschen hatten Rotterdam in Grund und Boden bombardiert, um die Kapitulation zu erzwingen. 57 Bomber der I. Gruppe des Bombergeschwaders von Oberst Walter Lackner machten 2.6 qkm der Innenstadt dem Erdboden gleich. Mehr als 800 Zivilisten kamen ums Leben. Die Laurenskirk aus dem 16. Jahrhundert blieb. Sie wurde wieder aufgebaut.

 

Die Laurenskirk in Rotterdam, nach dem deutschen Bombenangriff vom 14. Mai 1940. Quelle: Wikipedia

 

Rotterdam ist die niederländische Stadt, die im II. Weltkrieg am heftigsten zerstört wurde. Damit hatten die Rotterdamer – ungewollt – die Chance, eine neue, moderne Stadt aufzubauen. Die Laurenskirk steht heute mutterseelenallein in einer Umgebung aus zugigen Plätzen, Fußgängerzonen, Hochhausburgen aus Beton und Glas. Wer enge Grachten und hübsche Patrizierhäuser sucht, ist in Rotterdam fehl am Platze. Trotz aller Modernisierungsschübe sind die Wunden des Krieges bis heute zu spüren. Es fehlt der Stadt etwas entscheidendes: die Seele. Tradition, Heimeligkeit, gemütliche Cafés und Plätze zum Verweilen wie zum Beispiel in Amsterdam sind Fehlanzeige.

 

Ein gelber Kubus-Riegel grüßt im neuen, modernen Zentrum von Rotterdam. Quelle: Wikipedia

 

Dennoch: Ein Häuserkomplex auf Stelzen unweit der Laurenskirk überrascht. Über einer riesigen, äußerst ungemütlichen Verkehrskreuzung schieben sich 51 gelbe Kubushäuser. Die Überbauung fällt sofort auf. Häuser würfelartig aufeinandergestapelt, auf bizarre Weise in sich verdreht und verschachtelt.  Dazu schräge, stürzende Außenwände. Sicher: Ein wenig ist die Anlage in die Jahre gekommen. Fast vierzig Jahre sind seit ihrer Fertigstellung 1984 vergangen. Doch die gelben UFO-Kisten mitten im geschundenen Zentrum zeugen von Mut und städtebaulicher Risikobereitschaft. Die laute Kreuzung wird gedeckelt. Im öffentlich zugänglichen Raum der ersten Etage finden sich erstaunlich lärmgedämpft Läden, Restaurants und ein Hostel, ein Kinderspielplatz und insgesamt 38 Wohneinheiten.

 

Neues Leben, mitten in der Stadt. Piet Bloms Kubushäuser in Rotterdam.

 

Küche mit stürzenden Wänden und Fenstern.

 

Eine Musterwohnung kann besichtigt werden. Der holländische Architekt Piet Blom orientierte sich am Vorbild eines Baumhauses. Auf drei Etagen sind 100 qm Wohnfläche aufgetürmt. Es geht wie in alten Grachtenhäusern über schmale, steile Treppen nach oben. Fit sollte man sein. Bilder aufhängen ist kaum möglich. Doch die Perspektiven auf die Stadt sind faszinierend. Ganz oben auf der Dachetage lohnt ein Panorama-360-Grad-Rundblick über Rotterdam, Hafen und die restaurierte Laurenskirk. Rotterdam ist längst aus Ruinen auferstanden. Die Kubushäuser stehen für eine Vision. Sie versprechen eine menschengerechte Stadt zum Leben und Wohnen. Es wäre schön, wenn nicht wieder vierzig Jahre vergehen, bis neue, zukunftsweisende Projekte auf den Weg gebracht werden. Rotterdam, oft als hässlich und seelenlos geschmäht, zeigt, dass es geht. Man muss nur neue Wege gehen.

 

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Wir sind Weltmeister

Acht Spiele, acht Siege. Ein deutsches Team ist zum ersten Mal Weltmeister. Kein hochbezahltes DFB-Fußball-Team. Weder Herren noch Damen. Keine Handballer, keine Leichtathleten, die ohne eine einzige Medaille bei der letzten WM blieben. Es ist eine deutsche Randgruppensportart: Basketball. Früher nur in Uni-Städten oder US-Stützpunkten gespielt. Die Vorbilder kamen aus den dem früheren Jugoslawien oder – ganz klar – aus den USA. Jetzt hat eine deutsche Auswahl die Lehrmeister des Sports besiegt. Erst gewannen die Deutschen gegen die USA, dann im Finale gegen Serbien. Eine Sensation, melden die Medien, die bis zum WM-Titel die Erfolge der Korbjäger konsequent ignoriert hatten. So läuft das Geschäft. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Plötzlich werden in unserer erschöpften Gesellschaft wieder Teamgeist und Leistungswille gefeiert. Basketball ersetzt ausgebrannte Fußballstars. Wie schön, wie wunderbar.

