Archive for : September, 2016

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Vika goes wild

Viktoriya Yermolyeva ist zart, eher zurückhaltend und ziemlich versiert am Klavier. Sie quälte sich durch die Konservatorien von Kiew, Weimar und Rotterdam. Spielte Chopin, Liszt und Rachmaninow in europäischen Konzertsälen. Und dann explodierte die kleine Ukrainerin. Sie nannte sich fortan Vika, perfektionierte den harten Klang des Metalls auf ihren 88 Tasten, coverte Hits und Songs, von den Doors bis zu Queen. Vika goes wild. Der Beginn einer rasanten musikalischen Entdeckungsreise.

 

 

Auf geht´s. Ein munteres Crossover. Klassik, Metall, Pop. Quer durch den Gemüsegarten. Vika arrangiert populäre Songs neu. Solo oder im Duett mit einem Drummer. Debussy trifft Depeche Mode. Metallica Mozart. Radiohead Rachmaninow. Vika ist ein typisches Kind des Internets. Sie schaffte es zu einem Youtube-Phänomen des 21. Jahrhunderts. Gegoogelt, geteilt, gerne angeklickt. Längst ist sie eine Königin am Klavier der Smartphone-Generation. Ihre über fünfhundert Musikclips sind mittlerweile mehr als siebzig Millionen Mal abgerufen worden. Nun soll endlich auch ein Album folgen.

 

 

Die 37-jährige Pianistin aus Kiew beherrscht das Spektrum von AC/DC, Motörhead und Black Sabbath über Iron Maiden bis hin zur Jahrhunderthymne Stairway to heaven von Led Zeppelin. Besonders beeindruckend ihre Live-Auftritte. Youtube-Mitschnitte aus Reykjavik erzählen von wilden, hemmungslosen Sessions. Live, unbekümmert, intensiv bis zur letzten Minute.

 

 

Die Konzertpianistin Vika am 27. September 2016 (20 Uhr) im legendären SO 36 in Berlin-Kreuzberg. Vika goes wild.

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Die doppelte Stadt

Wer sich das Wahlergebnis der Hauptstadt genauer anschaut, kommt zu einem naheliegenden Schluss. Berlin bleibt geteilt. Auch ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall. Grenzen teilen Ost und West, aber auch Wohlhabende und Abgehängte. Diese neue Trennlinie zwischen Toleranz und Offenheit einerseits und Abgrenzung und Protest andererseits verläuft exakt entlang der alten Mauer. In den meisten östlichen Bezirken erreichen AfD und Linkspartei zusammen klare Mehrheiten. Weiter westlich hingegen schwächelt die AfD während die FDP triumphiert. Dazwischen zerbröseln die Volksparteien SPD und CDU.

 

Aufnahmedatum: 1973Aufnahmeort: Berlin (Ost)Inventar-Nr.: Hd 3131-54Systematik: Kulturgeschichte / Fotografen / Heyden / Werke

Bernd Heyden. Ost-Berlin. 1973.

 

Alles Altlasten? Ist es das vielbeschworene Erbe von Mauer und Kaltem Krieg? Wer sich mit einfachen Antworten zufrieden gibt, braucht ab jetzt nicht mehr weiterzulesen. Für alle anderen lohnt sich der Weg zu einer Fotoausstellung im Willy-Brandt-Haus. Diese präsentiert zweimal Berlin, von zwei unterschiedlichen Fotografen aber mit einer Haltung. Der Ost-Berliner Fotograf Bernd Heyden zeigt den Alltag am Prenzlauer Berg von 1969 bis 1980. Sein West-Berliner Kollege Rainer König sammelt Berliner Fragmente aus der „Selbstständigen Einheit Westberlin“, wie die Westhälfte von Ost-Berlin offiziell genannt wurde.

 

Berlin-Charlottenburg, S-Bahnhof Savignyplatz (Savignyplatz Metro Station), 1966, 17,9 √ó 18,0 (24,0 √ó 18,0) cm

Rainer König. West-Berlin. Savignyplatz. 1966.

