Archive for : Mai, 2023

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Biko in der Waldbühne

Die zweite Zugabe rollt durch das weite Rund der Berliner Waldbühne. Für Steve Biko, kündigt Peter Gabriel auf Deutsch an, einen Mann mit besonderem Mut. Das Lied sei für alle Menschen in Südafrika, Russland, China und anderswo. Zwanzigtausend klatschen, singen, tanzen begeistert mit. Fäuste fliegen in den Berliner Abendhimmel. Die Masse feiert sich und Stephen Bantu „Steve“ Biko. Der Bürgerrechtler, der seinen Mut mit dem Leben bezahlte. Der unerschrockene Anti-Apartheidkämpfer, der Mitte September 1977 zu Tode geprügelt wurde, während das Regime die Lüge verbreitete, er sei an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. Peter Gabriel widmete Biko 1980 diese Hymne. Wie oft gespielt, wie oft gefeiert. Heilung, Support und Erlösung. Was Musik alles kann. Die Waldbühne ist beglückt und verzückt. Gabriel liefert der Ü50-Babyboomer-Generation den Soundtrack ihres Lebens. Ach, was für ein wunderbarer Frühlingsabend.

 

 

Bühne frei für die i/o-Tour. Der 73-jährige Peter Gabriel begrüßt die Menge in der Freilichtbühne auf deutsch. Er startet mit einer Art Kammerkonzert vor dem Konzert. Jetzt kommt die Flut. Growing up, look for a place to live. Ein stiller Auftakt mit Cello, Geige, Sitar, Waldhorn und Rowdies in knallorangenen BSR-Overalls. Gabriel stellt seinen neuen Titel des noch unveröffentlichten Albums i/o vor. Erst live, dann in studioperfekter Version. Ein Wagnis. Sein erstes Album nach 21 Jahren. Melancholische, mal düstere, dann eher verträumte Balladen. Gabriel moderiert die Songs an: „Jedes Kind soll Zugang zu Bildung nach maßgeschneiderten Bedingungen und zu niedrigen Preisen haben.“ Beifall, später: „Jeder kann seine Erfahrungen im Netz hochladen. Jede schlechte Erzählung wird erzählt.“ Oder: „Wie tiefst musst du sinken, damit du aufstehst, um dich frei zu fühlen.“ So klingt der Gabriel-Kosmos.

 

https://youtu.be/oAPdAG0CBow

 

Audio-Visual Arts bedeute, so der Brite, an jedem Detail zu arbeiten, um mit Kunst eine andere Welt aufzuzeigen. Die Bühne ist schlicht, sie dient als Forum für Effekte. Lichtspiele im Chagall-Blau. Videos mit explodierenden Pilzen, Blüten, die aufgehen, Bienen, die ausschwärmen. Motive von Ai Weiwei. Träumen und tanzen. Als Gabriel schließlich den Vorschlaghammer in Form von Klassikern aus der Archivkiste holt, springt das Publikum dankbar auf. Wie bei allen altgewordenen Helden aus der eigenen Jugend, funktionieren die alten Hits. Sledgehammer, Don`t give up, Red Rain, Big Time, in your eyes. Die Zwanzigtausend schunkeln bei Solsbury Hill mit: „Krieg muss man schwänzen. Spiel ohne Grenzen“.

 

Forever young? Peter Gabriel, mittlerweile 73 Jahre alt, und über ein halbes Jahrhundert ein Mann der Musik. Quelle: Wikipedia, 2011

 

Ein schöner Abend füllt Herz, Geist und Seele, während die Abendsonne langsam hinter der Bühne versinkt. Für den verwöhnten und leicht abgestumpften Großstadtmenschen liefert Mister Peter Gabriel ausreichend emotionalen Input und Output. Das Gefühl berührt: Ich bin ein Teil von allem. Ach, und die Frage: Wo ist die Straße auf dem Weg zum Glück? Lass sie uns suchen. Ein großes Lebensgefühl wird besungen. Musik kann die Welt ein wenig bewohnbarer machen. Bis der letzte Trommelschlag von „Biko“ verstummt.

