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Der Salz-Fluss

Wer sich der Werra in der Mitte Deutschlands nähert, wundert sich. Auf den ersten Blick überrascht der Fluss mit reiner Idylle. Am Ufer tummeln sich Enten, sogar ein Fischreiher verharrt an den braunen Fluten. Beute machen kann er nicht. Der Reiher hat gelernt, dass in der Werra außer Salzkrebsen nichts zu holen ist. Die Werra ist „der salzigste Fluss Europas“. Die Einheit hat daran nichts geändert. Die Werra ist ein Fluss, der nicht mehr zufriert, „salziger als die Nordsee“. 1976 erreichte die Chlorid-Konzentration mit 40.000 mg/l ihren traurigen Höhepunkt. Nach Stilllegung der DDR-Kaliwerke in Merkers und Bischofferode sank die Belastung auf mittlerweile rund 2.500 mg/l. Der zulässige EU-Grenzwert liegt bei 100mg/l. Die Werra bleibt ökologisch tot. Bis heute ist die Werra keine Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit.

In der Nähe von Heringen im thüringischen Werrakreis türmen sich zwei riesige Kaliberge auf. Monte Kalis im Volksmund genannt. Es sind Berge voller Probleme, tonnenweise Salzabfälle aus dem Kaliabbau. Je nach Witterung wechseln die menschengemachten Schutthalden ihr Gewand in Weiß-, Grau- oder Braun-Töne. Nach Plänen des Verursachers, des Düngemittelherstellers Kali +Salz (K&S) aus Kassel sollen die Kunstberge langfristig ein Kleid aus frischem Grün tragen. Naturschützer kritisieren, das Salz der Berge werde bei Regen ausgewaschen und lande am Ende doch wieder in der Werra. Die Kaligruben im Werratal erstrecken sich untertage auf einer Fläche so groß wie München. Längst ist das unterirdisch abgebaute Salz so wertvoll wie im Mittelalter. Der Kaliabbau zur Düngemittelherstellung ist ein Exportschlager. Der Ukraine-Krieg lässt K&S zum großen Gewinner werden.

 

Werra bei Dankmarshausen mit Monte Kali am Horizont. Juli 2022.

 

Die Werra selbst bleibt die große Verliererin. Was hat die deutsche Einheit von 1990 gebracht, um die Flusszerstörung zu stoppen? Dr. Walter Hölzel, Vorsitzender der Werra-Weser-Anrainerkonferenz kommentiert nüchtern: „Es hat sich verbessert. Der Chloridgehalt ist auf den Zustand von 1942 zurückgegangen, wie zur Zeit der Kriegsnotverordnung. Kali & Salz wollte nichts ändern, die Salzabwässer nicht aufarbeiten. Wir wissen, dass das geht, technisch und wirtschaftlich, aber es nichts gemacht worden“. Das bedeutet für die Werra, der Verschmutzungsgrad bewegt sich weiter über dem Zweitausendfachen des Grenzwertes.

Der Salz-Fluss bleibt tot. Aus Sicht der Werra sei „der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus nur einer des Verschmutzungsgrades“, bilanziert die deutsch-amerikanische Umwelthistorikerin Astrid M. Eckert. Hat die Werra noch eine Chance? Werra-Kenner Hölzel: „2003 wurde dem Unternehmen Kali & Salz gestattet, die Wasserhärte von 60 auf 90 Grad deutscher Härte zu erhöhen. Verursacht wird es vor allem durch das Magnesium. Das ist hauptverantwortlich für den schlechten ökologischen Zustand des Flusses, viel mehr als Chlorid“. Das Fazit des Werra-Schützers: „Unter den bislang genehmigten Voraussetzungen wird sich die Qualität des Flusses in den nächsten zweitausend Jahren nicht ändern. Die Werra ist ein hochversalzener Fluss mit einem zerstörten Süßwasser-Ökosystem.“

 

Monte Kali (rechts) bei Heringen, links bei Philippsthal. © CEphoto, Uwe Aranas

 

Salzige Werra. Die Behörden schauen weg, kritisieren Naturschützer. Was wird nun aus den Monte Kalis, die sich immer höher auftürmen? Hölzel: „Das sind Ewigkeitslasten. Sie sollen nicht entfernt werden. Ganz im Gegenteil. Sie sollen sich noch einmal verdoppeln, bis zur Betriebseinstellung“. Die ist für das Jahr 2060 geplant. Dann soll Schluss mit der Kaliförderung sein.