Höhepunkte aus dem besten Spiel der WM: Deutschland vs. USA. Halbfinale

 

Sport konnte schon immer Außenseitern eine Chance geben. Die Bereitschaft sich zu quälen, um besser zu sein, wird mit Aufmerksamkeit und Anerkennung entlohnt. Später mit Profi-Verträgen und sozialem Aufstieg. Basketball bleibt wohl in Deutschland weiter eine Schattensportart. Zwar haben viele aus der WM-Mannschaft in den USA oder in der Euro-League gut dotierte Verträge. Doch Kicker verdienen mittlerweile utopische Summen. Nur ein Beispiel: Für die 100 Mio. Euro, die Bayern München für Harry Kane hingelegt hat, könnte man etwa 21 Millionen Kinder ein Jahr lang ernähren. Vielleicht erklärt sich das fehlende Engagement der kickenden Stars für ihre Nationalmannschaften mit dem totalen Triumph des Kommerzes über Ideale, Sport und Mannschaftsgeist. Wenn am Ende nur das Ich zählt, dann geht es nur noch um die optimale Vermarktung.

 

Die Basketball-Kathedrale von Moerdijk. Aus einer Kirchenruine entstand 2019 ein Sportzentrum. Entdeckt in Süd-Holland.

 

Der Weltmeister-Titel der Basketballer setzt eine Begeisterung frei, wie einst bei den Fußballern in Bern 1954. Motto: Ihr müsst zusammenhalten und ein Team sein. Doch der Erfolg mobilisiert reflexartig digitale Miesepeter und Heckenschützen. In Internetforen wird gegen farbige Spieler im deutschen Team gestichelt und gehetzt. Gott bewahre! Was für armselige Kleingeister! Ohne diese Mischung hätte das Team nie eine Chance gehabt. Isaac Bonga ist in Neuwied geboren. Sein Vater stammt aus dem Kongo. Johannes Thiemann stammt aus Trier, sein Vater kommt aus Kamerun. Zu ihm hat er nur wenig Kontakte. Superstar Dennis Schröder ist in Braunschweig aufgewachsen. Seine Mutter führte in Gambia einen Friseursalon. Der Vater ist Deutscher. Sein Talent hat ihn in die beste Liga der Welt geführt: in die NBA der USA.

 

Mit der Künstlerin Elvira Bach und ihrem Sohn Maodo Lo im Kreuzberger Atelier.

 

Maodo Lo ist ein typischer Berliner Junge. Sein Vater aus dem Senegal studierte an der Spree. Er verliebte sich in die Künstlerin Elvira Bach. Maodos Mutter ist eine renommierte Malerin, ihre Ideen setzt sie in einem Kreuzberger Atelier um. Elvira Bach hat ihren Sohn nie zum Training geschickt. Heute malt sie ihn und ist von seinem Erfolg begeistert. Was zählt im Leben? Selbstvertrauen plus Teamgeist. Besonders Jugendliche aus Brennpunktbezirken können davon profitieren. Streetball, „der kleine Bruder“ vom Profi-Basketball, wird genau dort gespielt, wo sich niemand um Kids kümmert. Der Ball muss in den Korb. Das ist entscheidend. Niemand trifft immer. Aber es gibt stets die zweite Chance. Im Basketball wie im Leben.

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Ach, lass liegen!

Aufräumen, To-do-Listen abarbeiten, Lästiges erledigen. Oh, Gott! Ordnung ist das halbe Leben, sagt der Volksmund. Über die andere Hälfte hat sich Nele Pollatschek  Gedanken gemacht. Die streitbare und talentierte Journalistin beschäftigt sich in ihrem neuen Buch „Kleine Probleme“ mit der Last des ständigen Aufschiebens. Wer kennt das nicht?  Im Mittelpunkt steht ein 49-jähriger Lars. Durchschnittstyp, verheiratet, eine Tochter. Der Vorstadt-Schluffi hat – genau genommen – nur YouTube studiert. Er ist keine Trans, kein cooler, queerer Zeitgenosse. Er ist eine Stimme, die schon lange nicht mehr gehört wird. Auch Lars sucht den Weltrettungsknopf, träumt von einer Karriere als Bestsellerautor oder wenn es dazu nicht reicht, wenigstens vom Aufstieg zum Homeshopping-Milliardär.

 

Wäre es niicht an der Zeit, ein paar Dinge in Ordnung zu bringen?