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King Kong in Brandenburg

Von oben betrachtet wirkt Tesla wie ein riesiges, notgelandetes Raumschiff in der märkischen Streusandbüchse. Mächtig, raumgreifend, ein gewaltiges Versprechen für eine bessere Zukunft. Seit gut einem Jahr rollen vor den Toren Berlins in Grünheide jede Woche rund fünftausend neue Tesla Modell Y vom Band. Abgasfreie E-Autos, gefertigt von fünfhundert Robotern, darunter „King Kong“. Bedient und betreut von etwa zehntausend Mitarbeitern, seit kurzem im Dreischichtsystem. Eine Gigafactory, errichtet im Tesla-Eil-Tempo. In etwas mehr als zwei Jahren pflanzte Elon Musk sein Riesending zwischen Brandenburger Kiefern. „Wie ein Sonnenstrahl in dunkler Zeit“, jubelte Brandenburgs Regierungschef Woidke von der SPD bei der Eröffnung. „Wir können Deutschland-Tempo“, pflichtete Kanzler Scholz bei. „Die Ansiedlung ist ein Lottogewinn“, triumphierte Arne Christiani, der Bürgermeister von Grünheide alias Tesla-City.

 

Tesla-PR-Film. Mai 2023.

 

„Unser Erfolg beruht auf unserer Weigerung, Dinge so zu tun, wie sie schon immer gemacht wurden.“ Das Tesla-Motto. Diese Devise hat Elon Musk in Grünheide zu hundert Prozent umgesetzt. Selbstbewusst werden Erfolge vermeldet, Bedenken ignoriert oder einfach zur Seite geräumt. Bislang hätten Tesla-Modelle weltweit 8,4 Millionen Tonnen CO2 eingespart, das entspreche über 20 Milliarden gefahrenen Kilometern, heißt es. Tesla hat viele Fans. Den Selfmademan Musk, der in Texas sein Mars-Projekt vorantreibt, scheint nichts aufhalten zu können. Bremsen Behörden, finden Tesla-Manager immer eine Lösung. Entweder wird einfach weitergebaut oder viele Genehmigungen erst nachträglich erteilt. Widersprüche von besorgten Bürgern werden hingehalten, nicht wenige erst nach zwei Jahren bzw. nach Fertigstellung der Anlagen beantwortet.

„Tesla ist Segen und Fluch für die Region“, sagt Sandra Ponesky vom Wasserverband Strausberg-Erkner, zuständig für 170.000 Menschen in der Tesla-Region. Das Megawerk liegt zu Teilen in einem Trinkwasserschutzgebiet. Im staubtrockenen Brandenburg fehlt mittlerweile jedoch die Regenmenge eines ganzen Jahres. Bereits im Hitzesommer 2018 wurde der Wasserverbrauch in der Region eingeschränkt. Dennoch gab es im September 2019 die Blanko-Zusage für Tesla-Chef Musk. Für die geplanten 500.000 Teslas pro Jahr in Grünheide werden 1.5 Millionen Kubikmeter Wasser benötigt. Tesla ist Großverbraucher, derzeit in der Größenordnung einer 40.000 -Einwohnerstadt. Wasser ist knapp. Nun sollen Abwasser recycelt werden, verspricht Tesla.

 

Tesla-Gigafactory in Grünheide. Bald sollen bis zu 12.000 Mitarbeiter das Modell Y auf die Straße bringen. Quelle: Tesla

 

„Hier ist quasi überall Wasser. Sieht das hier aus wie eine Wüste? Das ist lächerlich. Es regnet sehr viel. Wasser gibt´s hier im Überfluss“, kommentierte Musk vor Ort die Sorgen und Ängste von Anwohnern und Naturschützern. Namhafte Politiker standen grinsend daneben. Tesla will die Produktion weiter hochfahren. Im Endstadium würden sieben Millionen Kubikmeter Wasser benötigt, schreibt Autor Uwe Ritzer in seinem neuen Buch „Zwischen Dürre und Flut“. 1.721 Pfähle habe Tesla im Trinkwasserschutzgebiet ohne Genehmigung eingebracht. Das viele Wasser für Tesla, müsse daher auf Kosten der Allgemeinheit eingespart werden. Wegen der Wasserknappheit im Landkreis Oder-Spree darf jede Privatperson, die zuzieht, nur noch 105 L Wasser/Tag verbrauchen, gut 20 Liter weniger als der durchschnittliche Pro-Kopf-Wasserverbrauch. So entstehen „blühende Landschaften“, doch dafür sollte jederzeit genügend Wasser vorhanden sein. Was tun? Es muss mehr regnen. Vielleicht kann Pioniergott Musk auch das noch anordnen?

