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Hemingway in Charkiw

Was kann Literatur in Kriegszeiten bewirken? Die erste Aufgabe ist es, Augenzeuge zu sein. Festhalten, was geschieht. Die zweite muss sein, zu reflektieren, was möglich wird, was anders gemacht werden kann, was zu lernen ist. Das Internet ist voll mit russischen und ukrainischen Texten. Fast 80% der aktuellen Texte sind Kriegserzählungen, Liebesgeschichten fehlen. „Krieg zerstört die Sprache. Das führt zur Sprachlosigkeit“, sagt Serhij Zhadan. Schreibender, singender und freiwilliger Helfer an der Front. Ein mehr als aktiver Poet aus Charkiw. Seine geschundene Heimatstadt im Osten der Ukraine steht seit dem ersten Tag des Überfalls unter Beschuss. Doch die Charkiwer geben nicht auf, obwohl die Russen ihre Stadt seit seinem halben Jahr in ein Trümmerfeld verwandeln. Mittlerweile kehrt die Sprache zurück, sagt Zhadan, den man gut und gerne als Campino der Ukraine bezeichnen kann. Zhadans Kultband heißt übrigens „Hunde im Weltall“.

 

Serhij Zhadan in Toronto, 2019. Ukrainischer Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 2022. Foto: Wikipedia

 

Sein soeben erschienenes Kriegstagebuch Himmel über Charkiw geht unter die Haut. Darin schildert er Belagerung, Beschuss und den Behauptungswillen einer jungen, multikulturellen Millionenstadt aus der Sicht eines Augenzeugen . Seit dem 24. Februar 2022 wird Charkiw beschossen: Wohnhäuser, Universitätsgebäude, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Sportanlagen, Kirchen, Theater, Kinos, Denkmäler, einfach alles. Der Himmel über Charkiw verdunkelt sich an vielen Tagen. Zhadan erklärt mir seinen Buchtitel Himmel über Charkiw wie folgt: «Himmel“ ist eine sehr universelle Metapher, es ist ein poetisches Wort. Aber gleichzeitig ist es eine sehr poetische Wahl. Seit dem Beginn dieses Krieges, dem Großen Krieg, nach dem Angriff Russlands, ist der Himmel für uns, für diejenigen, die in der Frontstadt Charkow leben, zu einer Quelle der Hoffnung geworden. Denn wenn der Himmel klar ist, gibt es keine Flugzeuge, keine Raketen, das bedeutet, dass alles in Ordnung ist. Aber es ist auch eine Quelle von Angst und Gefahr. Weil die Raketen von dort kommen. Dementsprechend schauen wir alle in den Himmel.“

 

 

Vor allem die Kinder von Charkiw hatten in den ersten Wochen Angst. „Sie haben geheult. Sie blieben in der U-Bahn. Viele leben bis heute in den Metroschächten“. Das Verrückte sei, so Zhadan, dass junge wie alte Charkiwer rasch den Umgang mit dem Krieg lernten. „Wir sind so stark wie noch nie. Wir betreuen das kulturelle Leben. Wir singen mit Kindern. Wir veranstalten literarische Feste und Lesungen. Menschen, auch Soldaten, brauchen Kultur. Wir organisieren zum Beispiel das Projekt „Charkiw Nummer 5“. Viele Künstler würden aber auch mit der Waffe an der Front kämpfen. Es sei ein „Volkskrieg“. In seinem Tagebuch notiert er am 14. März 22 über seine Stammkneipe: „Das Aushängeschild verkündet (natürlich auf Russisch): „Staryi Hem. Kaltes Bier, heiße Mädchen. Was für eine ideale Reklame. Ich mochte das Lokal sehr: ziemlich unprätentiös, dafür immer lebendig und fröhlich. Im Winter 2014 war es praktisch das Hauptquartier des Euromaidan. Am Hem stand ein Hemingway-Denkmal. Das habe ich immer Besuchern gezeigt. Im Sinne von – das gibt´s nirgends sonst, nur bei uns. Heute haben sie das Gebäude getroffen. Die Rede ist von Opfern, Verschütteten, Toten und Verletzten.“

 

Ernest Hemingway-Denkmal in Charkiw vor der Zerstörung am 14. März 2022. Quelle: BBC

 

Wem die Stunde schlägt. Aufzeichnungen aus einem Krieg. Serhij Zhadan hält in seinen atmosphärisch dichten Notizen fest, wie sich seine Heimatstadt erfolgreich  wehrt. Wie sie sich nicht den Traum nehmen lässt, Hemingway, das Hem und die ganze zerstörte Kultur wieder neu und noch glanzvoller aufbauen zu wollen. Wer verstehen möchte, was in der Ukraine geschieht, ist bei Serhij Zhadan bestens aufgehoben. Für sein „Kriegstagebuch“ wird dem 48-jährigen Rockpoeten auf der Frankfurter Buchmesse der „Friedenspreis“ verliehen. Es mag widersprüchlich klingen. Doch dieser Krieg ist selbst ein einziger Widerspruch. Geführt von Machthabern in Moskau, die im Namen des Antifaschismus ihren Nachbarn mit Raketen, Bomben und Lügen von sich selbst befreien wollen. Antwort Zhadan im Tagebuch: „Charkiw wird weiter eine Stadt der Dichter und Universitäten sein, ihr werdet sehen. Über der Stadt weht weiter die Staatsflagge. Die russische große humanistische Kultur sinkt auf den Grund wie die schwerfällige Titanic.“

 

Charkiw, Straße der Freiheit. Das Wohnhaus mit der Kneipe Hem und dem zerstörten Hemingway-Denkmal nach dem russischen Raketenangriff vom 14. März 2022. Quelle: BBC