 

Nele Pollatschek kümmert sich um Durchschnittsmenschen. Das ist gegen den Trend. Für sie ist ihr Held Lars „ein alter Sack, der in einem Drecksloch sitzt und raucht und davon erzählt, was er morgen machen wird.“ Aufräumen ist eine Qual. Dreizehn Punkte muss er bis zum Jahresende unbedingt erledigen. Steuererklärung, Wohnung putzen, Bett für die Tochter zusammenschrauben, Lebenswerk schreiben, mit dem Rauchen aufhören, Klima retten. Nicht mehr prokrastinieren, nichts mehr aufschieben. Zauberwort und Kernproblem der Instagram-Generation. „Wie beschissen ist es bitte, wenn alle Türen offenstehen und man trotzdem stehenbleibt.“ Pollatschek erzählt vom Wunsch nach Perfektion, dem “Nudelsalat mit Geschmacksexplosion“ und der kinderleichten Steuererklärung. Sie breitet uns die Dramen des Alltags aus. Ein Leben zwischen Ordnung und Chaos, mal profan, mal hoch-Philosophisch, irgendwo zwischen Tragik und Komik. Motto: Spannend ist, was nicht funktioniert.

 

Nele Pollatschek, Jahrgang 1988, schreibt gerne gegen den Strich. Foto Wikipedia

 

Pollatschek balanciert in „Kleine Problem“ souverän zwischen wokem Zeitgeist und der Sehnsucht der normalen Smartphone-Junkies, die wir längst alle sind. Stets auf der Suche nach dem Kick, nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Wisch für Wisch, unterwegs mit, Google, Tinder und YouTube. Ach, wenn nur nicht das versiffte Bad zu putzen wäre oder die Sache mit der Beziehung, die endlich angegangen werden muss. Zu guter Letzt: Das Finanzamt wartet. Mist: „Eine Steuererklärung ist wie eine Schachtel Pralinen, nur ohne Schokolade. Man greift in die Belege und weiß selbst nicht, was man bekommt.“

Nele Pollatschek erblickte ein Jahr vor dem Mauerfall in Ost-Berlin das Licht der Welt, zog in die Welt hinaus, studierte an britischen Eliteunis. Sie schreibt frohgelaunt gegen den Strich. Die 35-jährige SZ-Autorin bevorzugt das generische Maskulinum. Durch die weibliche Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“ fühle sie sich auf ihr Geschlecht reduziert: „Wer aus meinem ‚Schriftsteller‘ ein ‚Schriftstellerin‘ macht, kann auch gleich ‚Vagina!‘ rufen.“

Nele Pollatschek. „Kleine Probleme“. Galiani. Macht Spaß. Ab 7. September 2023.

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Wolfskinder

Es ist seine 66. Tour nach Litauen. Mit seinem privaten Skoda und vollbepacktem Anhänger zuckelt der 81-jährige Günter Toepfer zu seinen „Wolfskindern“. Es ist eine weite, beschwerliche Reise ins ehemalige Memelland, im heutigen Litauen. Der Berliner Ingenieur hält seit einem Vierteljahrhundert an seiner Hilfs-Mission fest: Er kümmert sich um die letzten Überlebenden. Er will, dass die deutschen Kriegskinder von 1945 nicht vergessen werden. Heute leben noch zwei Dutzend der einst 7.000 Waisenkinder aus Ostpreußen. Kinder, die zwischen alle Fronten gerieten. Die Bundesrepublik konnte sich erst im Jahre 2017 zu einer einmaligen Entschädigung von 2.500 Euro pro Person durchringen. Ein privater Förderverein um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Frhr. v. Stetten finanziert seit einigen Jahren eine monatliche Unterstützung von rund 150 Euro. Es sind mittlerweile noch 23 Überlebende.

Die Wolfskinder sind litauische Bürger, hochbetagt und leben äußerst bescheiden, so Günter Toepfer. Deutsch haben sie verlernt. Manche können noch ein paar Worte oder die Strophe eines Kinderliedes. Nach Kriegsende flüchteten die Kinder in die Wälder von Ostpreußen, versuchten über die Memel ins sichere Litauen zu kommen. Sie schlossen sich zu Gruppen zusammen, kämpften gegen Kälte und Hunger, klauten, kratzten Rinde von den Bäumen. Sie mussten ihre Sprache verleugnen, um bei litauischen Bauern eine Chance zu haben. Die Kleinen galten als „Hitler-Kinder“, als Nachgeborene von Nazis und Faschisten. Sie waren Strandgut von Hitlers Größenwahn. Verloren und verdammt, verdrängt und vergessen.

 

„Wolfskinder“ in Palanga. Zeitpunkt der Aufnahme unbekannt.

