Archive for : Dezember, 2023

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Willkommen 2024!

„Arm, aber sexy.“ Vor genau zwanzig Jahren platzierte der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seine Botschaft. Kommt nach Berlin! Zu diesem Zeitpunkt war die Hauptstadt pleite. Wowereit und sein Finanzsenator Thilo Sarrazin verkauften ihr Silber. Kommunale Betriebe, Immobilien und zehntausende Wohnungen, um der Schuldenkrise des CDU-Vorgängersenats Herr zu werden. Fortan hieß es also: arm, aber sexy. Der flotte Spruch des beliebten Partykönigs Wowereit entwickelte für das Stadtmarketing die Wirkung eines Sechsers im Lotto. Sexy zu sein passte wie der Deckel auf den leeren Topf. Zunächst kamen junge Kreative aus aller Welt, von Sindelfingen bis Sidney, von Castrop-Rauxel bis Santiago de Chile. Zehntausende Abenteurer, Künstler und Glücksritter fanden Berlin vor allem deshalb sexy, weil arm. Niedrige Mieten und Lofts, billige Döner und coole Clubs, alles war erschwinglich. Berlin, the place to be!

 

Immer ein wenig anders. Damenmode. Gesehen auf einem Berliner Wochenmarkt.

 

Derart angelockt folgten Projektentwickler und Makler, Investoren und Hedge-Fonds von Shanghai bis Stockholm. Schaut auf diese Stadt! Sie empfängt euch mit offenen Armen. Alles billig. Mit gigantischen Renditechancen. Das internationale Kapital ließ sich nicht zweimal bitten. Wohnblocks und ganze Straßenzüge wechselten die Besitzer. „Verwirklichen Sie Ihre Träume“, hieß die neue Parole. In angesagten Szenevierteln am Kollwitzplatz oder in der Kreuzberger Bergmannstraße wurden Bevölkerungsteile ausgetauscht. Die neuen Bewohner waren jung, dynamisch und wohlhabend. Sie brachten Hafermilch, Lastenfahrrad, kurz ein „neues urbanes Bewusstsein“ an die Spree. Volvo-fahrende Neu-Berliner übernahmen mit behelmten Kindern auf Spielplätzen die Altbauquartiere. Die Söhne und Töchter der Erbengeneration aus Heilbronn oder Hildesheim eroberten Viertel, wo früher neben Langzeitstudis Verkäuferinnen, Busfahrer oder Klempner wohnten.

 

Wohnen in Berlin? Improvisation, Glück und Ausdauer sind vonnöten. Foto: Constantin Grolig

 

Genau zwanzig Jahre nach dem Arm, aber sexy-Spruch präsentiert sich ein neues, anderes Berlin. Heute heißt es: In der Mitte neureich, sonst schlecht gelaunt. Günstige Ateliers, kultige Kellerclubs oder bezahlbare Stuckwohnungen sind längst unbezahlbar geworden. Selbst im eher windschattigen Bezirk Wilmersdorf, kein Hotspot der Hipster, wird eine neue 5-Zimmer-Eigentumswohnung für 3.7 Millionen Euro angeboten. Irgendein ein zahlungskräftiger Investor wird sich wohl finden, der für das „lukrative Investment“ Leerstand in Kauf nimmt oder die Wohnung im besten Fall für „hochpreisige“ Mieten anbietet. Das Kapital triumphiert. Die Politik schaut zu. Die neue Gründerzeit der letzten Jahre spülte eine kleine Zahl von Gewinnern nach oben, die große Gemeinde der Arm-aber-Sexy-Alteingesessenen jedoch hinaus ins Umland. Eigenbedarf ist das neue Schreckenswort. Berlin hat sich verändert.

 

Nichts Neues. Berlin am Limit. Das Anti-Kriegsmuseum musste 1930 wegen Geldsorgen geschlossen werden.

 

Und nun? Seit drei Jahren schmort das positive Votum eines Volksentscheids (57,6%) zur Enteignung der großen Wohnungskonzerne auf dem Abstellgleis. Nichts tut sich. Die Wunderformel „Bauen, bauen, bauen“ greift in Inflations- und Heizungsgesetz-Zeiten nicht. Im Gegenteil: Es werden nach wie vor nur wenige preiswerte Wohnungen gebaut. Auf einer Party kurz vor Silvester erzählte eine Frau von ihrem letzten Friseurbesuch. „Eine Stimmung wie 1989! Kurz vor dem Vulkanausbruch!“, legt sie los. Als ich als einziger mit westlichem Migrationshintergrund nachfrage, winkt sie nur ab: „Ach, weißte. Einfach alles läuft schief.“

Ich wünsche allen ein frohes, glückliches und gesundes 2024 mit einer sicheren Bleibe.