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Solo Wolfgang

Anfang Oktober. Das Einheitswochenende. Schloss Neuhardenberg bei Berlin lädt zu einer Lesung. „Begräbnis einer Gräfin“ steht auf dem Programm, gelesen von der Schauspielerin Jutta Hoffmann. Es geht um die verwitwete Gräfin von Schwerin, die letzte Herrin auf Schloss Stolpe. Sie flüchtet 1945 vor der Roten Armee nach Lüneburg in den Westen. Als die Gräfin 1957 stirbt, soll sie wunschgemäß in ihrer märkischen Heimat bestattet werden. Der Transport über die deutsch-deutsche Grenze wird zur verwickelten Reise als „Stückgut“ zum heimischen Dorffriedhof. Eine wahre Begebenheit, dem Leben abgeschaut. Eine maßgeschneiderte Geschichte für Wolfgang Kohlhaase. Er machte daraus eine heiter-makabre Erzählung über Nachkriegszeit und deutsche Teilung. Die Lesung mit Jutta Hoffmann und Wolfgang Kohlhaase soll ein lebhafter Nachmittag gewesen sein. Ich wollte hin, hatte den Sonntag verpasst. Zu spät! Keine drei Tage später ist Kohlhaase tot.

 

Wolfgang Kohlhaase mit Regisseur Konrad Wolf. Dreharbeiten zu Solo Sunny, 1978/79. Foto: Dieter Lück, DEFA-Stiftung

 

„Wer nicht mehr neugierig ist, der ist alt“, sagte der Drehbuchautor und Schriftsteller einmal. In diesem Sinne war der waschechte Berliner aus Adlershof bis zuletzt jung geblieben. Er überlebte 91-jährig drei politische Systeme und hielt sein Leben lang klaren Kurs. Vater Kohlhaase, ein Maschinenschlosser, förderte sein Talent. Wolfgang volontierte gleich nach Kriegsende bei dem neuen Magazin „Start“, später bei der „Jungen Welt“. Da war er sechzehn. Beide Zeitungen trugen einen programmatischen Titel. Start, Neuanfang, eine bessere Gesellschaft aufbauen, ohne Willkür, aber mit Gedankenfreiheit. War das nicht ein wunderbares Ziel? Kohlhaase landete bald als Geschichten(er)finder bei der neuen DEFA in Babelsberg, der Traumfabrik des Sozialismus, dem märkischen Hollywood.

 

 

Den Berliner interessierten nicht große Abenteuer- oder Liebesdramen. Kohlhaase suchte und fand seine Stoffe vor der Haustür. Er beschrieb Menschen, „die durch die Welt geweht wurden“. Er fragte sich und sein Publikum, wie die kleinen mit den großen Geschichten zusammenhängen. „Filmemachen ist eine Reise des Herzens, zu der man das Publikum einlädt“. So schilderte er seine Heldinnen und Helden mit Respekt und aus nächster Umgebung. Texte, die stets stimmig waren: Treffsicher, schlagfertig, lakonisch. Wirklichkeitsnähe war für Kohlhaase kein Marketing-Versprechen, sondern sein Markenzeichen. Ob als deutscher Soldat Gregor in „Ich war neunzehn“ oder bei „Solo Sunny“, wo die schnoddrige Alte aus dem Hinterhaus Sängerin Sunny mit auf den Weg gibt: „Unterm Chauffeur ist schlimmer als unterm Auto“.

„Sommer vorm Balkon“. Take „Brauch ich nicht unbedingt…“

 

Wer kennt schon die Schreiberlinge? Die Kinostars stehen im Rampenlicht, können glänzen, werden berühmt. Doch die Akteure können nur so gut sein, wie die Geschichten und Schicksale, die sie verkörpern. Wolfgang Kohlhaase blieb wie so viele Drehbuchautoren der bescheidene Ideengeber im Hintergrund. Und doch fielen seine Texte auf, hatten stets eine eigene Handschrift. In „Sommer vorm Balkon“  erwartet der LKW-Chauffeur nach vollzogenem Akt von seiner neuen Bekanntschaft ein Frühstück. Ihre Ansage ist unmissverständlich: „Ist nicht im Preis inbegriffen und Tschüss!“

Wolfgang Kohlhaase blieb ewig jung. Im hochrespektablen Alter von Mitte Achtzig erzählte er die Geschichte einer Clique in der wilden Leipziger Nachwendezeit. Jugendliche zwischen Euphorie, Drogen und Depression. „Als wir träumten“ (2015), verfilmt von Andreas Dresen, ist typisch für den Mann, dem es gelang, Menschen wie dir und mir ein Gesicht zu geben. Und tollen Stoff zum Träumen.

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Der „Trottel“

„Eines der streckenweise intelligentesten Bücher, das der Rezensent je gelesen hat. Leider zerstört sich der Text nach und nach selbst, weil seine innere Wucht einerseits vertikal verpufft, andererseits seitlich auseinanderfließt.“ Oder: „Für jeden seiner vielen Fußnoten verdient dieser Mensch einen Stromschlag angemessener Stärke und Spannung.“ Der neue Roman „Trottel“ liefert gleich zu Beginn im Umschlagband „Anregungen und Vorschläge für Rezensenten, nützliche Bonmots für Streitgespräche oder zukünftige Nackenschläge“. Alles im Preis inbegriffen. Der „Trottel“ versorgt faule und/oder vorurteilsbeladene Vertreter der Kritikerkaste mit Munition für die Handhabung eines Buches, das wirklich anders ist als die anderen. Bereits der kurze Titel Trottel überrascht. Das Buch stammt aus der Feder von Jan Faktor. Er liefert auf 400 Seiten Außergewöhnliches mit Irrungen und Wirrungen, Höhepunkten und Tiefschlägen, Wort- und Gedankenspielen, die wie Salto Mortale durch die Seiten purzeln. Jan Faktor liebt die pure Lust am Experimentieren. Anarchisch, manchmal anstrengend und peinlich, aber stets witzig, klug und mit großer Herzenswärme. Ein Buch, bei dem der Lesende nicht weiß, was auf der nächsten Seite kommt.