 

Wolfskind-Unterstützer Toepfer hat vor einiger Zeit ein litauisches Filmteam beauftragt, das Schicksal der Kinder festzuhalten. So entstand ein privat finanzierter 77-minütiger Zeitzeugen-Film, der unter die Haut geht. Waltraut, Gisela und all die anderen erzählen aus ihrer Kindheit: wie die Rote Armee Heimat, Haus und Hof überrollte, wie sie allein zurückblieben. Sie berichten von Angst und Gewalt, Hoffnung und Überlebenswillen. Wer Glück hatte, fand hilfsbereite litauische Bauern, die sie retteten. Andere jagten die fremden Kinder vom Hof, auch weil die einheimischen Bauernfamilien fürchteten, denunziert und somit selbst nach Sibirien verbannt zu werden.

Die Kinder des Krieges kommen nun fast achtzig Jahre nach der NS-Katastrophe selbst zu Wort. Die litauische Produktion „Wolfskinder“ umkreist die Frage: Was macht Krieg mit Kindern? Eine Frage, die heute in Europa leider wieder hochaktuell ist. Wer hätte das jemals gedacht?

Stimmen aus „Wolfskinder“ (Litauen, 2022):

GISELA LAUNER

„Mama und mein Großvater gingen neben dem Wagen. Auf dem Weg dann – ich weiß nicht, wie es passierte – wurden meine Mutter und mein Großvater von den Russen erschossen. Niedergeschossen neben dem Wagen.“

GISLINDE LUTKUS

“Nachts hörte ich meine Schwestern schreien und wimmern, dass meine Mutter im Sterben liege. Sie ist dann gestorben. Die Leute begruben sie auf dem Friedhof in Maironai im Bezirk Kelmé.“

 

Waltraut Minnt. Snapshot aus dem litauischen Film „Wolfskinder“

 

WALTRAUT MINNT

“Meine Schwester ist von den Soldaten umgebracht worden und mein kleiner Bruder war an Hunger gestorben. Und was mit meiner Mutter geschah, weiß ich nicht. Alle waren nach Russland deportiert worden.“

“Ich übernachtete auf den Feldern und im Wald. Als es Herbst wurde, vergrub ich mich oft in einem Heuhaufen. Ich ging zum Schlafen in die Heuschober und in die Ställe der Höfe. So war es eben. Ich aß, was man mir zu essen gab. Es gab immer irgendetwas. Wenn ich Kartoffeln bekam, habe ich sie nicht kochen können, wo hätte ich sie kochen sollen? Wenn man den Hunden das Fressen brachte, rannte ich dorthin, um es ihnen wegzunehmen. Ein Hund hat mich mal ins Bein gebissen. Wir haben die ganze Zeit ums Überleben gekämpft. Es war so.  Was hätte man anderes machen können?“

“Vor Hunger haben wir dann Katzen und Hunde gegessen. Andere sagten, sie hätten Ratten gegessen. Ich nicht. Ich habe nur Katzen und Hunde gegessen. Es gab einfach nichts zu essen. Rohes Fleisch – wir haben alles gegessen. Herr vergib mir, ich dachte manchmal, wir wären besser alle gestorben.“

 

Gertrud Schulz. Snapshot aus dem litauischen Film „Wolfskinder“

 

GERTRUD SCHULZ

“Ich bin überall gewesen. Ich war in Klajpeda/Memel aber nicht nur dort. Ich bin in allen Dörfern herumgekommen. Aber … es gab gute Menschen und es gab schlechte. An den Schlechten lag es, dass ich im Wald übernachten musste. Ich habe auch auf Friedhöfen geschlafen.“

HARZ GLADSTEIN

„Aber man uns deshalb auch Wölfe getauft, weil wir wie hungrige Wölfe waren. So blieben wir die Wolfskinder.“

Der litauische Film „Wolfskinder“ (2022) sucht einen deutschen Abnehmer. Es gibt viele Anfragen, wann der Film auch bei uns zu sehen ist. Wenn ich genaueres weiß, werde ich Bescheid geben.