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Viva Santana

Anfang Juli klappte der 75-jährige Musiker einfach zusammen. Mitten im Stück ungefähr nach vierzig Minuten seines Auftritts im Pine Knob Music Theatre in der Nähe von Detroit. „Latin Rock-Legende Carlos Santana ist während eines Konzerts zusammengebrochen“, meldeten die Agenturen. Er habe zu wenig getrunken, hieß es, sei dehydriert. Mittlerweile gehe es ihm wieder gut. Seine Segen und Wunder-Tour 2022 musste unterbrochen werden. Wer in seinen Tourneeplan schaut, wundert sich in der Tat, was der 75jährige Gitarrist leistet. Auf der Bühne bis zum letzten Akkord? Liegt es in seinen Genen? Santana stammt aus einer Musikerfamilie. Geboren und aufgewachsen in Mexiko, lernt er bei seinem Vater zunächst Geige.

 

 

Als seine Eltern 1960 in die USA einwandern, begeistert sich der Teenager in seiner neuen Heimat San Francisco für die Gitarre und B.B. King. Der Vierzehnjährige will Musiker werden – wie sein Vater. Er jammt in Kellern, spielt in Kirchen oder Striptease-Clubs. Rasch entwickelt er einen eigenen Stil, den Latin-Rock. Diesen kombiniert er mit Blues- und Jazzeinflüssen. Mit 22 Jahren wird Santana in einer Dreiviertelstunde weltberühmt. Im Juli 1969 versetzt der Nobody in Woodstock das Publikum in Ekstase. Die junge Band spielt und trommelt sich in einen musikalischen Rausch. Der Woodstock-Filmausschnitt mit Soul Sacrifice ist Legende. Santana: „Es war beängstigend, auf ein Meer von Menschen zu blicken, ohne überhaupt eine Platte auf dem Markt zu haben. Plötzlich stehst du mit auf der Bühne mit Jimi Hendrix, Sly Stone, The Who“.

 

 

Sommer 1970. Ferienlager auf der Nordseeinsel Juist. Ich entdecke den Santana-Sound. Da bin ich zwölf, habe dank meiner zwei älteren Brüder ein wenig Einblick in die neue Rockwelt. „Samba Pa Ti“ „und „Oye Como Va“ werden meine Songs. Ich träume vom ersten Kuss, während mein Bettnachbar auf Mango Jerrys „In the Summertime“ steht. Er hat deutlich mehr Erfolg. Beim Abschlussfest schafft er es bis zum Zungenkuss, mit einem Mädchen aus der älteren Gruppe. Wow! Mir bleibt Santana. Er tröstet mich mit „Evil Ways“ oder „Black Magic Women”. Seitdem folge ich seiner musikalischen Weltreise nach Afrika (Caravanserai) oder Indien (Love, Devotion, Surrender mit John McLaughlin). Ich lese Sätze von ihm wie: „Wenn ich nach Jerusalem reise, spiele ich dort nicht nur für Juden, sondern für alle. Trete ich in St. Quentin auf, dann nicht nur für Mexikaner. Denn ich bin Woodstock und die Vereinten Nationen. Ich repräsentiere keine bestimmte Fahne, sondern Menschlichkeit. Ansonsten ladet mich gar nicht erst ein – denn das ist mir wichtig.“

 

 