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Weihnachten 2023

Wassim Rassuk tätowiert christliche Motive. Die Madonna, die Auferstehung Jesu, seine Kreuzigung. Der fünfzigjährige Wassim lebt in Ost-Jerusalem, gehört zur kleinen Minderheit der koptischen Christen und führt in der 27. Generation einen kleinen Tattoo-Laden. Seine beiden erwachsenen Söhne sollen sein Geschäft einmal übernehmen. Seit siebenhundert Jahren stechen die Rassuks verschiedene Motive in die Haut, die ein Leben lang bleiben. Momentan gehen die Geschäfte schlecht. Wegen des Krieges bleiben Touristen aus aller Welt aus. Es ist nichts zu tun. Ab und zu ist Luftalarm. Am Himmel werden Hamas-Raketen vom israelischen Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Einen Bunker hat die christlich-arabische Familie Russek nicht. Wohin sollten sie also flüchten? Sie leben in der Altstadt von Jerusalem, mitten im Heiligen Land. In einer Region wie ein Pulverfass, in der sich derzeit die Menschen mit unvorstellbarem Hass abschlachten.

 

Wassim Rassuk aus Jerusalem. Tätowierer in der 27. Generation.

 

Wassim Rassuk ist staatenlos. Einen israelischen Pass hat er nicht, nur einen Aufenthaltsstatus. Der Tätowierer lebt als palästinensischer Christ zwischen allen Stühlen. Dieses Weihnachten soll nicht ausfallen, sagt er, aber es werde anders. Weniger glanzvoll, weniger hoffnungsfroh. Einen Baum will er dennoch aufstellen, für seine neunjährige Tochter. Wassim betont: „Ich persönlich bete für alle, die leiden.“ In seinem Freundeskreis gibt es viele Juden, Christen und Muslime. Man sei weiter im Gespräch, irgendwie versuche man den Faden nicht reißen zu lassen. Der ZEIT sagt er noch: „Ich habe kein Problem damit, als Kopte und Palästinenser an der Seite des jüdischen Volkes zu leben, aber ich habe ein Problem damit, an der Seite von jüdischen Rechtsextremen zu leben, die mich aus meinem Land vertreiben wollen.“

 

 

Ich wünsche Wassim Rassuk und seiner Familie in Jerusalem friedliche und gesegnete Weihnachten. Und natürlich allen, die bis hierher durchgehalten und weitergelesen haben. Vielen Dank für Eure/Ihre Treue.

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You never walk alone

Du gehst niemals allein. Ein stimmungsvoller Fußballsong. Eine beliebte Floskel des Kanzlers. Und doch gehen Millionen Menschen allein durch ihr Leben – und nicht unbedingt freiwillig und selbstbestimmt. Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich einsam – gerade zu Weihnachten. Nach Einschätzung der Stiftung Patientenschutz ist Einsamkeit die größte Volkskrankheit in Deutschland. Bei der Telefonseelsorge drehe sich jeder vierte Anruf um das Gefühl des Alleinseins. Einsamkeit verbreite sich wie ein Virus. Die Pandemie mit dem Zwang zur Selbst-Isolation habe diesen Trend verstärkt. Was passiert? Menschen flüchten in virtuelle Social-Media-Welten. Es werden immer mehr: Verlassene und Witwen, Arbeitslose und Außenseiter, Abgehängte und Alleinerziehende. Aber auch viele Jugendliche und ganz besonders die 60+-Generation. Wer raus ist, findet nur schwer wieder rein. Einsame bleiben nahezu unsichtbar. Sie frühstücken allein, schlagen den Kragen hoch, gehen nach dem Abendbrot allein ins Bett. Wer ist das schon gerne? So lonely. Ist Einsamkeit ansteckend?

Hier vier Songs, die sich um das Thema Einsamkeit drehen.