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Dem Himmel nah

Aufgeregtes Tuscheln. Kurz vor dem Konzert des hoffnungsfrohen Nachwuchses der Berliner Hochschule der Künste. Großes Orchester, stattlicher Chor, nervöse Anspannung bei allen Beteiligten. Das Ganze ist kostenlos. Das Saallicht verlischt. Die Streicher setzen ein, wenig später Bläser und Chor. Sie tauchen den Saal in ein warmes Wonnebad zum Wohlfühlen. Mit ausladenden Harmonien verwandeln Chor und Orchester meinen Alltag in einen romantischen Rausch der Töne. Die jungen Musikerinnen und Musiker verzaubern mit Klarheit den vierstimmigen Chorsatz und schaffen Momente von schwelgerischer Schönheit.  Nach gut fünf Minuten ist plötzlich Schluss. Beifall brandet auf. War´s das? Ja. Das Frühwerk des 19-jährigen Gabriel Fauré dauert nicht länger. Schade! Mit seiner Vertonung der Hymne von Jean Racine gewann der Franzose 1864 den Komponistenwettbewerb.  Cantique de Jean Racine. Zum Niederknien schön.

 

 

Gabriel Fauré (1845-1924) wuchs als jüngstes von sechs Kindern in der Nähe von Carcassonne auf. Bereits mit acht Jahren spielte der talentierte Sohn eines Schulleiters so gut, dass ihn die Eltern mit neun nach Paris schickten. Er lernte an der Musikschule von Louis Niedermeyer, einem renommierten Musikprofessor in der Rue Neuve-Fontaine-Saint-Georges. In elf Studienjahren (1854-65) gewann Fauré dort Eindrücke für sein ganzes Leben. Der Schweizer Niedermeyer lehrte deutlich progressiver als die angestaubten Professoren des Parisers Nationalkonservatoriums. Er prägte Fauré genauso wie sein späterer Lehrer Camille Saint-Saëns. Faurés Frühwerk Cantique vertonte Jean Racines „Wort, dem Höchsten gleich“, eine Hymne aus dem Jahre 1688. Ein Kritiker schrieb, seine Werke zeichnen sich durch „parfumfreien Charme“ aus. Fauré gilt als geistiger Vater der Impressionisten.

 

Gabriel Fauré im Alter von 19 Jahren. Sturm und Drang.

 

Fauré lebte für die Musik. Seine Brotjobs als Organist waren mickrig bezahlt, mit der Religion hielt er es nicht so streng. Lieber improvisierte Fauré abends in den Pariser Salons. Bald sorgte der Familienvater für Gesprächsstoff. Er verliebte sich in die dreißig Jahre jüngere Pianistin Marguerite Hasselmans, die er jedoch nie heiratete. Später erklomm er die Leitungsebene des renommierten Pariser Konservatoriums. Ein weiterer Skandal für die feine Pariser Gesellschaft. Denn noch nie zuvor hatte ein Musiker diese Position übernommen, ohne vorher das altehrwürdige Konservatorium durchlaufen zu haben. Der Quereinsteiger Fauré modernisierte Lehre und Unterricht, galt gar als „Robbespiere“ des Musikbetriebes. 1903 ließ jedoch sein Gehör nach. Fauré ereilte das gleiche Schicksal wie Beethoven. 1920 war er völlig taub. 1924 starb er. Auf seiner Trauerfeier wurde sein 1887 komponiertes Requiem gespielt – was sonst? Ein großer Wurf, so fesselnd und packend wie sein Sturm- und Drangwerk Cantique de Jean Racine.

 

 

Ach, Monsieur Fauré! Was wäre ein Leben ohne Musik? Dank Euch jungen Musikenthusiasten von der Hochschule der Künste für Euer Gratis-Vorführkonzert, das mein Herz im Flug erobert hat.

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„Natur braucht Geld“

Der Regenwald soll gerettet werden. Die Amazonas-Konferenz blieb vor kurzem unverbindlich. Auf einen Abholzungsstopp ab 2030 konnte sie sich nicht einigen. Bedauerlich, es war das erste gemeinsame Treffen seit vierzehn Jahren. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva brachte das Problem auf den Punkt:  „Mutter Natur braucht Geld, sie braucht Finanzierung, weil die industrielle Entwicklung sie in den letzten 200 Jahren zerstört hat“. Das gigantische wie gefährdete Amazonasgebiet verfügt über zehn Prozent der biologischen Vielfalt unserer Erde. Die Hunderte Milliarden von Bäumen sind eine der wichtigsten Kohlenstoffsenken der Welt. Daher fordern Amazonas-Anrainer die von den Industrienationen versprochenen 100 Milliarden US-Dollar. Aber kann man mit Geld Natur reparieren? Welche Lösungen gibt es jenseits von Appellen oder Verboten, angesichts großer aber ergebnisloser Konferenzen?

