Archive for : Oktober, 2023

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Liebesgrüße aus Russland

Seit mehr als drei Jahrzehnten reist der Potsdamer Frank Gaudlitz nach Russland. Im Gepäck: anfangs ein analoger Kleinbildapparat, später eine moderne Digitalkamera. Das Riesenreich hat den Fotografen nie losgelassen, berichtet er, dessen Alltag, spröder Charme und schleichender Verfall. Etappen des stürmischen Wandel hält er seit den späten Achtzigern mit seiner Kamera fest. Von Schwarz-Weiß bis Farbe. Gaudlitz fasziniert „die Weite des Landes, die das Schwere, das Tiefe hervorbringt.“ Und: „Es sind tolle, warmherzige Menschen“. Er schätzt das Land von Dostojewski, Gorki und Tschechow. Er weiß genau, dass es das Land der kleinen Leute ist, aber auch  der neureichen Oligarchen und Tschekisten mit Putin an der Spitze. Seine beeindruckenden Momentaufnahmen sind derzeit in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf in Berlin zu sehen.

 

Kadett in der Moskauer Metro. 2017. Foto Frank Gaudlitz

 

1988 reiste Gaudlitz in das Perestroika-Russland von Gorbatschow. Ein zweites Mal 1989. Da sind die Vorboten des Untergangs eines totgeweihten Systems zu spüren. Gaudlitz, Jahrgang 1958, sind Nähe und Unmittelbarkeit wichtig. Nichts an seinen Bildern wird arrangiert oder inszeniert. Geduldig wartet er auf den richtigen Moment. Der Potsdamer fotografiert auf Straßen und Plätzen, am Rande von Paraden und bei Hochzeiten, auf Bahnhöfen und Schwarzmärkten, in Fabriken und Sperrgebieten. 1992, bei seiner dritten Exkursion, findet er ein verändertes Land vor. Das Lächeln in den Gesichtern sei verschwunden, erzählt er. In der toxischen Goldgräberzeit der Jelzin-Ära war alles möglich:  Kometenhafter Aufstieg oder freier Fall in Armut, Apathie und Wodkasucht.

 

„Im Krieg bin ich geboren, im Krieg werde ich sterben. Mein Sohn hat in Sewastopol bei der U-Boot-Flotte gedient. Er wohnt in der Ukraine. Jetzt bekämpfen ihn seine eigenen Leute.“ Tamara C., 79 Jahre, aus Sokrjany, Ukraine, jetzt in Stolniceni, Moldau. Oktober 2022. Foto Frank Gaudlitz, 2022.

 

Bei seinen nächsten Reisen 2012 und 2017 hatte sich Russland ein weiteres Mal verändert. Im Alltag zeigen sich mehr Symbole von Pathos und Patriotismus. Alte Sowjetmuster blühen auf.  Selbst in der Ballettschule wird den Kindern militärische Erziehung nahegelegt. 2021 folgte der Fotograf den Spuren Alexander von Humboldts, reiste von St. Petersburg bis ins sibirische Tobolsk. Der zweite Teil von Omsk nach Astrachan war für 2022/23 geplant. Daraus wurde nichts. Putins Überfall auf die Ukraine stoppte alle Pläne. Seitdem sprechen die Waffen. Gaudlitz machte sich stattdessen in den einstigen Unionsrepubliken Moldau, Georgien und Armenien auf die Suche nach Kriegsflüchtlingen. Die Gesichter der Exilanten aus Russland und der Ukraine haben eines gemeinsam: sie sind von Angst und Trauer gezeichnet.

Was hat der Krieg mit den Menschen gemacht, frage ich den Potsdamer Fotografen zum Abschluss. „Putin hat ihnen die Zukunft genommen.“

 

Russische Emigranten nach ihrer Flucht in Tiflis, Georgien im Exil. April 2023. Foto Frank Gaudlitz

 

Frank Gaudlitz. Kosmos Russland. Kommunale Galerie Berlin-Wilmersdorf bis 5. November 2023.

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Kain und Abel

Nicht zu ertragen. Im Namen Gottes werden Menschen gequält, gefoltert, gefangengenommen, abgeschlachtet. Wie einst SS-Einsatzgruppen metzeln schwarzuniformierte Isadin-al-Kassam-Brigaden Juden nieder. Weltweit verbreitet mit Hilfe unzähliger Body- Handy- oder Dashcams. Ein stundenlanges Massaker am frühen Sabbat-Morgen des 7. Oktober 2023. Auf Straßen, in Kibbuzen, bei einem alternativen Nova-Festival. Dort hatten sich junge Menschen zum israelischen Wüsten-Rave „Sukkot Gathering“ getroffen, um bei Yoga, Goa-, Psy- und Trance-Techno in eine „Reise der Einheit und Liebe einzutauchen. An einem neuen und spektakulären Ort, der die beste Musik der Welt, außergewöhnliche und vielseitige künstlerische Darbietungen und viele andere atemberaubende Inhalte kombiniert“, so der Einladungstext. Für 260 junge Menschen wurde das Nova-Fest eine Reise in den Tod. Mittlerweile ist die Gesamtzahl der Toten in Israel auf 1.300 gestiegen. In Gaza sind – Stand: 14. Oktober 2023 – rund 1.800 Opfer zu beklagen.