 

Das Verblüffende. Beide Fotografen zeichnen mit faszinierend genauem Blick ein gemeinsames Panorama. Es sind Schwarz-Weiß-Bilder einer geteilten Stadt, die sich zum Verwechseln ähnlich sind. Präzise präsentieren die Bilder Momentaufnahmen aus dem Leben der Mauerstadt jenseits von Propaganda, Schönfärberei und Inszenierung. So entsteht das beeindruckende Gesamtbild einer untergegangenen Welt, in der Unterschiede zwischen Ost und West ineinanderfließen und so neue überraschende Einblicke ermöglichen.

 

Fotograf: Bernd Heyden Aufnahmedatum: 1976 Aufnahmeort: Berlin (Ost) Inventar-Nr.: Hd 0500-18 Systematik: Kulturgeschichte / Fotografen / Heyden / Werke

Bernd Heyden. Ost-Berlin. 1976.

 

Die Doppelausstellung im Willy-Brandt-Haus in der Berliner Stresemannstraße ist bis zum 22. November 2016 geöffnet. Eintritt frei. Personalausweis nicht vergessen.

 

Berlin-Charlottenburg, Block 118, 1975

Rainer König. West-Berlin. Charlottenburg. 1975

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Am deutschen Wesen

Das Land sucht seine Mitte. Wieder einmal. Mit einer Rolle rückwärts in die Zukunft? Vor 150 Jahren reimte ein Heimat-Dichter und Spätromantiker: „Macht und Freiheit, Recht und Sitte, Klarer Geist und scharfer Hieb/ Zügeln dann aus starker Mitte/Jeder Selbstsucht wilden Trieb, Und es mag am deutschen Wesen/Einmal noch die Welt genesen.“ Der Name des Poeten? Unbekannt? Er heißt Emanuel Geibel. In Lübeck kann man ihn noch antreffen. Im Rest der Republik ist er vergessen.

Aber die letzten Zeilen seines Gedichts Deutschlands Beruf aus dem Jahre 1861 spuken ungebrochen weiter durch unsere Hirne und Herzen. „Es mag am deutschen Wesen – einmal noch die Welt genesen.“ Aus dem patriotisch intonierten Verb mag wurde alsbald ein nationalistisches soll und später noch ein … wird die Welt genesen. Dieser kleine feine Unterschied sagt viel über die Trennlinie zwischen inniger Heimatliebe und dumpfem Nationalismus. Dichterfürst Geibel ist längst Geschichte, er konnte sich aber auch nicht mehr wehren.

 

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Emanuel Geibel (1815-1884). Romatischer Poet in Pose.

 

Geibel träumte im 19. Jahrhundert von der Überwindung der deutschen Kleinstaaterei. Als er in seinem Münchner Zeit in Reimen, Versen und Gedichten allzu preußisch wurde, verlor er 1868 seine – vom bayerischen Königshaus zugeteilte – lebenslange Pension. Er kehrte in seine Vaterstadt Lübeck zurück, wo er 1881 starb. Heinrich Mann verewigte den Landsmann in dem Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit in der Rolle des Dichters Prof. von Heines. Auch Bruder Thomas Mann verarbeitete Geibel in seinem urdeutschen Familienroman Buddenbrooks.

 

 

Geibel blieb ein Leben lang ein unverbesserlicher Romantiker. Einer, der die Sehnsucht in glühende Worte goss. Dabei war Heimat für ihn kein Ort. Sondern ein Gefühl. Und so beginnt übrigens Geibels „am deutschen Wesen-Gedicht“:

 

„Soll’s denn ewig von Gewittern

Am umwölkten Himmel braun?

Soll denn stets der Boden zittern,

Drauf wir unsre Hütten baun?

Oder wollt ihr mit den Waffen

Endlich Rast und Frieden schaffen?

Dass die Welt nicht mehr, in Sorgen

Um ihr leichterschüttert Glück,

Täglich bebe vor dem Morgen,

Gebt ihr ihren Kern zurück!