 

Jan Faktor. Ein Prager in (Ost-)Berlin. Sein neuer Roman „Trottel“ ist für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert. Foto: CC-BY 4.0

 

Worum geht es? Ein Prager Informatiker macht sich nach dem 68er-Einmarsch der Russen auf den Weg nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Er will die Welt kennenlernen, so wie sie ist. „Die stille Frage meiner Jugend lautete, ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann“. So lautet der erste Satz im Roman, so bricht der tschechische Schwejk zu seiner Ostberlin-Odyssee auf. Er flieht aus der „Prager Vorhölle“, aus dem „fauligen, verfilzten, porenverstopften Knödelgeschwulst“. Er entdeckt „den seltsamen Trost von Chicorée“, staunt mit böhmischem Blick über die Ost-Berliner Bohème-Szene. So taucht der Trottel in die Szene vom Prenzlauer Berg der achtziger Jahre ein, in einen der schrägsten Winkel Berlins direkt am antifaschistischen Schutzwall, mit Abrisshäusern, Klo auf halber Treppe und Freiraum für alternative „Trottel-Träume“.

 

400 Seiten Entdeckungen zwischen Prag und Prenzlauer Berg.

 

Jan Faktor, in der Szene nur Honza genannt, stolpert durch das Prenzlauer Berg-Biotop der Kreativen, Punks und Unangepassten. Als tschechischer Exot mischt er in der Ost-Berliner Undergroundszene mit, organisiert heimlich Lesungen in verrauchten Wohnküchen, teilt mit anderen aus der „Deutschen Reichsbananenrepublik“ ihr Leben in der DDR-Nische „vollprivat bis tiefintim“. Er staunt über das Wunder der Wende und entwickelt eine Leidenschaft für Rammstein. Das Stahlgewitter der Ost-Combo wird sein Sound, der Herz, Geist und Seele wärmt. Was ist das Geheimnis der Kultband? Der Trottel findet die Antwort. Mehr im Buch. Heute ist vom einstigen Aussteiger-Viertel Prenzlauer Berg nur der Mythos geblieben. Nach der Wende hübschten Immobilienfonds das einstige Dissidenten-Quartier in ein luxussaniertes, gehobenes Bionade- und Latte-Macchiato-Viertel auf.

 

Jan Faktor liebt Rammstein.

 

Der Trottel ist auch ein sehr privates Buch geworden. Jan Faktor gibt viel preis, balanciert in seinem Familienepos auf einem schmalen Grat. So reflektiert er über die Liebe zu seiner Frau und das Trauma, seinen Sohn durch Suizid verloren zu haben. Seiner Weggefährtin dankt er mit der Widmung „an meine Frau, die dieses Buch lieber nicht lesen sollte“. Zu guter Letzt: Das deutsche Wort Trottel ist kaum übersetzbar. Für Faktor ist sein Trottel kein Schelm, der sei zu klug, aber auch kein Idiot wie bei Dostojewski. Sein Trottel sei von liebenswürdiger Ehrlichkeit, neugierig, naiv und stets ein wenig chaotisch. Sein Leitspruch: „Meine Großmutter meinte, man hätte es im Leben generell einfacher, wenn man unterschätzt wird.“

Den ungewöhnlichen Roman Trottel kann man nicht beschreiben. Man muss ihn lesen. Es lohnt sich.

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Väterchen Russland! Was machst Du?

„Was ist mit Russland passiert? Seit dieser Krieg im Februar 2022 begonnen hat, haben mir viele Leserinnen und Leser aus der Ukraine geschrieben. Sie haben mir Fotografien von U-Bahnhöfen aus Kiew und Charkiw geschickt, die sich bei russischen Artillerie- und Bombenangriffen in unterirdische Bunker und Städte verwandelten und in denen Menschen zum Teil wochen- und monatelang gehaust haben. Sie schrieben mir: »Sehen Sie, Dmitry, Sie haben das alles vorausgesagt. Wir leben jetzt in Ihrem Buch Metro 2033.« Natürlich habe ich, wie wir alle, diesen Krieg nicht voraussehen können. Sicher, ich habe mir mit großer Begeisterung apokalyptische Szenarien ausgemalt, aber dabei nie wirklich daran geglaubt, dass eine so ungeheuerliche Barbarei, eine so sinnlose Grausamkeit im 21. Jahrhundert möglich sein könnte und dass sich ein Volk so einfach von unsäglichen Propagandalügen in die Irre führen lässt. Doch dieser Krieg ist tatsächlich ausgebrochen und dauert nun schon viele Monate an. Und begonnen hat ihn Russland, mein Heimatland.“

 

Dmitry Glukovsky. Seine Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033, Metro 2034, Metro 2035“ wird Realität. Er wünscht seinem unglückseligen Land „keine Niederlage, aber Heilung und Austreibung der Dämonen“. Foto: Michael Förtsch

 

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Auszüge aus dem Vorwort von „Geschichten aus meiner Heimat“ von Dmitry Glukhovksky. Jahrgang 1979. Geboren in Moskau. Weltbürger. Sprachgenie. Ausbildung als Journalist in Jerusalem. Mitarbeiter bei Russia-Today. Bestsellerautor der SF-Romane Metro 2033-35. (Trilogie über seine Heimat Russland. Story spielt nach einem Atomkrieg in der Moskauer U-Bahn) Mitverfasser einer Anti-Kriegs-Petition vom März 2022, die eine Million Russen unterzeichnet haben. Seit dem 7. Juni 2022 auf Putins Fahndungsliste. Glukhovsky lebt mittlerweile im Exil.