 

Die Bundesregierung hat vor kurzem 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit beschlossen. Motto: „Gemeinsam gegen Einsamkeit“. Geht das? Staatliche Dekrete gegen Einsamkeit? Es ist einen Versuch wert. Diese lobenswerte Initiative der Ampel-Koalition ist in deren Dauerclinch um Haushalt, Klimaschutz oder Bürgergeld fast untergegangen. So definiert das Familienministerium das Problem: „Einsamkeit entsteht, wenn die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der empfundene Mangel kann sich sowohl auf die Zahl der Kontakte als auch auf die Tiefe und Enge der Bindungen beziehen. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, daher sind die Ursachen für Einsamkeit individuell und lassen sich nur schwer verallgemeinern.“

 

 

„Die Einsamkeit ist schrecklich, aber auf erhabene Art“, erklärte einst Philosoph Immanuel Kant. Das Leitbild der modernen Millennials ist das Gegenteil: Kreativ sein. Dabei sein. Mitteilen. Essen fotografieren. Live-Events häppchenweise mitschneiden. Alle Bilder sofort posten. „Fara una bella figura“, sich aufs Äußere und die Performance konzentrieren. Ansehen und Aktion muss geteilt werden, um jeden Preis. Das Leben als Social-Media-Material begreifen. Diese permanente digitale Selbstinszenierung kann am Ende in die Falle führen – in Illusionen, Isolation und Einsamkeit.

 

 

Manchen hilft ein Tagebuch als stiller Ort der Einsamkeit, als Freund und Schutzraum. Musik, Sport oder gemeinsame Aktivitäten helfen mehr als jede virtuelle Wisch- und Weg-Welt, in der man leicht stundenlang versacken kann, ohne sich aber ein Stückchen verbundener zu fühlen. Soziale Nähe hilft gegen Einsamkeit, damit gegen Krankheiten. Hautkontakte senken den Blutdruck und beruhigen Atem- und Herzfrequenz. Bereits längere direkte Augenkontakte haben diesen heilenden Effekt. Ausprobieren!

 

Sehr berührender Song von John Prine zum Schluss: Hello in There aus dem Jahr 1971

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Eiffelturm zu verkaufen

Als der Junge zehn ist, beschließt er: „Ich, Victor Lustig, schwöre hiermit, reich zu werden und genau das zu tun, was mir Freude macht.“ An diesen Schwur hält er sich zeitlebens. Als der Junge erwachsen wird, liegt ihm die Welt zu Füßen. Victor Lustig bricht aus der engen K.u.K-Provinz in der Nähe von Wien auf, um sein Glück zu machen: als Taschendieb, Fälscher, Betrüger, Hochstapler und hochgeschätzter Gentleman-Ganove. Alles, was fürs Leben wichtig ist, lernt er in Paris bei der alternden Bordellchefin La Dame. „Jeder sehnt sich nach etwas“, bringt Madame dem kleinen Victor bei: Erkenne die Wünsche der Menschen, bediene sie, und du hast Erfolg. Aus dem Jungen wird Graf Victor Lustig. Der elegante Titel Graf ist einer von achtzig Alias-Namen, aber der Wichtigste. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere fälscht der Graf im großen Stil Dollars, bringt die US-Wirtschaft fast ins Wanken. Er trifft Al Capone und verkauft nebenbei den Eiffelturm an einen Schrotthändler.

 

In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts rostete der Eiffelturm vor sich hin. Er galt als schrottreif. Ein Fall für Victor Lustig.

 

Diesen Schwindler-Schwejk Victor Lustig gab es wirklich. Jetzt erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser seine unglaubliche Lebensgeschichte aus dem letzten Jahrhundert neu: „Als mir die Welt gehörte“. Ein höchst vergnüglicher Schelmenroman. Held Victor Lustig ist ein Mann mit Vorliebe für „angenehmes Reisen, gutes Essen, schneidige Anzüge und teuren Uhren“. Er lernt schnell, wie leicht es ist unterzutauchen, wenn das nötige Kleingeld vorhanden ist. Geregelte Arbeit? Nichts für ihn! Sein in Madames Etablissements erlerntes Handwerk hilft. Das genaue Beobachten der Mitmenschen. Das Ausnutzen ihrer Gier nach schnellem Geld und Erfolg, ob in der High Society oder Unterwelt. Er praktiziert die zehn gelernten Gebote für perfekte Hochstapelei. Die ersten drei lauten: „Sei ein geduldiger Zuhörer. Sehe niemals gelangweilt aus. Sei niemals betrunken“. Die anderen sieben Gebote finden Sie im Buch.