Macht Europas Herz gesunden,

Und das Heil ist euch gefunden.“

Über Vater und Sohn

Bruce Springsteen. Der Boss. Zwei neue Bücher, ein altes Thema. Die Einsamkeit des Künstlers. Viele Jahre litt der US-Rockstar unter Depressionen – das schreibt er selbst in seiner Autobiografie. Als sein Vater 1998 starb, holte ihn der „Schwarze Hund“ ein. Doug Springsteen hatte seinen Sohn ein Leben lang schikaniert. Mithilfe von Ärzten, Medikamenten und Ehefrau Patti fand er wieder aus dem Tief. Bruce: „Wenn sie den Güterzug sieht, der Nitroglyzerin geladen hat und aufs Entgleisen zusteuert, dann bringt sie mich zum Arzt und sagt: ‚Dieser Mann braucht ein Pille‘.“

 

Bruce Springsteen verkörpert wie kein anderer das andere, bessere Amerika. Der ehrliche Arbeiter. Bodenständig, zuverlässig, geradeaus. Ein Working Class Hero. Seine Konzerte sind ein Erlebnis und bis zur Erschöpfung lang, oft drei Stunden und mehr. Egal, ob er mit seiner E-Street-Band vor dreihundert, dreitausend oder dreißigtausend im Stadionrund spielt. Am Ende dankt das Publikum glücklich aber müde mit Erlösungsbeifall.

 

 

Der österreichische Journalist Philipp Hacker-Walton erzählt in seiner neuen Biografie eine klassische Außenseitergeschichte. Er taucht in die Sturm-und-Drang-Jahre von 1975 bis 1978 ein. Der junge talentierte Künstler Bruce kämpft in frühen Jahren mit einem gierigen Manager, der ihn verrät und verkauft. Er ringt mit einem Vater, der ihn knallhart kontrolliert und hartherzig abperlen lässt.

Die Familie ist ein Gefängnis. Vater Doug fühlt sich vom Leben betrogen, ob als Busfahrer, Fließbandjobber oder Gefängniswärter. Hart Malochen, wenig Freude und warten bis Sohn Bruce nach Hause kommt. Der Sixpack Bier bleibt am Abend in der einsamen Küche der einzige Trost. Mutter Springsteen nimmt einen Kredit, um ihrem Sohn zum 15. Geburtstag eine E-Gitarre schenken zu können. Statt Grammatik und Geometrie übt Sohn Bruce fortan Griffe von C-Dur bis A-Moll.

In Born to run singt und spielt Bruce sich 1975 seinen ganzen Vorstadt-Frust aus dem Leib. Ein Album voller Aufbruch und Energie, getragen von geradezu naivem Idealismus. Geboren, um loszulaufen. Nur wohin, sagt der damals 26-jährige nicht. Vierzig Jahre später liefert der Weltstar Springsteen mit Wrecking Ball den Soundtrack zur Finanzkrise. Er gibt den Ausgepowerten und Betrogenen eine Stimme, wenn er singt: „The banker man grows fat, working man grows thin“.

 

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Eine neue Biografie von Philipp Hacker-Walton über Bruce Springsteen aus Österreich.

 

Am 27. September erscheint Springsteens Autobiographie “Born To Run” (Heyne) gemeinsam mit dem neuen Album: “Chapter & Verse“. Philipp Hacker-Waltons Biografie Vom Außenseiter zum Boss Als Bruce Springsteen sich seine Songszurückholte (Braumüller) ist bereits im Buchhandel erhältlich.

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Marlene unter uns

„Wo denn das Grab der Dietrich sei“, frage ich eine ältere Dame mit grüner Gießkanne. Schnurstracks antwortet die Berlinerin: „Folgen Sie mir. Sie liegt direkt neben meinem Mann.“ Wir gehen einige Reihen auf dem Friedhof Friedenau entlang. Die Frau volle Kanne vorneweg. „Da ist sie.“ Wir stehen vor dem Ehrengrab der Marlene Dietrich. „Es wird kaum gepflegt. Eine Schande. Die Blumen verdorren. Keiner räumt sie weg. Ach…“ Die Witwe macht eine stumme wegwerfende Handbewegung, wendet sich ab, gießt ihren Mann.

 

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„Hier stehe ich an den Marken meiner Tage“. Marlene in Friedenau.