Am 19.10.2022 erscheint sein neues Buch: „Geschichten aus der Heimat“.

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„Was sind das für Dämonen? Jeder russische Schriftsteller, der etwas auf sich hält, macht sich irgendwann einmal Gedanken über das »Schicksal des Vaterlands«. Denkt darüber nach, warum in Russland immer alles anders ist »als bei normalen Leuten«.

(…)

Diese Krankheit hat einen Namen: Mythomanie. Mythomanie einerseits im Sinne einer obsessiven Faszination für Mythen, mit denen die harte, hässliche, unerträgliche, oft genug auf tragische Weise erbärmliche Wirklichkeit verschleiert werden soll – und andererseits in psychologisch-medizinischem Sinne: Mythomanie als ein unbeherrschbares Verlangen zu lügen und sich zu verstellen, selbst wenn die Lüge offensichtlich und für alle zu erkennen ist, ja, selbst dann noch zu lügen, wenn einem daraus nur Nachteile entstehen. Die Antwort auf die Frage: »Wie konnte Russland von einem demokratischen Staat zu einer totalitären, neosowjetischen Diktatur werden?«, lautet: Russland ist nie eine Demokratie gewesen und ist heute auch keine totalitäre Diktatur.

 

Geschichten aus der Heimat von Dmitry Glukhovsky. Erscheint in Deutschland am 19.10.2022

 

In den dreißig Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion ist mein Land stets eine durch und durch korrupte Bananenrepublik – vergleichbar mit gewissen lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten – gewesen und bis heute geblieben, nur dass es statt Bananen Öl und Gas verkauft und damit den Rest der Welt erpresst. Die Leute, die durch Zufall ans Ruder der Macht gekommen sind, allesamt Versager und absolutes Mittelmaß, haben sich am wunden Euter dieser einst so bedeutenden Weltmacht festgekrallt und sie bis auf den letzten Tropfen gemolken. Und genau diese Günstlinge des Schicksals, diese selbsternannten Zaren versuchen sich nun mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verewigen und das Volk von der sakralen Natur ihrer Macht zu überzeugen. Gerade weil sie sich bewusst sind, dass ihre Macht reiner Zufall ist, sind sie jetzt so peinlich bemüht, ihren eigentlich völlig nackten Hintern mit heldenhaften Mythen zu verhüllen. Anfangs versuchten sie sich noch wie ein progressiver, moderner, demokratischer Staat zu gerieren. Jetzt mühen sie sich ab, unsere Bananenrepublik als schaurigen Wiedergänger einer Sowjetunion Stalinscher Prägung zu inszenieren. (…)

 

 

„Doch auch das ist Russland: meine unglückliche, unfassbare Heimat, in die ich möglicherweise nie mehr zurückkehren kann. Mein Land, dem ich in seinem sinnlosen Kampf gegen den Rest der Welt keine Niederlage wünsche, sondern Heilung, Austreibung der Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen haben, Buße für das, was es der Ukraine angetan hat und antut, und Aussöhnung mit sich selbst“.

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Liebling Kreuzberg

Eine kleine Gruppe versammelt sich in Riehmers Hofgarten. Im Vorzeige-Kreuzberg. Es gibt drei Reden. Es spricht der Kultursenator, der Sponsor und der Biograf. Danach schreitet die kleine Schar zum Ort des Geschehens. Hauseingang Hagelbergerstraße 10c, gut geschützt vom Lärm der Großstadt. Die Witwe enthüllt eine Tafel, auf der steht: „Hier wohnte von 1980 bis 1994 Jurek Becker. Drehbuchautor, freier Schriftsteller“. Die Umstehenden applaudieren, stoßen mit Sekt an. Wer? Jurek Becker! Die neue Kreuzberger Tafel hilft. Sie berichtet von „Jakob der Lügner“ und „Liebling Kreuzberg“. Das eine war ein Welterfolg, verfilmt in der DDR und für den Oskar nominiert. Das andere war eine erfolgreiche Fernsehserie. Manfred Krug als kauziger Anwalt, der komplizierte Fälle löst und grünen Wackelpudding liebt. Manfred Krug und Jurek Becker waren unzertrennliche, beste Freunde.

 

Berlin-Kreuzberg. Christine Becker enthüllt die neue Gedenktfel für ihren verstorbenen Mann Jurek Becker.

 

Auf der Messingtafel steht: „Jurek Becker. 30.09.1937 – 14.03.1997“. Dabei ist das Geburtsdatum Spekulation. Nicht einmal Becker wusste genau, wann er geboren wurde. Der Grund: Sein Vater schummelte bei seinem Geburtsdatum, um das kleine Judenkind in den Nazi-Lagern vor Schlimmeren zu bewahren. Vater und Sohn überlebten den Holocaust getrennt in verschiedenen Lagern. Über zwanzig Familienangehörige gingen ins Gas, auch Jureks Mutter starb, an Entkräftung kurz nach Kriegsende. Nach der Befreiung erzog Vater Becker seinen Sohn zu einem „guten Kommunisten“. Lagerkind Jurek sprach kein Wort Deutsch, nur polnisch. Erst mit neun Jahren wurde er eingeschult. Die deutsche Sprache wurde seine neue Heimat. So wuchs der kleine Ghetto-Junge aus Lodz in die DDR hinein. FDJ, SED, zwei Jahre Kasernierte Volkspolizei (Vorgänger der NVA), Philosophie-Studium an der Humboldt-Uni. Bis zum Einmarsch der Sowjets in Prag 1968 übte er „unbedingte Loyalität“. Dann verließ er den realsozialistischen Pfad.