 

Der echte „Graf“ Victor Lustig nach seiner Verhaftung in New York. „Der smarteste Gauner, der jemals geboren wurde.“

Der Graf hasst Langeweile und bekämpft sie wie seinen Todfeind. Zunächst beklaut er fingerfertig Touristen, später verbringt er Zeit in Wettbüros und erfindet Geldvervielfältigungsmaschinen. Schließlich fälscht er Weinetiketten und verkauft Fusel als Wein der Extraklasse. Sein Motto: „Köstlich. Ein Wein, würdig eines Grafen.“ Während der Prohibition in den USA vermittelt er den knappen Stoff in Flüsterkneipen, lässt Reisedokumente, Pässe, Zertifikate, Verträge, Schecks fälschen. Sein Meisterstück: er verkauft den „abrissreifen“ Eiffelturm gleich zweimal an verschiedene Schrotthändler, übrigens eine wahre Begebenheit. Victor Lustig ist die perfekte Mischung aus Donald Trump, Elon Musk und Dagobert Duck, allerdings vor hundert Jahren.

Was ihn von den heutigen Tycoons des modernen Turbo-Kapitalismus unterscheidet, sind seine gepflegten Manieren. Der „Geldfälscher des Jahrhunderts“ hat Stil. Er bleibt stets charmant und zuvorkommend. Er betrügt seine Geschäftspartner so geschickt, weil sie seinen Versprechen vom großen Deal glauben wie Kinder an den Weihnachtsmann. Lustig nennt sich „Vertrauenskünstler“. Sein Erfolgsrezept: völlige Hingabe an die Rolle, die er gerade spielt. Irgendwann wähnt sich das rastlose Chamäleon Victor Lustig unverwundbar. Wir ahnen das Ende. Gemeinsam mit Al Capone sitzt er in zu groß geratener Gefängniskleidung im Knast von Alcatraz, bewaffnet mit einem dreckigen Wischmopp zum Saubermachen der Duschen. Aber eines ist für den Grafen klar: Er macht „nur eine Pause“.

 

Bastian Kresser. Als mir die Welt gehörte. Eine amüsante Geschichte aus der Welt des schönen Scheins. Gut erzählt. Genau das Richtige für lange Winterabende.

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Was für ein Glück

Rückblende. Ein Juliabend Es ist unerträglich heiß. Leipzig dampft und schwitzt. Plötzlich ballen sich schwarze Wolken zusammen, entlädt sich die aufgestaute Schwüle in einem kurzen, heftigen Gewitterguss. Regen prasselt auf den Clara-Zetkin-Park. Was für ein Glück! Abkühlung. Aufatmen. Wir folgen der Menge zur Parkbühne. Eine kleiner, runder Open-Air-Veranstaltungsort aus DDR-Zeiten. Publikum Ü50. Nur Stehplätze. Bratwurst. Bier in Plastikbechern. Vorfreude. Es kann losgehen. Zweimal war das Konzert wegen der Covid-Pandemie jeweils um ein Jahr verschoben worden. Endlich! Beth Hart.

 

 

Die Frau legt los. Mit ihrer energiegeladenen, großartigen Stimme, voller Leidenschaft, Gefühl und Hingabe. Im hautengen Hosenanzug schnurrt sie erst wie eine Katze, faucht bald wie eine Löwin. Die gut eingespielte Band stellt sich komplett in den Dienst der Frontfrau. Beth Hart gibt jedem Song das gewisse Etwas. Den eigenen und den Coverversionen von Led Zeppelin bis Tina Turner. Die US-Amerikanerin ist ein absolutes Live-Erlebnis. Von der ersten bis zur letzten Minute gibt die 51-jährige Vollgas. Sie ist wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Wow! „Listen! I´m the girl from Los Angeles. I´d rather go blind. “

 

 

Beth Hart studierte Cello und Gesang an der Los Angeles High School Of Performing Arts, schloss ihr Studium jedoch nie ab. Mit 22 Jahren trat sie in der US-Castingshow Star Search auf und veröffentlichte ihr erstes Album. Mit L. A. Song gelingt ihr in den USA der Durchbruch. Sie spielt in dem Musical Love, Janis die Rolle der legendären Janis Joplin. Mit Anfang dreißig thematisiert Beth in Leave the Light On ihre Drogensucht und den folgenden harten Entzug. Es sind dunkle Stunden. Die Musik kann sie retten. Was für ein Glück! Nach knapp drei Stunden mit „Fire on the floor“ ist das Publikum in der Leipziger Parkbühne erschöpft. Die Menge entschwindet beseelt in eine warme Sommernacht.

An diesem Wochenende tritt Beth Hart (2./3. Dezember 2023) in Paris auf. Nächstes Jahr kommt die Ausnahmesängerin wieder nach Deutschland. Konzerte in München, Mannheim, Köln, Berlin und Hamburg sind 2024 geplant. Beth Hart. Eine Frau, eine Stimme, ein Erlebnis. Wie eine Naturgewalt, wie ein rettender Regenguss nach einem heißen Sommertag.