Als Santana in den Achtzigern und Neunzigern nur wenig zustande bringt, bin ich trotzdem in der Deutschlandhalle, hänge im Regen in der vollen Waldbühne, über der eine riesige Kifferwolke schwebt. Als Carlos 1999 mit „Supernatural“ ein Comeback feiert, bin ich überrascht. Diesmal Crossover mit Kids aus der Rap- und Soulszene. „Maria, Maria“ und „Smooth“ werden Welthits. Santana verkauft das Album Supernatural 25 Millionen Mal, während die Kitsch-Grenze bedenklich näher rückt. Einige Songs aus dieser Zeit werden in Einkaufszentren gedudelt. Doch: Der bekennende Alt-Hippie Carlos Santana hat Substanz und eine Mission. Seine Botschaft. Musik kann die Welt zu verbessern. Daran glaubt er: „Heilung kommt, wenn du krank vom Kranksein bist“. Mit dem „Healer“ gemeinsam mit Blues-Legende John Lee Hooker zaubert er eine geniale Coproduktion aus dem Hut. „Musik ist nicht Playback. Musik ist Singen mit der Seele“.

 

 

Santana gehört zu meinem Leben, ist Soundtrack seit meiner frühesten Jugend. Natürlich will ich nicht wahrhaben, dass er alt geworden ist. (genau wie ich) Aber wenn ich in stillen Stunden an den ersten Kuss denke, dann beginnt seine Gitarre „Samba Pa Ti“ oder „Europa“ in meinem Kopf zu spielen. Ich beginne zu träumen und denke: Wer, bitte schön, ist Mungo Jerry?

 

75 Jahre Santana. 100 Millionen verkaufte Alben, 10 Grammys und eine Hoffnung: Mit Musik eine bessere Welt schaffen.

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Sax und Bach

Sie steht im Mittelpunkt. Ganz in weiß. Das Ensemble der lautten compagney trägt schwarz. Das Saxofon glänzt golden, sobald Solistin Asya Fateyeva loslegt. Ein Crossover-Abend. Klassische Musik des 17. Jahrhunderts trifft auf Klassiker des 20. Jahrhunderts. Henry Purcell jammt mit den Beatles. Die Saxofonistin schenkt dem Abend Seele, Leidenschaft und Können. Das Beste: Sie spielt ihre Soli, ohne sich als Star zu inszenieren. Faszinierend. Saxofon und Klassik. Geht das? Aber klar doch, wenn Asya ihrem Messing-Gerät den nötigen Atem schenkt. Als die junge Saxofonistin mit der „Alte-Musik-Band“ den Beatles-Oldtimer „When I am 64“ anstimmt, geht ein Raunen durch das Publikum. Die Zielgruppe gluckst selig. Die Babyboomer-Generation schwelgt in Jugendzeiten. Yesterday. Ach, wie schön!

 

 

Asya Fateyeva (*1990), Tochter eines Profifußballers, wächst in Kertsch am östlichsten Zipfel der Krim auf. Ihre Kindheit riecht nach feuchter Salzluft, sagt sie. Mit sechs lernt sie Klavier, dann bringt der Vater ein Saxofon mit nach Hause. „Ich glaube, ich war neun Jahre alt. Ich kann mich gut an den Koffer erinnern. Er war aus blauem Samt, das Saxofon silbern. Er hat sich dann in eine Ecke gestellt, gegen die Wand, um zu üben. Wenn man so spielt, glaubt man, man klingt fantastisch. Die Resonanz ist enorm. Man hat es nicht nur in der Wohnung, sondern im ganzen Haus gehört. Aber beschwert hat sich keiner.“ Asya lernt das Instrument, pendelt zwischen Moskau und der Krim. Sie belegt Kurse am renommierten Gnessin-Institut in Moskau, später im französischen Gap. 2004 zieht die Familie nach Hamburg. Für Asya mit vierzehn Jahren ein Neuanfang.