 

Ein Prosit auf den Dichter Jurek Becker. (1937-1997)

 

Becker flüchtete in die Literatur. Nur hier gab es „noch Meinungsverschiedenheiten“, konnten aus Biografien Menschen werden. So erfand er Jakob, den Lügner. Der kleine Ghettojunge macht seinen angstgeschüttelten, eingepferchten und verzweifelten Mitbewohnern Mut. Jakob besitzt ein Radio, hört heimlich „Feindsender“ und berichtet, die Front der Befreier rücke ständig vor. Die Rettung sei nah. Doch das Radio gibt es nicht. Jakob ist ein Lügner. Fälschen im Namen der Menschlichkeit. Jakob der Lügner ist ein „in der Hölle spielendes Märchen“ (Louis Begley). Auch Lügner können Helden sein, wenn sie Menschen mit ihren Illusionen Hoffnung machen. Becker über seine Rolle als Autor: „Ich versuche es mit Worten, sonst habe ich nichts.“

 

Ehrung für einen Dichter, der „Liebling Kreuzberg“ erfand. Eine Fernseharbeit, die „mich ungefähr so befriedigt wie ein Sturz aus dem Fenster … sie lässt mich andererseits so viel Geld verdienen, dass mir das Romane-Schreiben plötzlich wie eine rührende Freizeitbeschäftigung vorkommt“.

 

Mit dem erstarrten Denkverbot-System der DDR konnte Becker nie klarkommen. Nach Biermann-Ausbürgerung und Ausschluss von Dichterkollegen Reiner Kunze verließ er Ende der siebziger Jahre erst den Schriftstellerverband, dann die DDR. Jedoch mit einem seltenen Privileg. Der bei den Mächtigen ins Abseits geratene Schriftsteller erhielt ein Dauervisum, wurde ein Dichter mit zwei deutschen Pässen. „Wenn ich schon die Schnauze halten soll, dann halte ich sie lieber auf den Bahamas.“ Aus der Südseeinsel wurde nichts, stattdessen fand er eine Bleibe im eher vornehmen Kreuzberger Hinterhof – in der Hagelbergerstraße 10c, an der jetzt die neue Tafel prangt.

 

 

Was hätte er zum kleinen Festakt gesagt? Der Mann, der Sport und Jazz über alles liebte, der ein begeisterter Postkartenschreiber war. Wir wissen es nicht. Aber alles Staatstragende war ihm eher verdächtig und vielmehr Material für Spott und Ironie. In „Irreführung der Behörden“ oder im „Jakob“ lässt sich vieles neu entdecken. Das Finale des kleinen Festakts „in einer Gegend, die mir sehr behagt, sehr lebendig“ (Originalton Becker) hätte ihm wohl gefallen.  So versammelten sich Freunde nach der Enthüllung in der Osteria um die Ecke – seinem Lieblingsitaliener in Kreuzberg.

 

Wer mehr erfahren will. Hier eine TV-Doku des Bayrischen Rundfunks über Jurek Becker mit überraschenden Alltagsbildern aus der Wendezeit 1989/90:

 

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Früchte des Zorns

Tom Joad ist einer von vielen. Der Farmer versucht seine Familie durchzubringen. Doch die Dürre drückt seine Erträge. Die Bank fordert Schuldzinsen, der Grundbesitzer die Pacht. Irgendwann geht es nicht mehr. Die Familie verliert ihr Land an die Bank. Auf einem Handzettel wird gut bezahlte Arbeit im Westen angeboten. Die Rettung? Tom Joad lädt seine ganze Familie auf einen schrottreifen LKW. Großeltern, Onkel, Söhne, schwangere Tochter, ihren Mann, deren Kinder und einen mittellosen Wanderprediger. Der Treck startet in Oklahoma. Immer weiter kämpfen sie sich durch Sandstürme Richtung Gelobtes Land. Während der beschwerlichen Reise sterben die Großeltern. Die Joads gehören zu den vielen Hundertausend US-Bürgern, die statt der goldenen Freiheit von der Großen Depression überrollt werden. Es ist die Weltwirtschaftskrise von 1929. Mit einer vom Menschen mitverursachten Dürre und dem Börsenkrach, der wirtschaftlichen Katastrophe des „Schwarzen Freitags“. Tom Joads letzte Hoffnung hat einen Namen: Kalifornien.

 

Erbsenpflückerin Florence Owens. Mutter von sieben Kindern. Alter: zweiunddreißig. Nipomo, California. 1936. Foto Dorothea Lange

 

Wie viele andere so genannte Okies ziehen sie über die Route 66 nach Kalifornien . Die Joads wollen dort als Wanderarbeiter einen Neuanfang wagen. Doch statt  guter Jobs erleben sie nur Ausbeutung,  Ablehnung und neue Armut. Vater Tom ist niedergeschlagen, verliert jedes Selbstbewusstsein. Mutter Joads versucht verzweifelt die Familie zusammenzuhalten. Doch in Kalifornien bleiben sie Außenseiter. Entwurzelt, rechtlos, chancenlos. Fremd im eigenen Land. Sie sind die Migranten, die den Einheimischen die Arbeit wegnehmen wollen. Am Ende strandet die Familie in einem Notlager. Tom gibt nicht auf, schlüpft allmählich in die Rolle des Wanderpredigers, der gegen Armut und Ungerechtigkeit zu Felde zieht. Die Tochter verliert ihr Baby. Am Ende gibt Rose einem verhungernden fremden Mann die Brust.