 

Zwei Welten begegnen sich. Mitarbeiter-Parkplatz in Grünheide. Foto: Christian Heisig

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Noch einen Doppelten!

„Er hat sechzehn doppelte Whiskey getrunken – an einem Abend“, erzählt der junge Kellner im Trubel der vollen, altenglischen Kneipe. An den Tresen lärmt eine Gruppe junger Studenten. „Er hat hier in der Nähe gewohnt, war jeden Abend hier.“ Auf riesigen Flachbildschirmen links und rechts der historischen, hölzernen Eicheneinrichtung aus dem 19. Jahrhunderte flimmert Basketball. NBA-Playoffs. New York Knicks vs. Miami Heat. „Er war ein großer Dichter. Ja, das war er!“, ruft der Kellner noch. Seine Augen leuchten, dann verschwindet er, um seinem Job nachzugehen. Ich entdecke den standhaften Whiskeytrinker seitlich von den Tresen in der linken Ecke. Dort hängt Dylan Thomas im stabilen, goldenen Rahmen. Der Mann wurde 39 Jahre alt. Ein genialer Dichter und begnadeter Trinker. Das White Horse Tavern, seine Lieblingskneipe in Greenwich Village, überlebte er nicht. Der Kellner zwinkert mir noch mal zu. Dylan Thomas lebt weiter.

 

„Unsere Stadt, die unterm Milchwald ruht/die ist nicht ganz schlecht, und auch nicht ganz gut. Oh, lass uns den morgenden Tag noch sehen/ich bitte Dich, lass uns die Nacht überstehen/und wir neigen uns vor deiner Sonnen Pracht/und sagen Lebewohl, aber nur für heute Nacht!“ Dylan Thomas. Unter dem Milchwald.

 

Wer war Dylan Thomas? Der Waliser gilt als Ausnahme-Lyriker des 20. Jahrhunderts, ein gefallener Engel, Trunkenbold und Schürzenjäger. War er der Village Drunk, der Dorfsäufer? Es gibt viele Klischees, die Dylan Thomas (1914 – 1953) angehängt wurden. Er bleibt ein weltberühmter Unbekannter. Bereits zu Lebzeiten war Dylan Thomas ein Multimedia-Star, und er hat mit seinen Versen viele Künstler beeinflusst: Bob Dylan, Igor Strawinsky, die Rolling Stones und die Beatles. Die Schauspielerin Catherine Zeta Jones, selbst Waliserin, nennt ihre eigene Produktionsfirma „Milchwald“. Van Morrison und John Cale haben Songs nach Thomas-Versen komponiert. Van Morrison widmete ihm sein Lied „For Mr. Thomas“. John Cale „Velvet Underground“ vertonte seine Gedichte.

 

Dylan Thomas (1914-1953). Der Waliser war Namenspatron für Bob Dylan, der ihn verehrt.

 

Seine berühmteste Geschichte heißt „Unter dem Milchwald“, übersetzt von Erich Fried. Zwanzig Jahre hat er an jedem Wort gefeilt. Die Kleinstadtgeschichte spielt in Llarregub. Rückwärts gelesen bedeutet Bugger all = Rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Kneipe steht: „Drink till late“, was sollte man auch sonst tun? Ein Frühlingstag. In einer mondlosen Nacht beginnt alles. Stunden, in denen die Toten sprechen, die Ertrunkenen. Bald melden sich die Einsamen und Liebenden in ihren Betten zu Wort. Es ist nur ein Tag von vielen, dem andere vorausgegangen sind und andere folgen werden. Kneipenwirt Sindbad verzehrt sich nach der spröden Schullehrerin Gossemer Beynon, die auch will, aber sich nicht traut. Briefträger Willy Nilly kann den Empfängern immer erzählen, was drinsteht, weil seine Frau alle Briefe aufdampft. Beim aufbrausenden Metzger Beynon gibt´s auch Katze. Den blinden Käptn Cat besuchen seine ertrunkenen Seeleute. Kritikerpapst Friedrich Luft war nach der Premiere 1955 aus dem Häuschen. „Seine quellende Sprache senkt sich wie ein warmer Regen über eine Landschaft des Alltags. Und siehe, nun blühen die Kleinstadtfiguren, werden spektakulär, werden in all ihrer Spießigkeit interessant, rund, tragisch oder komisch.“

 

Das White Horse Tavern. Seit 1880 Hort für Whiskey-Fans und Kneipennostalgiker. NYC. Greenwich Village. 567 Hudson.