 

Ein Baum ist effektiver als zehn Klimaanlagen. Foto: Brigitte Werner ArtTower

 

Die Deutschen leben längst über ihre Verhältnisse. Des Pudels Kern: Wir wissen das, wollen es aber nicht wirklich ändern. Der Erdüberlastungstag – der German Overshoot Day – wurde dieses Jahr bereits am 4. Mai erreicht. Das bedeutet: Lebten alle wie wir, bräuchte es mindestens drei Erden. Frage: Kann uns das kapitalistische Gewinnstreben helfen, das unseren Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gesichert hat? Geht das? Bäume als Kapitalanlage? Natur als Investment? Ja, es gibt sogenannte Waldinvestments, die versuchen mit unserem schlechten Gewissen gute Gewinne zu erzielen. Investoren wie Forrest Finance oder Life Forestry Group versprechen einen „Zinseszinseffekt der Natur“. Die Botschaft: Kapitalisten aller Länder, werdet Waldbesitzer. Investiert statt in Beton, Öl und Chemie in die Natur als effektivste und ökologische Kapitalanlage. Es klingt zu schön, um wahr zu sein.

 

Robinien gelten als Zukunftsbaum. Hoch genügsam, belastbar und stress-resilient.

 

Das Münchner Start-up Econos hat für rund 1,5 Millionen Euro einen 107 Hektar großen Wald in Sachsen-Anhalt gekauft und binnen weniger als sechs Monate wieder verkauft. Rendite laut Econos: 15 Prozent. Doch solche Investments in Bäume seien hochriskant, wie Lotto spielen, warnt zum Beispiel Stiftung Warentest. Ein Waldinvestment bedeute ein hohes Risiko bei wenig Rendite. „Es ist so, als wenn man an der Bushaltestelle steht und einem wildfremden Menschen Geld leihen würde“, warnt Renate Daum, Finanztesterin von Stiftung Warentest laut Süddeutscher Zeitung.

Hinzu kommt: Brandgefahr, Borkenkäfer und Stürme sind reale Gefahren. Zudem braucht ein gesunder Wald Jahrzehnte, bis „geerntet“ werden kann. Aber dennoch muss die Gesellschaft neue Wege gehen. Ein Weiter so, geht nicht mehr. Bäume sind die beste Klimaanlage der Welt. Sie verbrauchen keine teure Energie und regulieren das Klima. Ein gesunder Baum entwickelt eine zehnmal höhere Kühlleistung als jede Klimaanlage. Unzählige Studien belegen, dass es sich im Schatten eines Baumes 10 bis 15 Grad kühler anfühlt. Warum also nicht das Naheliegende wagen? Bäume als Klima- und als Kapitalanlage fördern. Denn: Natur braucht Geld. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Geld braucht Natur. Ohne intakte Natur ist alles Geld nichts wert.

Wer mehr über seriöse Klimafinanzprojekte weiß oder bereits Erfahrungen mit Waldinvestments gesammelt hat, bitte melden. Ich bin für jeden Hinweis dankbar.

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Letzte Worte

Vor wenigen Tagen verurteilte ein russisches Gericht den Oppositionellen Alexej Nawalny wegen „Extremismus“ zu neunzehn Jahren Straflager. Der Prozess fand in einem improvisierten Gerichtssaal im Straflager Melechowo unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In seinem Schlusswort sprach er von einer „stalinistischen Haftstrafe“ und sagte über den Schauprozess: „Die Zahl spielt keine Rolle. Ich verstehe sehr gut, dass ich, wie viele politische Gefangene eine lebenslange Haftstrafe verbüße.“ Nawalny hatte 2020 einen Nervengiftanschlag nur knapp überlebt. An die Öffentlichkeit richtete der 47-jährige folgenden Appell: „Verliert nicht den Willen zum Widerstand.“

Das System Putin bricht mit geradezu stalinistischer Härte jegliche Versuche von Widerstand und Opposition. Das Recht wird gebeugt. Nach § 293 der russischen Strafprozessordnung haben Angeklagte jedoch das Recht auf ein letztes, unzensiertes Wort vor Gericht. Ein kafkaesker Vorgang, da die Beschuldigten alles haben, nur nicht die Chance auf ein faires Verfahren oder Urteil. Wer sich fragt, wo in Russland Menschen sind, die sich gegen Willkür, Repression und Verfolgung in Putins Reich wehren, muss diese Stimmen kennenlernen. Sie zeugen von Mut, Unbeugsamkeit und Zivilcourage. Mut zum offenen Widerspruch gegen Putins Kriegspropaganda trauen sich nur wenige, auch deshalb, weil jeder Protest vom Regime mit aller Härte bestraft wird. Drei Beispiele möchte ich stellvertretend vorstellen.

 

Maria Ponomarenko. Journalistin. Urteil: 6 Jahre Lagerhaft. Februar 2023. © SOTA

 

Maria Ponomarenko, 44, Journalistin aus Westsibirien. Mutter zweier Kinder; zu sechs Jahren im Straflager Nr. 22 in Krasnojarsk verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatte einen Beitrag über den russischen Luftangriff auf das Theater von Mariupol verbreitet.

