Das Geheimnis von Christianstadt
Die einstige Rüstungsschmiede von Christianstadt ist heute mit einem doppelten Maschendrahtzaun und NATO-Stacheldraht auf der Krone sowie Infrarot-Sensoren ausgestattet. Zutritt strengstens verboten. Gerüchteweise heißt es, dort befinde sich eine Spezialeinheit mit einem KFZ-Instandsetzungswerk. Sicher ist nur: hier war bis 1945 das Zentrum der größten Munitionsfabrik des Dritten Reiches.
Das verwunschene Werksgelände liegt mitten in einem riesigen Waldgebiet, eine Autostunde von der deutsch-polnischen Grenze bei Forst entfernt. Der Ort selbst heißt heute auf Polnisch Nowogród Bobrzanski. Ein verschlafenes Provinzstädtchen mit vielleicht zweitausend Einwohnern. Das nahe gigantische Sprengstoffwerk mit dem Tarnnamen Ulme war Geheime Reichssache. Und so scheint es, ist es bis heute geblieben.
Der äußere Bereich mit zwei Kraftwerksruinen und verfallenen Produktionsstätten, die wie gefallene Skulpturen in einem Jurassic Park herumstehen, ist zugänglich. Aber nichts erinnert an die explosive Geschichte. Keine Gedenktafel, kein Hinweis in Reiseführern oder offizielle Darstellungen im Internet. Seit einiger Zeit bemüht sich eine private polnische Historikergruppe um eine Bestandsaufnahme. Ein kleines Besucherzentrum in der ehemaligen Kommandantur ist geplant, heißt es.
Betreiber des Werkes war die DAG, die Dynamit-Actien-Gesellschaft, vormals Alfred Nobel & Co. 1939 begann der Bau dieser geheimen „Nitrozellulose- und Sprengstoffanlage“ mit geplanten 800 Gebäuden, von denen die Hälfte fertig wurden. Die Fläche umfasste rund 1.500 Hektar. Das Fabrikgelände war drei bis viermal so groß wie die Waffenschmiede in Peenemünde. In Christianstadt wurde Sprengstoff für schwere Infanterie, MG, Artilleriegeschosse, Granatwerfer, Flugzeugbomben und auch Zünder für V1- und V2-Raketen hergestellt.
Ein ständiges Brummen lag über den Wäldern. Viele tausend Fremd- und Zwangsarbeiter, vor allem aber junge Jüdinnen mussten täglich diesen lebensgefährlichen Job leisten. Die Frauen waren aus Theresienstadt oder dem Konzentrationslager Auschwitz herangeschleppt worden. Viele Häftlinge erkrankten an Krebs. Folge des ständigen Kontaktes mit Bleistaub, Salpeter, Schwefelsäure und anderen gefährlichen Chemikalien. Abwasser und Klärschlamm flossen ungeklärt in das Flüsschen Bober.
Bis heute ist unklar, was in Christianstadt wirklich geschah. Wurden schmutzige Bomben getestet oder hergestellt? Wieso wurde das gigantische Werksgelände nie bombardiert, obwohl der Royal Air Force detaillierte Luftaufnahmen vorlagen? Was war der Grund, dass im Januar 1945 eine Spezialeinheit der SS das Werk fünf Tage lang erbittert verteidigte? Wie kam es, dass der stellvertretende Werksleiter Walter Schnurr – der „Sprengstoffpapst des Dritten Reiches“ – nach Argentinien flüchten konnte und später Leiter des Kernforschungszentrums Karlsruhe wurde? Was machten die Sowjets mit dem Werk in den Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges? Was geschieht heute hinter Stacheldraht und totaler Abriegelung?
Christianstadt scheint sein Geheimnis bis heute zu hüten. Allen Wechselfällen und Versprechungen der letzten Jahrzehnte zum Trotz. Es ist, als ob das Schicksal diesen vergessenen Ort dazu verdammt hat, genauso geheimnisvoll wie brisant zu bleiben – einst wie heute.
Über den Alltag und einen schweren Unglücksfall Ende 1944 in Deutschlands größter Munitionsschmiede der Nazis berichtet zum ersten Mal ein ehemaliger leitender Ingenieur von Christianstadt. Es war sein letztes Interview vor seinem Tod. Dazu ausführlich mehr unter Rückschau Christianstadt.