 

So klingt der Dylan-Sound: „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt. Sternenlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See.“ Das großartige Stück wird wegen der siebzig Sprechrollen nur selten gespielt. Zu aufwändig. Aber das kleine Theaterdorf Netzeband, knapp hundert Kilometer nördlich von Berlin, zelebriert seit über 25 Jahren das Kultstück des bei uns nahezu unbekannten Dichters. Diesen Sommer wird wieder Ende Juni/Anfang Juli 2023 gespielt. Ein Erlebnis mit überlebensgroßen Puppen, 55 Stimmen vom Band und zum Abschluss die Dylan Thomas gewidmete Hymne: „Stairways to heaven“. Hingehen. Jede Minute lohnt sich.

 

 

Die Legende erzählt, Dylan Thomas habe den Riesenerfolg seiner ersten szenischen Lesung in New York im November 1953 drei Tage und Nächte lang im White Horse Tavern gefeiert. Danach sei er tot umgefallen. Die Bühnenpremiere hat Dichter Thomas jedenfalls nie erlebt. Ich trinke mein 9-Dollar-Bier aus und gehe mit meinem Freund hinaus in die laue Nacht von New York. Die Stadt grüßt mit dem nervigen Sirenensound vorbeirasender Rettungswagen.

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Was Nationen vereint

Was treibt uns an? Glaube, Liebe, Hoffnung! In New York steht ein Haus, in dem Menschheitsträume wahr werden sollen. Eine Welt ohne Kriege, ohne Hunger, Armut, Ausbeutung und allmächtige Despoten. Ohne unvorstellbaren Reichtum und himmelschreiende Not. Dieses Haus hat viele Etagen, steht trotzig-mächtig am East River von New York. Hier gelten eigene Gesetze und Regeln, die der Vereinten Nationen.  Was für eine großartige Idee. 193 Staaten treffen sich hier – von Afghanistan bis Zambia (englische Schreibweise), um Lösungen zu suchen, um Umweltzerstörung, Genozide und immer wieder neue Kriege zu verhindern, wie gerade in der Ukraine, im Sudan oder Jemen. Das große Haus, entworfen vom Brasilianer Oscar Niemeyer, entstand nach 1945 auf den Trümmern des II. Weltkrieges mit der atomaren Eskalation von Hiroshima und Nagasaki.

 

Das Haus am East River. Seit 1945 gibt es die Vereinten Nationen.

 

Wer die UNO besucht, wird von einer Pistole mit verknotetem Lauf begrüßt. „Non Violence“ heißt die Skulptur des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd. Sie ist John Lennon gewidmet. Errichtet 1988, ein Jahr vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, als Luxemburg „The knotted gun“ der UN schenkte. Im Innern des Weltparlaments sind Friedensbotschaften in Form und Ausstellungen und Gemälden anzutreffen. Im Untergeschoß heißt es zur ambitionierten „UNO-Agenda 2030“: „One child, one teacher, one book and one pen can change the world”. Auf jedem Schritt grüßen Mahnzeichen. Holocaust, Genozide in Ruanda, Kambodscha, Bosnien-Herzegowina oder die fatalen Langzeitfolgen von Landminen in Vietnam, in der Ukraine und anderswo. Das ganze Haus atmet ein Stück Weltgewissen. Doch stets klingt die Botschaft mit, eine bessere Welt ist machbar. Wirklich?

 

Schwerter zu Pflugscharen. Skulptur im Garten der UN. (nicht öffentlich zugänglich)

 

„Willkommen im Haus der Vereinten Nationen. Hier werden alle wichtigen Fragen der Menschheit behandelt“, begrüßt der Guide die Besuchergruppe. Der junge Mann führt uns bei seiner einstündigen Tour sogleich in das Heiligtum: Der Saal des Ständigen Sicherheitsrates. Gedämpfte, geradezu weihevolle Atmosphäre. Mit blauen (für die UNO), roten (Krieg/Konflikte) und grünen (Hoffnung) Stühlen. Über 9.300-mal hat der Sicherheitsrat getagt. 15 Mitgliedsstaaten verhandeln hier, fünf mit Vetorecht in sechs Verhandlungssprachen. Hier wird gestritten, gefordert und blockiert. Eine bessere Welt? Weniger Kriege? Eine Reform des Sicherheitsrates? Klingt unmöglich. Ist die UNO also ein Papiertiger? Der kompetente Guide spürt unsere Skepsis. Die Gruppe ist so vielfältig wie die Besatzung der Arche Noah. Menschen aus allen Kontinenten sind zusammengekommen.