 

John Steimbecks US-Erstausgabe von „Früchte des Zorns“ aus dem Jahre 1939.

 

Früchte des Zorns von John Steinbeck erschien 1939. Sein aufsehenerregender Roman über Tom Joad traf den Nerv einer verunsicherten, krisengeschüttelten Gesellschaft. In den USA wurde John Steinbeck zunächst zum Hassobjekt von Großgrundbesitzern und radikalen Rechten. Es gab Morddrohungen und Bücherverbrennungen. Doch die Geschichte von Tom Joad setzte sich durch, wurde ein Bestseller. Steinbeck erhielt erst den Pulitzer-Preis und später den Nobelpreis.

 

 

Hollywood verfilmte seine Anklage an die amerikanischen Verhältnisse mit Henry Fonda in der Hauptrolle. Längst sind Buch und Film Klassiker. Folksänger Woody Guthire widmete Tom Joad eine Ballade, die gleichfalls berühmt wurde. Bruce Springsteen nannte 1995 sein ganzes Album The Ghost of Tom Joad. Der Titelsong wurde später von Rage Against the Machine und vielen anderen Künstlern gecovert. In diesen Tagen ist das Lied wieder so aktuell wie das Buch und der Film, weil sich die Wirklichkeit für hart arbeitende Menschen in einfachen Jobs nicht geändert hat: So viele Wanderarbeiter ziehen weltweit umher und erleben statt Hoffnung und der Aussicht auf gute Jobs die „Früchte des Zorns“.

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Wiederholt sich alles?

Es war ein kühler Montag im Februar. Im neuen Museum für Flucht, Vertreibung und Versöhnung am Berliner Anhalter Bahnhof stellt die Journalistin Christiane Hoffmann ihre berührende Vater-Tochter-Geschichte vor. Die stellvertretende Regierungssprecherin berichtet über die Flucht ihres Vaters. Er hatte sich als kleiner Junge mit der Familie in einem schlesischen Dorf zu Fuß auf den Weg gen Westen gemacht, um der vorrückenden Roten Armee zu entkommen. Christiane Hoffmann folgt dem Fluchtweg ihres Vaters – zu Fuß. Das Nachwandern ist Basis für Begegnungen, die aufzeigen, wie tief sich der II. Weltkrieg bis heute in die Seelen der Menschen in der Ukraine, Polen, Tschechischen Republik und bei uns eingegraben hat. Ich hatte Gänsehaut! Keine drei Tage später startet Wladimir Putin seinen „Befreiungs“-Krieg. Aus Vergangenheit wird Gegenwart. Nichts ist vorbei, nichts vergangen. Was heißt das für die Zukunft?

Dieser furchtbarste Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs markiert tatsächlich einen Epochenbruch. Der russische Überfall hat das verwöhnte Europa in ein neues Licht getaucht. Die Moskauer Führung versucht, die gegebene Ordnung des Kontinents zu zerschlagen. Der neue Alltag heißt: Aufrüstung, Propaganda, „Zeitenwende“, Bruch des Völkerrechts, Flächenbombardements, Massaker, Millionen Flüchtlinge, Nahrungsmittelknappheit, Inflation und Wirtschaftskrise. Brüssel-Europa schaut auf einen Scherbenhaufen seiner gehegten Illusionen. Frieden, Wohlstand und Demokratie in Europa sind akut bedroht. Es scheint keine Lösung zu geben.

 

Christiane Hoffmann auf den Spuren ihres Vaters. Foto: Ekkovon Schwich

 

„Alles, was wir nicht erinnern“, heißt dieses aufmerksame, stille Reisebuch, das in die Vergangenheit von Christiane Hoffmann führt. Sie begibt sich auf die Spuren ihres Vaters Adolf-Walter, der im Januar 1945 als neunjähriger Junge mit seinem gesamten Dorf vor den Russen gen Westen flüchtete. „Zu Fuß? Zu Fuß. – Allein?“ Allein.“  Die meistgestellte Frage an die Wanderin auf ihrem 550 Kilometer langen Fußweg. Vom heimischen schlesischen Rosenthal (heute Rózyna, Polen) bis in die Nähe von Eger (heute Cheb, Tschechische Republik). Dort strandete der Treck im März 1945 im damaligen Sudetenland. Die Rosenthaler sind Sandkörner im Treibgut des großen Hitler-Verbrechens.

Hoffmann erfährt auf ihrer Wanderung: Die Wunden des Krieges sind keineswegs verheilt, höchstens vernarbt. Im Heimatdorf ihres Vaters im heutigen Rózyna leben seit drei Generationen einst aus einem Dorf im Gebiet Lemberg umgesiedelte Bauern, damals UdSSR, heute Ukraine. Das Ende des II. Weltkrieges löste 1945 in Europa eine Völkerwanderung aus. Allein zwölf Millionen Deutsche sind geflüchtet oder wurden vertrieben. Wichtig ist, was Hoffmann notiert: „Alle haben am Krieg gelitten. Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen und viele mehr. Keine Familie, in der „niemand ermordet, verschleppt, gefallen, enteignet, vergewaltigt oder vertrieben“ worden ist.

 

 

Hoffmanns Fazit: „Nichts ist vergangen. Die Geschichte ist wie ein Teig, aus dem sich formen lässt, was man will. Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter“. Und: „Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und deshalb nun fein raus sind“.

Wer Christiane Hoffmann persönlich erleben will: Sonntag, 4. September 2022 um 11 Uhr im Alten Gymnasium in Neuruppin.