Was in diesen Stunden folgt, ist alttestamentarische Vergeltung – gleichfalls im Namen Gottes. „Denn es ist Haschem, dein Gott, der mit dir geht, um deine Feinde zu bekämpfen, damit du gerettet wirst“. Mit diesem Gebet zieht die Israelische Armee IDF in die Schlacht, um alle Hamas-Terroristen zu „vernichten“. Die Gewaltspirale dreht sich weiter. Stopp! Wir schreiben das Jahr 2023. Warum bekämpfen sich Konfliktparteien im Namen des Schöpfers wie in den Kreuzzügen des Mittelalters? Mir fehlen die Worte. Wo ist Gott? Warum lässt er das zu? Das frage ich mich als gläubiger Dreiviertel-Christ. Woran kann ich mich klammern? Wer zeigt den richtigen Weg? Wo ist die Reset-Taste bei dieser Höllenreise?

Der britische öffentlich-rechtliche Sender Channel 4 hat einen nüchternen Bericht über den Ablauf des Hamas-Massakers in Israel veröffentlicht. Vorab eine Warnung! Es sind sehr verstörende Szenen zu sehen Doch kurz vor Ende flackert ein Hoffnungsschimmer auf. Ab ca. Minute 5 erzählt ein Rentnerpaar aus dem überfallenen Ort Ofahim, wie sie das Morden und Brandschatzen überlebt hat. Die beiden verwickeln die fünf Kämpfer in ihrem Haus in Gespräche. „Du bist mein Bruder. Wir wollen Frieden“, sagt die Frau in Todesangst. „Nein, ich bin nicht dein Bruder“, entgegnet der Hamas-Mann. Er hält seine Pistole an den Kopf des Hausherrn. Die Alten versorgen ihre Feinde mit Cola, Hühnchen und Reis. Stunden später kann sie die israelische Armee unversehrt befreien. Das Paar überlebt das Massaker. Ein Wunder? Ja. Wenigstens ein kleines.

 

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Putins Geburtstag

Am 7. Oktober 2023 feiert Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen 71. Geburtstag. Vor siebzehn Jahren, am 7. Oktober 2006 fallen an seinem Ehrentag gegen 17 Uhr vier Schüsse in einem Moskauer Treppenhaus. Die Journalistin Anna Politkowskaja wird direkt vor ihrer Wohnung ermordet. Mit Hilfe einer Überwachungskamera kann der unmaskierte Täter gefilmt und identifiziert werden, doch er wird von der Polizei nie gefasst. Der Mord ist das tragische Ende einer jahrelangen Verfolgung durch russische Sicherheitsbehörden. Bis heute gilt Anna Politkowskaja als eine der wichtigsten Kritikerinnen von Putins Regime. 2004 schrieb sie: „Russland steht davor, in einem von Putin und seiner politischen Kurzsichtigkeit gegrabenen Abgrund zu stürzen.“

 

Als ihre Mutter im Kugelhagel starb, war Vera Politkowskaja 26 Jahre alt und schwanger. In ihrem Buch Meine Mutter hätte es Krieg genannt“, beschreibt sie Anna als mutige, traurig-entschlossene, aber auch bisweilen strenge Mutter „Mit schlaflosen Augen“ habe sie unerschrocken über den grausamen Tschetschenien-Krieg berichtet. Sie schilderte wie Soldaten und Offiziere, Banditen, vor allem aber gewöhnliche Menschen in den Fleischwolf des Feldzuges gerieten. Anna deckte Amtsmissbrauch, Willkür und Korruption in Armee, Wirtschaft und im russischen Alltag auf. Kritisch begleitete sie Putins Aufstieg zum uneingeschränkten Herrscher. Vera über ihre Mutter: „Sie war fast immer Überbringerin schlechter Nachrichten“. Die unbequeme Kassandra hat Putin keine Sekunde vergessen. Die bis zur völligen Erschöpfung arbeitende Journalistin wurde zur Staatsfeindin. Vera zieht mittlerweile eine deprimierende Bilanz: Ihre vielen Berichte hätten am Ende „nichts geändert“.

 

Mit Anna Politkowskaja in Leipzig auf der Buchmesse. März 2005. Foto: Christiane Munsberg

 

Auch den Ukraine-Feldzug, so schätzt Vera Politkowskaja, unterstützen 75% der Russen, obwohl längst massenweise Gefallene in Polyäthylen-Säcken von der Front zurückkehren. Im Volksmund heißen die Transporte „Fracht 200“. Der Siegeswahn werde den Menschen durch ständige Propaganda in den Staatsmedien eingeimpft So werde der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis täglich beschworen. Dieser Kult sei barbarisch und bizarr. Was bringt die Zukunft?  „Nichts wird besser, wenn Putin weg ist“, sagt Vera.

 

Banksy. März 2022.

 

Was wird aus Russland? Die Opposition ist zerschlagen, verhaftet oder im Ausland. Mehr als sechzigtausend Kreative, Künstler und Dissidenten hätten das Land verlassen, heißt es. Niemand kennt die genaue Zahl. Zudem: Außerhalb des Moskauer Autobahnrings beginnt das eigentliche Russland. In den Weiten des riesigen Landes leben viele Menschen in Armut, nicht wenige von Kindergeld und Schwarzarbeit. Die Not ist groß. Kinder gehen nicht zu Schule. Sie sammeln Pilze, Fallholz, Beeren und Altmetall. „Im Dorfladen gibt es nur noch Fusel, gestreckten Glasreiniger“, notiert die Journalistin Jelena Kostjutschenko in ihrem gleichfalls neuen Buch Das Land, das ich liebe. Jelena bewundert die ermordete Anna Politkowskaja. Die junge Journalistin berichtete wie ihr großes Vorbild für die Nowaja Gaseta. Die letzte unabhängige Tageszeitung Russlands stellte im März 2022 wenige Wochen nach Kriegsbeginn ihr Erscheinen ein. Seit Putins Überfall lebt Jelena Kostjutschenko im Exil. Genau wie Vera Politkowskaja. Sie sind zwei von Hunderttausenden, die für das andere Russland stehen.