 

Sitz des Sicherheitsrates. Herzstück der UNO. Zahnloser Tiger oder wichtiges Instrument der Krisenlösung?

 

„Die UNO hat viel erreicht“, betont der UN-Mann, als wir den Sicherheitssaal verlassen haben. 1945 seien mehr als die Hälfte der Länder dieser Erde Kolonien gewesen. Die UNO habe das Ziel der Dekolonisation erreicht, das letzte Land – die Inselgruppe Palau – habe 1994 ihre Unabhängigkeit von den USA erreicht. „Ist das nichts?“ Wir streifen über teppichgedämpfte Flure zum Großen Plenarsaal. Sitz der UN-Vollversammlung. Vor einem Bildschirm mit den 17 Zielen der UN bis 2030 – Abschaffung des Hungers bis sauberes Wasser für alle – sagt der Guide: „Heute haben wir weltweit das Wahlrecht für Frauen. Wer hat das Stimmrecht als erstes eingeführt?“ – Eine Französin ruft Neuseeland. „Richtig, 1893. Und wer als Letztes?“ – „Das waren wir, erst 1971“, bemerkt ein Ehepaar aus der Schweiz, verlegen lächelnd. Der Guide grinst: „Sehen Sie. Die Welt ändert sich. Das Beste: alle können sich auf die UN-Charta berufen. Ist doch eine Menge!“

 

Die Statue Saint Agnes hat im August 1945 wie durch ein Wunder den Atomschlag von Nagasaki überstanden. Nur die Rückseite ist verkohlt.

 

Im großen Saal erzählt der UN-Guide von Fidel Castro, der statt fünfzehn Minuten vier Stunden geredet hat. Danach folgt die berühmte Anekdote von Sowjetführer Nikita Chruschtschow. Als der philippinische Delegierte dazwischenrief, zog Chruschtschow den Schuh aus und polterte mit ihm auf das Rednerpult. „Mehr Gewalt gab es in diesem Saal nicht“, lacht der Guide. Die Stunde ist um, die Tour zu Ende. Es geht zum Ausgang, vorbei an der Statue von Saint Agnes aus Nagasaki, die wie durch ein Wunder die Atombombe am 9. August 1945 heil überstand. Nur ihre Rückseite ist rußgeschwärzt. „Noch Fragen?“ –  Nein. Beifall brandet auf. Auf Wiedersehen in dem Haus, das so viele Hoffnungen schürt und mindestens so viele Enttäuschungen produziert hat. Eine große Menschheitsidee, langsam wie eine Schnecke. Aber eine UN, die dennoch unverzichtbar ist. Ein Besuch, der sich lohnt.

 

The Arc of Return. 2015 weihte die UN das Mahnmal für die Opfer der Versklavung ein. (nur mit Besucherausweis zugänglich)

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Thank you for travelling

Geschafft. Endlich zuhause. Mit exakt 84 Minuten Verspätung von Hamburg nach Berlin. „Sänk yu for träveling with Deutsche Bahn“, trö(s)tet die Stimme aus dem knarzenden Bord-Lautsprecher. Egal. Hauptsache angekommen. In den letzten Wochen bin ich viel gereist. Kreuz und quer durch Deutschland. Berlin, Hamburg, Stuttgart, Leipzig, Jena, Bodensee. Ein Genuss in vollen Zügen. Die Bahn mein Freund und Helfer. Halleluja!  Ich gehöre zu den rund 155 Millionen ICE-Reisenden in diesem Jahr. Ich bin Teil der Verkehrswende. – Und? Es ist auf jeden Fall nie langweilig. Ich habe viel gesehen, noch mehr erlebt, mehr als einmal gestaunt und mich manches Mal geärgert. Bereits die Abreise ist ein Abenteuer. Warten am vollen Bahnsteig. Die Wagenreihung ändert sich. Funktionierende Hinweistafeln: Fehlanzeige. Also Konzentration: strategisch positionieren, durchatmen, losrennen, den Waggon entern, zum reservierten Platz durchkämpfen. Den bereits sitzenden Mitreisenden höflich zum Aufstehen bewegen. Wenn es klappt, dankbar in den Sitz sinken. Wie schön.