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Sie kam aus Fürth

Natascha Wodin. Ihr Leben ist ein Roman. 1945 als Flüchtlingskind im fränkischen Fürth geboren. Vater Russe, Mutter Ukrainerin. Wie Millionen andere Zwangsarbeiter nach Hitler-Deutschland verschleppt. Nataschas Mutter schuftete in einem der 35.000 Zwangsarbeiterlager. Sie musste Granaten drehen.  Nach dem Krieg wurden sie nicht mehr gebraucht, in der Sowjetunion als „Kollaborateurin des Kriegsfeindes, als Hure der Deutschen“ beschimpft. 1956 ertränkte sich Nataschas Mutter in einem Fluss, „rechtlos, perspektivlos, zerstört von den Gewalten, in deren Mahlwerk ihr Leben geraten war“. Dieses Schicksal schildert Wodin in ihrem erschütternden Roman und Bestseller „Sie kam aus Mariupol“. Heute ist Natascha Wodin 76 Jahre alt. Und Mariupol wieder umkämpftes Kriegsgebiet.

 

Die Mutter von Natascha Wodin. Eine hochgebildete und musikalische Frau aus Mariupol. Foto: Rowohlt

 

Die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte Wodin unter erbärmlichen Zuständen in einem Lager für Displaced Persons in Forchheim. Nach dem Tod der Mutter steckte ihr Vater, ein Sänger im Kosakenchor, die elfjährige Natascha in ein katholisches Mädchenpensionat. Als sie schließlich zum gewalttägigen Vater zurückkehrte, floh sie in die Obdachlosigkeit. Ohne schulische Abschlüsse schlug sie sich als Telefonistin, Stenotypistin, und Dolmetscherin durch. Ihrem Tagebuch vertraute die Deutsch-Ukrainerin ihre Erlebnisse im Wirtschaftswunderland an. Sie heiratete in erster Ehe ein NPD-Mitglied, dessen Vater Gauleiter war.  Der Scheidungsanwalt erhielt Kenntnis von ihren Tagebüchern und empfahl ihr, Schriftstellerin zu werden. So wurde Wodin zur „späten“ Autorin. Mit vierzig Jahren fing sie an, Texte zu veröffentlichen. Die zweite Ehe ging sie mit dem Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig ein. Nach acht Jahren konnte sie sich „aus den Zwängen einer desaströsen Ehe“ befreien. Erst hat sie die neue Freiheit gefeiert, bis diese „am Ende erst langweilig, dann immer deprimierender“ wurde. Seitdem verbringt die Wahl-Berlinerin Weihnachten immer alleine. „Meine alte Kindertraurigkeit“, sagt sie.

 

Natascha Wodin auf der Leipziger Buchmesse 2017. Foto: CC. BY-SA 4.0

 

Den Akt des Schreibens empfindet sie als ein „Schweben über dem Abgrund“. Während sie schreibt, läuft im Hintergrund das Fernsehen. Das lenke sie keineswegs ab, sondern sorge dafür, dass sie „in der Welt bleibt“. Eigentlich wollte sie nichts mehr mit Russland, Ukraine und dem Osten zu tun haben. Doch nach ihrem großen Erfolg „Sie kam aus Mariupol“ legte sie 2021 mit „Nastjas Tränen“ nach. Es ist die Lebensgeschichte ihrer ukrainischen Putzfee: „In ihren Augen, in denen ich einst das Heimweh meiner Mutter gesehen hatte, erkannte ich jetzt die Angst meiner Mutter. Fünfzig Jahre waren inzwischen vergangen, aber die Angst war dieselbe geblieben“. Was ist Natascha Wodin? Deutsche oder Ukrainerin? In ihrem Roman gibt sie Auskunft: „Ich dachte auf Deutsch, ich träumte auf Deutsch, ich schrieb meine Bücher in deutscher Sprache, ich hatte einen deutschen Freundeskreis und kochte deutsch oder wie es mir gerade einfiel, aber jedenfalls nicht ukrainisch“.

 

 

Schade, dass ihre Geschichte über Nastjas Tränen bereits nach 189 Seiten zu Ende ist. Wer Natascha Wodin bei einer Lesung erleben möchte, am 27. August 2022 um 21 Uhr ist Gelegenheit. Wo? Im Alten Gymnasium in Neuruppin

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Breaking the Silence

Vor genau einem Jahr musste sich das Zohra-Frauenorchester in Kabul zurückziehen. Die Musikschule wurde geschlossen. „Ein Leben ohne Musik? Sinnlos“, sagt Zarifa Adiba. Die junge Dirigentin musste sofort flüchten, als die Taliban im August 2021 das Afghanische Nationalinstitut für Musik (ANIM) schlossen. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte fand ein abruptes Ende. Wir berichteten im heute journal. Heute befindet sich in den Räumen der Musikschule die Kommandozentrale des Haqqani-Netzwerks. Das ist eine Organisation, die für die Sicherheit des neuen Regimes zuständig ist. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres konnten 273 junge Musik-Schülerinnen und Schüler über eine Zwischenstation in Doha/Katar nach Portugal ausgeflogen werden. Afghanistans einzige Musikschule wurde gerettet und ist seitdem im Exil.

Symphony of Courage. Eine beeindruckende Doku über das Schicksal der Afghanischen Musikschule. Hinweis: Voice of America ist ein von der US-Regierung finanzierter Sender.