 

„Hier stehe ich an den Marken meiner Tage“, lese ich. Hier ruht sie also. Die Grand Dame des deutschen Films. Geliebt, gehasst, umstritten, gefeiert. In Paris einsam gestorben, in Berlin zur letzten Ruhe gebettet. Das Grab ist schlicht, geradezu bescheiden. Alles andere als ein pompöser Gedenkort für einen Weltstar. „Marlene 1901-1992“, ist auf dem Stein noch zu lesen. In meinem Kopf beginnt Suzanne Vega ihr Marlene on the Wall zu summen. Ein großer Erfolg war ihre musikalische Referenz, 1985.

 

 

Ein paar Meter weiter liegt Helmut Newton, der Fotograf der Schönen und Reichen. Ganze zehntausend Gräber hat der kleine Friedhof an der Stubenrauchstraße in Friedenau. Er gehört zu den kleinsten der Hauptstadt, gilt aber als Künstlerfriedhof. Hier ist auch der italienische Komponist Ferrucio Busoni begraben. Die Schriftstellerin Dinah Nelken hat dort ihre letzte Ruhestätte. Der Lyriker Kurt Bartsch? Wie bitte? Nie gehört?

 

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Letzte Botschaft eines Lyrikers.

 

Wer den kleinen Acker der toten Künstler besucht, scheint aus der Zeit zu fallen. Bei einem Trompeter heißt es: Er konnte auf 2 und 4 klatschen. Was für ein treffender, fulminanter Abschiedsgruß!

 

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Letzter Gruß eines Musikers.

 

Marlenes Grab wirkt keineswegs herausgeputzt wie ein Ehrengrab. Kümmert sich denn hier keiner? Das fragte schon vor Jahren die Boulevardpresse. Zuständig ist der Berliner Senat. Die Landesregierung soll Ehrengräber würdig und angemessen unterhalten. Aber dafür reicht es wohl nicht. Nicht einmal für die unvergessene Marlene Dietrich.

Friedhof Friedenau. Stubenrauchstraße 43-45, 12161 Berlin, geöffnet täglich von 8-18 Uhr.

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Is mir egal

„Erster Schultag in Berlin. Die Kinder haben noch keinen Stundenplan, aber am zuckerfreien Vormittag wurden schon mal die Namen getanzt.“ Notizen vom Prenzlauer Berg. Die Hauptstadt ist aus den Ferien zurück. Und – wie gewohnt – funktioniert nichts richtig. Das Finanzamt ist abgetaucht. Das Bürgeramt Kreuzberg schickt verzweifelte Bürger wieder weg, die bereits zum fünften Mal einen ausgefüllten Antrag abstempeln lassen wollen. Warum? – Antwort des Amtsträgers: „Ganz einfach – weil ich nicht will!“ Das ist Berlin.

„Is mir egal“, ein Werbespot der hauptstädtischen Verkehrsgesellschaft BVG hat längst Kultstatus erlangt. Sechs Millionen Menschen können nicht irren. Eigentlich sollte gegen Schwarzfahren geworben werden, doch die eigentliche Botschaft ist überall angekommen. Ist doch eh egal. Zum Beispiel, dass einer Familie auch zwei Monate nach Geburt ihres Kindes kein Kindergeld ausgezahlt wird. Warum? – Die Eltern haben keine gültige Steueridentifikationsnummer. Die bekommen sie aber nur, wenn sie einen Termin beim Bürgeramt ergattern. Und seitdem der Sprößling da ist, stehen sie auf der Warteliste.

 

Was im Kleinen nicht funktioniert, kann auch im Großen nicht gelingen. Unfassbare neun Jahre dauert in der Hauptstadt bisher der Bau einer neuen Schule – die Boulevardzeitung „B.Z.“ hat aufgelistet, was in der Zeit bislang alles so geschehen ist: 1) Bezirk definiert Bedarf, 2) Mittel werden beantragt, 3) Testat wird erstellt, 4) Senator für Finanzen verabschiedet Investitionsplan, 5) Anmeldung durch Bezirk, 6) Senatsbeschluss, 7) Erarbeitung Bedarfsprogramm, 8) Genehmigung Bedarfsprogramm, 9) Vergabeverfahren, 10) Auswahlentscheidung, 11) Vorplanungsunterlagen (VPU) werden erarbeitet, 12)  VPU werden genehmigt, 13) Veranschlagung im Haushalt, 14) Bauplanungsunterlage (BPU) wird erarbeitet, 15) BPU wird genehmigt, 16) Ausführungsplanung, 17) Ausschreibungscheck, 18) Baubeginn, 19) Fertigstellung (evtl.), 20) Is egal.