 

 

Die Reise beginnt. Doch nach kurzer Fahrt fährt der ICE langsamer, bleibt stehen. Jetzt heißt es: „Verspätung durch vorausfahrenden Zug oder dichte Zugfolge oder Notarzteinsatz oder betriebsfremde Personen im Gleisbett“. Kurzum: Man steht wie auf der vollen Autobahn. Meine Bilanz: Mehrere Male Anschlusszüge verpasst. Notwendig sind ferner: Training der Schließmuskeln, Unterdrückung des Harndrangs bei häufig geschlossenen oder verstopften Toiletten. Proviant vorab sichern, das hochpreisige Bordrestaurant ist entweder voll, ausverkauft oder wegen Personalmangel ganz geschlossen. Kein Wunder, dass das neue 49-Euro-Ticket nicht ICE-kompatibel ist. Der versprochene Deutschland-Takt? – jede Stunde in jeder größeren Stadt ein überregionaler Zug –. Er wurde von 2030 auf 2070 verschoben. Verkehrswende? Was ist das?

Was erstklassig am Bahnreisen ist. Der Fahrgast genießt Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Landes. Ein Stimmen-Potpourri: „Das ist mein Platz. Sorry, den habe ich auch reserviert.“ – Der Lauttelefonierer: „Jawohl, Frau Krause, so machen wir das. Ist mein Hotel storniert?“ Die Ehegattin: „Hasilein. Du hast heute noch keinen einzigen netten Satz gesagt, den ich mir merken möchte.“ Der Vielfahrer zum Sitznachbarn: „Die können das einfach nicht. Die Bahn ist mein Schicksal. Zu teuer, zu voll, zu spät.“ Immerhin läuft die Bahn-PR-Maschine auf Hochtouren. „Bonus-Reisen, Komfort-Check-In, „Mehr Bahn für alle!“. In der Bahnwerbewelt hängt die Welt voller Geigen. Tja. Deshalb erstklassige Preise, zweit- bis drittklassige Realität. Es knarzt wieder der Lautsprecher: „Sie werden leider nicht alle Anschlüsse erreichen. Unsere Verspätung liegt bei mittlerweile 35 Minuten. Wir bitten um Entschuldigung.“

 

Vieles passt bei der Bahn nicht zusammen. Folge verfehlter und/oder unterlassener Bahnpolitik der letzten Jahre durch die Minister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle aus Bayern, alle von der CSU. Foto: holzijue

 

Im vergangenen Jahr war die Deutsche Bahn so unpünktlich wie seit zehn Jahren nicht mehr. Trotzdem spendierten sich die Chefs Boni. Vorstandsvorsitzender Richard Lutz erhielt 2022 exakt 2,24 Millionen Euro. Macht ein Plus von 1,26 Millionen Euro. Der Aufsichtsrat hat mittlerweile die Boni-Zahlungen für Manager (+14%) vorerst gestoppt. Motto: kein gutes Geld für schlechte Leistungen. Für alle Bahnmitarbeiter soll es nach Warnstreiks übrigens 5% mehr Lohn geben.

Der Bahnsong von Wise Guys ist mehr als zehn Jahre alt. Was hat sich geändert?

 

Trotzdem kann Bahnfahren so schön sein. Wie reizvoll ist ein Fensterplatz. Das Land zieht vorbei. Kein Stress, kein Stau, dazu dank Öko-Strom ein sanftes Klima-Gewissen. Zusätzlich immer wieder Überraschungen. Kurz vor Berlin herrscht im überfüllten ICE Aufregung. Zwei junge Kids rennen die Gänge entlang. Die Schaffnerin hastet atemlos hinterher. „Ihr seid ohne Tickets, dazu noch minderjährig.“ Der Zug hält an. Die Türen öffnen sich. Die Jungs rennen hasenschlagend Richtung Ausgang. Die alarmierte Polizei steht am anderen Ende. Der ICE ist lang. Um die 350 Meter. Da kommen die Ordnungshüter nicht hinterher. Die beiden Flitzer haben offenbar das Deutschland-Ticket für Null Euro gewählt. Die Schaffnerin atmet schwer, lässt die Schultern hängen. Wer möchte schon ihren Job machen?

Hier noch ein paar Tipps zum Entspannen. Die besten Bahn-Songs.