Letzte Worte vor Gericht am 13. Februar 2023:

„Wenn es einen Krieg gibt, sollte man ihn auch beim Namen nennen. (…)

Glauben Sie, ich werde weinen und in Hysterie verfallen, weil Sie mich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilen? Nein. Das ist nur ein neuer Lebens­abschnitt. Und glauben Sie mir: Hinter Gittern gibt es viel mehr anständige Menschen als in der Regierungspartei Einiges Russland.“ (…)

Wir sehen uns in Freiheit! Nie sind totalitäre Regime so stark wie kurz vor ihrem Zusammenbruch.“

 

Alla Gutnikowa. Studentin. April 2022. Urteil in Abwesenheit: zwei Monate Straflager plus zwei Jahre „Besserungsarbeit“. Bildrechte: IMAGO ITAR-TASS.

 

Alla Gutnikowa, 25. Ehemalige Studentin einer Moskauer Eliteuniversität. Ehem. Redakteurin der Studentenzeitung »Doxa«. Sie wurde zu Hausarrest verurteilt, konnte fliehen. Urteil in Abwesenheit: zwei Monate Straflager + zwei Jahre „Besserungsarbeit“. Ihr Vergehen: Sie hatte mit zwei weiteren Frauen in einem Video die Exmatrikulation von oppositionellen Studenten kritisiert.

Letzte Worte am 3. April 2022:

In meinem Französischkurs an der Uni bin ich mal auf eine Liedzeile von Édith Piaf gestoßen: »Ça ne pouvait pas durer toujours« – es konnte nicht ewig so weitergehen. Als ich 19 war, fuhr ich nach Majdanek und Treblinka. Dort lernte ich, wie man »никогда больше« sagt, in sieben verschiedenen Sprachen. ­Never ­again. ­Jamais plus. Nie wieder. רעמ לאמנייק. Nigdy więcej. דוע אל. Später lernte ich ein paar weitere wichtige Lektionen. Erstens: Wörter haben Bedeutung. Zweitens: Man muss die Dinge beim Namen nennen. Und schließlich: sapere aude – habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“ (…)

„Wiederhole, für dich und andere: Zwei plus zwei ist vier. Schwarz ist schwarz. Weiß ist weiß. Ich bin ein mutiger, starker Mann. Ich bin eine mutige, starke Frau. Wir sind mutige, starke Menschen. Freiheit ist eine Entwicklung, in deren Verlauf man lernt, sich nicht unter­jochen zu lassen.“

 

Wladimir Kara-Mursa. Historiker. April 2023. Urteil: 25 Jahre Lagerhaft. © Natalia Kolesnikova​ AFP​/Getty.

 

Wladimir Kara-Mursa, 41, Historiker/Politiker aus Moskau. Überlebte zwei Giftanschläge. Festnahme im April 2022. Urteil: 25 Jahre Lagerhaft. Sein Vergehen: Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine hatte Kara-Mursa mit anderen Regimekritikern ein »Komitee gegen den Krieg« gegründet.

Letzte Worte am 10. April 2023:

„Während meiner Vernehmung hier vor Gericht hat der Vorsitzende Richter mich daran erinnert, dass ich, wenn ich für die von mir begangenen Taten Reue zeige, auf mildernde Umstände hoffen könne. Obwohl ich zurzeit wenig zu lachen habe, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Verbrecher sollten Reue zeigen. Ich aber bin im Gefängnis wegen meiner politischen Ansichten. Wegen meiner Auftritte gegen den Krieg in der Ukraine. Wegen meines langjährigen Kampfes gegen Putins Diktatur.“ (…)

„In seinem Letzten Wort bittet man normalerweise um Freispruch. Für jemanden wie mich, der kein Verbrechen begangen hat, wäre Freispruch auch das einzig legitime Urteil. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Rückspiegel Männer in schwarzen Uniformen und mit Masken sah, die hinter meinem Auto herliefen. Das ist in Russland der Preis dafür, dass man nicht schweigt.“

 

Wer mehr über „letzte Worte“ in politischen Schauprozessen erfahren will, findet im ZEIT-Dossier „Sogar in diesem Käfig liebe ich mein Land“ beeindruckende Beispiele. Sie erzählen von Menschen, die seit Kriegsbeginn versuchen, Putins zerstörerischem Kurs Einhalt zu gebieten, selbst wenn es ihre persönliche Freiheit kostet.