 

 

Aus der einzigen Musikschule Afghanistan ging Zohra hervor, das erste Frauenorchester in der Geschichte des Landes. Zohra eroberte von Kabul aus weltweit die Herzen, ob in der Oper von Sydney oder in der Carnegie Hall in New York. Das Frauenorchester wurde auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gefeiert, in Berlin umjubelt und in Stockholm mit dem Polar Music Price, dem inoffiziellen Nobelpreis für Musik, geehrt.

Portugal gab den jungen Afghanen Asyl. Seit dem 14. Februar 2022 ist das ANIM-Institut im Exil wieder geöffnet. In Lissabon wird wieder musiziert, geprobt, gelacht und gemeinsam aufgetreten. Außer der portugiesischen Regierung unterstützen Daniel Barenboim und Sponsoren wie Spotify das Projekt. Die Afghanen sind ein musikliebendes Land. Die Taliban praktizieren als einziges islamisches Land der Welt ein totales Verbot für nicht-religiöse Musik. Nicht einmal der Iran oder Saudi-Arabien gehen derart rigide vor. Einer der Gründe sei das toxische Gebräu, das die Taliban für ihren speziellen Islam zusammenrühren. Ihr Kochlöffel ist die Kalaschnikow, so der Islamwissenschaftler Idris Nasser.

 

Das Afghanistan National Institute of Music (ANIM) wurde 2010 von Dr. Ahmad Sarmast gegründet und ist die erste und einzige Musikschule des Landes. Eine Aufnahme nach der Taliban-Übernahme. Quelle: ANIM

 

Die jungen Afghaninnen und Afghanen wollen musizieren. Sie sind motiviert und wagen im fernen Exil weiter zu träumen. Wird ein Neuanfang gelingen? Vielleicht sogar eines Tages wieder ein Konzert in der Heimat erklingen? Zarifa und alle aus der ANIM-Schule im Exil eint eine Überzeugung: Ohne Musik ist die Welt ein Irrtum. Ihr Leiter Dr. Ahmad Sarmast überlebte ein Attentat. Seine Botschaft: “Musik kann man nicht töten“.

Breaking the Silence ist ihre Botschaft. Wer hört sie noch?

Wer Kindern und Jugendlichen in Afghanistan helfen will, findet bei UNICEF eine passende und seriöse Anlaufstelle.

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Der Überraschungsgast

Sie sitzt auf einem goldenen Stuhl. Eine weiße alte Frau mit Hut und Sonnenbrille. Die Hände konzentriert auf den Armlehnen. Das Klavier setzt ein, die 78-jährige Joni Mitchell wartet auf ihren Einsatz. Dann beginnt sie behutsam das Lied ihres Lebens zu singen. „Rows and flows of angel hair/And ice cream castles in the air/And feather canyons everywhere/Looked at clouds that way… Ein Gänsehaut-Moment. So schön, so klar, so würdevoll. Auch wenn nicht mehr jeder Ton sitzt, die große Dame des Folk ist wieder da. Völlig überraschend, nach langer, lebensgefährlicher Erkrankung an einem Aneurysma. Joni Mitchell zelebriert ihren Song live auf dem legendären Newport Folk Festival. „Both sides now“, ihre melancholisch-optimistische Hymne an das Leben.

 

 

Das Publikum ist ergriffen. Was für ein Moment, die lebende Woodstock-Legende wieder sehen und hören zu können. Unterstützt von der Sängerin Brandi Carlile legt Joni Mitchell einen Auftritt hin, der ähnlich wie bei den Rolling Stones zeigt: Rockstars dürfen eigentlich nicht altern, aber manche können es mit Würde, Leidenschaft und Lebensklugheit. „Ich bin eine Malerin, die Lieder schreibt. Meine Songs sind sehr visuell. Die Wörter erschaffen Szenen – in Cafés und Bars – in düsteren kleinen Zimmern – an vom Mond beschienenen Ufern – in Küchen – in Krankenhäusern und auf Rummelplätzen. Sie ereignen sich in Fahrzeugen – Flugzeugen und Zügen und Autos“, sagte sie 2015. In den letzten Jahrzehnten hatte sich Joni Mitchell nach 22 Alben zurückgezogen. Sie malte, ihre neue Passion.

 

 

Sie sei die beste Songschreiberin von allen gewesen, sagte Graham Nash über die Kanadierin mit dem bürgerlichen Namen Roberta Joan Anderson. Mit neun Jahren fing Joni das Rauchen an, mit zehn erkrankte sie an Kinderlähmung. Ihre linke Hand ist bis heute eingeschränkt. Als Teenagerin brachte sie sich das Gitarrenspiel mit Hilfe eines Pete-Seeger-Songbook bei. Mit 26 Jahren veröffentlicht sie das Album Clouds. Das war ihr Durchbruch. Woodstock verpasst sie im Sommer 1969, weil ihr Manager sie zeitgleich bei Dick Cavett in seiner TV-Talkshow platziert hatte. Als Reaktion komponiert sie ihre eigene Woodstock-Hymne.

 

 

In den Siebziger und Achtzigern experimentiert Joni Mitchell mit Jazz-Musikern der allerersten Garde – von Herbie Hancock über Jaco Pastorius bis Paul Metheney. Legendär ist ihr 1980er Live-Auftritt mit Shadows and Light. Joni übersteht eine Kokain-Sucht. Sie sucht nach neuen Formen, zieht sich aus dem Musikgeschäft zurück, widmet sich zunehmend der Malerei. Ihr bekanntester Song Both Sides Now wurde mittlerweile von über 1.500 Interpreten unterschiedlichster Art gecovert, von Frank Sinatra bis zu den MonaLisa Twins.

In diesem Sommer 2022 sang Joni Mitchell wieder ihr Both Sides Now-Lied, auf dem Newport Folk Festival. Was für ein Lichtstrahl in dunklen Zeiten.