 

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Auch aus Büroklammern kann etwas werden. In Berlin ächzen alle unter einer Verwaltung, die nur noch im Ausnahmemodus funktioniert.

 

Wird schon. Wie der Flughafen. Also Kopf hoch, und nicht die Hände!

Wir brauchen einen Willy

Die Bundesrepublik ist mittlerweile 67 Jahre alt. Das Land hat bei allen Fehlern ein paar Dinge geschafft: die längste Wohlstandsphase seit Menschengedenken, die stabilste Friedensperiode der deutschen Geschichte und eine Vereinigung, die den Kalten Krieg ohne einen einzigen Schuss beendete. Selbst die skeptischen Briten erklären die Deutschen in BBC-Umfragen regelmäßig zum populärsten Land der Welt. Und die Deutschen selbst? Sie maulen, meckern und folgen zunehmend denen, die Angst und Schrecken beschwören. Man könnte meinen, die Welt gehe bald unter. Und nur eine Kraft kann sie retten: die AfD.

Die Stärke der AfD ist eindeutig die Schwäche der etablierten Parteien. CDU, SPD und Grüne gelten als verbraucht und unfähig Probleme zu lösen. Angesichts einer biblischen Flüchtlingswelle, Folge der ungehemmten Globalisierung, ist das kein gutes Zeichen. Aber es fehlt noch mehr: Eine politische Elite mit Haltung, Herz und Zielen. „Die Willy Brandts wachsen nicht auf den Bäumen“, klagte einmal SPD-Vordenker Erhard Eppler. Dabei wäre ein Politiker von diesem Format nötiger denn je. Verzweifelter Ruf an die Götter: Wo ist ein neuer Willy?

 

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Willy Brandt. (1913 – 1992)

Die Lage der Volksparteien ist kritisch. Jahr für Jahr verlassen zehntausende Mitglieder CDU und SPD. Ähnlich wie die Amtskirchen verlieren Parteien ihre wichtigste Ressource: das Volk. Doch deren Antwort lautet: verharmlosen und verschweigen. Stattdessen dienen Altparteien als Postenjäger- und Karriereunternehmen für 18.000 Berufspolitiker. Für viele gilt: Ein Talkshow-Auftritt zählt mehr als Sacharbeit. Loyalität ist wichtiger als Leistung. Mauscheln um Listenplätze ein notwendiges Übel. An die Spitze gelangen ehrgeizige Referenten oder Menschen mit ausreichend Sitzfleisch, für die Konferenzen der Kern ihres Daseinszwecks ist.

Handwerker, Bauern oder einfache Arbeitnehmer sind Mangelware im professionellen Politbetrieb. Wichtige Entscheidungen werden in kleinsten Kreisen gefällt, häufig an externe Berater delegiert, und anschließend nur halbherzig oder gar nicht erklärt.  Verantwortung ist ein Fremdwort geworden. In den Parteien selbst wird über Wolfsrudelverhalten geklagt. Es herrsche ein zynischer Umgang, mit medialen Heckenschützen und Kannibalismus an der Spitze. Übrig blieben Politiker wie Volkmar Kauder oder Sigmar Gabriel. In der SPD beispielsweise war noch nie die Sehnsucht nach einem Willy Brandt so groß wie in diesen Tagen.

 

 

Vielleicht eröffnet der kometenhafte Aufstieg der AfD in diesen Tagen eine einmalige historische Chance. Die Volksparteien könnten sich wieder besinnen, dass sie Teil des Volkes sind und in zentralen politischen Fragen für das Volk da sein sollten. In den letzten Jahren schien im Politbetrieb die Sonne nur noch für clevere Strippenzieher und deren so fleißige wie anonymen Helfer.

Wer mehr über Willy Brandt wissen will, dem sei die Biografe von Peter Merseburger „Visionär und Realist“ aus dem Jahre 2002 empfohlen.