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Kirche im Dorf

Ein Sonntag auf dem Lande. Angenehme Stille. Nur die Feldlerche trillert fröhlich ein Liedchen. Ein heißer Sommertag kündigt sich an. Die riesigen Roggenfelder warten auf den Ernteeinsatz. Ich radele ins Nachbardorf, zum Gottesdienst. Wie bitte? Wirklich! Alle drei, vier Monate kommt der Pfarrer vorbei, er hat mehr als ein gutes Dutzend Gemeinden zu betreuen. Da bleibt für die kleine Kirche im Nachbardorf wenig Zeit. Ich komme in letzter Minute in der schnuckeligen Fachwerkkirche an. Gleich am Eingang werde ich vom Kirchenvorstand abgefangen: „Ah, der radelnde Kantor! Dann kommen Sie, es geht gleich los.“ Er führt mich zur kleinen Hollenbach-Orgel und wirft die Elektrik an. „Auf geht´s. Dann können wir loslegen.“

 

Ein Sonntagsausflug zur Kirche im Nachbardorf.

 

Nun wird es höchste Zeit, das Missverständnis aufzuklären. Ich sei nicht der Kantor, nur ein Besucher, wehre ich ab. „Können Sie spielen?“ – Ja, antworte ich. Es ist bei mir einfach so. Sobald  ich Tasten sehe, überkommt mich ein tiefes Verlangen. Die Freude auszuprobieren, einfach zu spielen. Ich improvisiere ein paar Takte, ziehe alle Register. Die kleine Dorforgel spukt munter Töne aus. Plötzlich steht der evangelische Pastor neben mir: „Ach wie schön. Hier sind die Gemeindelieder, die wir heute anstimmen.“ Ich sage, da müsse ich erst ordentlich üben. Vielleicht später einmal. Er zieht ein enttäuschtes Gesicht. „Wir haben hier auf dem Land dreißig Gemeinden und keinen einzigen Organisten. So ist die Lage. Wir können jede Hilfe brauchen.“

 

Ohne Musik ist ein Sonntag kein richtiger.

 

Ich flüchte mit meiner Radler-Gepäcktasche und schlechtem Gewissen in die vorletzte Reihe. Im Kirchlein haben sich genau zehn Menschen versammelt. Ein Mann erzählt, gestern sei die Freiwillige Feuerwehr mal wieder mit Tatütata auf der A24 gewesen. Für 7,50 Euro pro Einsatz riskierten die Kameraden Kopf und Kragen. Unmöglich! Ein Witz, pflichtet seine Nachbarin bei. Eine Reihe weiter erzählt eine alte Frau von Ärzten und Krankheiten. „Totumfallen. Einfach so. Das Beste, was passieren kann. Da brauchste keine Kasse, keinen Pfleger, kein Heim.“ So falle man niemanden zur Last. Zwei Frauen nicken. Der Pastor beendet alle Gespräche und begrüßt die kleine Schar. Neun Besucher halten inne. Es geht los. So ist das in einem Land, in dem mehr Menschen beim ADAC als in der Kirche sind. Tatsächlich hat in diesem Sommer Deutschlands größter Autoclub die Katholischen Kirche an Mitgliedern überholt.

„Unser Gott sei eine feste Burg“. Der Pfarrer intoniert mit kräftiger Stimme die Lieder. Die Gemeinde versucht mitzuhalten. Mit Orgel würde es sicher stimmungsvoller klingen. Haben die Massenaustritte der letzten Jahre mit der Unzufriedenheit zu tun, zuletzt über die mangelhafte Aufarbeitung von Übergriffen des Kirchenpersonals? Vermutlich wollen einfach viele die Kirchensteuer sparen, aber noch wahrscheinlicher finden die meisten längst etwas anderes wichtiger als ein Sonntagvormittag in der Kirche. Was auch immer? Die neuen Götter heißen Yoga, YouTube oder das Freiheitsversprechen schneller Flitzer.

 

Cartoon 02.07.2023

 

Müsste eine moderne Kirche nicht auch ein Dienstleister mit Rundum-Servicepaket sein? Mit Pannen-Engeln und Rettung in höchster Not? Nichts Geringeres als „Hilfe, Rat und Schutz“ verspricht der ADAC. Diese Dreieinigkeit passt doch an jedes Kirchenportal. Wir sind beim letzten Lied angekommen. Die Stimme des Pfarrers wird nach einer Stunde Service und Pannenhilfe müde. Welches Freiheitsversprechen gibt seine Kirche? Welchen Schutz, welchen Mehrwert? Nach dem Gottesdienst werde ich noch einmal gefragt, ob ich beim nächsten Mal die Orgel spielen möchte. Da hätten doch alle was davon.

 

Good Times, ist ein schönes Versprechen.