 

 

Doch ihre Welt ist die Musik. Ihre Heimat das Saxofon: “Musik ist nicht einem einzigen Instrument vorbehalten!” Als klassische Saxofonistin ist sie eine doppelte Außenseiterin. Als Frau mit einem eher typisch männlichen Instrument. Dazu das Vorurteil: Klassisches Sax – geht gar nicht! Der taz sagte sie 2016: „Ich habe noch immer diesen Komplex, dass ich nicht richtig dazugehöre. Dass die anderen hochnäsig auf mein Instrument herabschauen würden. Man kennt diese Zeichnung aus der Nazizeit: Ein Schwarzer spielt Saxofon, davor der Schriftzug „ent-artete Musik“. Sowohl im Dritten Reich als auch in der Sowjetunion war Jazz verboten. Und damit auch das Saxofon. Man hat immer noch diese Vorurteile. Man vergisst leider den Ursprung des Instruments: Mitte des 19. Jahrhunderts, Hochromantik, von dem Belgier Adolphe Sax in Paris patentiert. Es ist wichtig, dass die Leute hören, was das Saxofon kann.“

Asya gewinnt als erste Frau den Internationalen Adolphe Sax-Preis. Der Belgier Sax hatte 1846 seine Erfindung in Paris patentieren lassen. Er baute in seiner Werkstatt mehr als 20.000 Saxofone. 1894 starb er als armer Mann. In den Golden Twenties erlebt sein Saxofon den großen Durchbruch im Jazz. Asya schwärmt von den Möglichkeiten: „Auf dem Saxofon spielt man mit dem Atem. Das ist viel näher dran an einem selbst. Mit mehr Luft spielst du lauter, der Klang vibriert im Körper, man kann mit dem Klang mitleben. Wie ein Sänger.“

 

 

Mittlerweile hat die 32-jährige Künstlerin zahlreiche wichtige Preise abgeräumt. Aber ihre Leidenschaft gehört dem Experimentieren. Sax und Bach, gerne mit der Goldberg-Variation. Sax mit Kurt Weill und der Zuhälter-Ballade. Sax mit Mozart oder Chopin. Anything goes! Ihr Traum? „Selbst Musiker haben Vorurteile gegen das Saxofon und Schranken im Kopf. Wir brauchen mehr Offenheit.“ Asya Fateyeva übt täglich drei Stunden. „Minimum!“  In ihrer Wahlheimat Hamburg ist sie an den Stadtrand gezogen, weil sich Nachbarn beschwert hatten. Keine Frage: Sax ist wild. Sax ist laut. Sax hat Power. Und viel Gefühl. Das beweist jedes Konzert mit Asya Fateyeva. Oh, that Sax!

 

Asya Fateyeva. Foto: Neda Navaee.

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Stimmwunder

Als ich neulich ihre Stimme im Radio hörte, war ich hin und weg. Ein kurzer Live-Auftritt abends, unplugged. Die Stimme hell und klar, ausdrucksvoll, mit großer Bandbreite. Erster Eindruck: Auffallend anders, die Frau kann famos singen und hat mit ihren Texten auch noch etwas zu sagen. Als ich ihren Namen hörte, machte es Klick. Katharina Franck. Da war doch was? Richtig! Die Rainbirds. Eine Berliner Kultband. Unverwechselbarer Gitarrensound. Die Achtziger vor Augen suchte ich im Netz ihren größten Hit: Blueprint. Ihr Durchbruch. Wie Phoenix aus der Asche der ausgebrannten Neuen Deutschen Welle stieg die Band im Herbst 1987 empor. Eine halbe Million verkaufte Alben, lese ich nach, Goldene Schallplatte und Hymnen ohne Ende wie „Sternstunde der deutschen Pop-Musik“. Katharina Franck vorneweg. Markenzeichen Kurzhaarschnitt. Dann war sie weg. Ein Fall, wie man eine Karriere vermeidet?

 

 

Ein Jahr vor dem Mauerfall, sagte Katharina Franck auf dem Höhepunkt der Rainbirds  im Spiegel: „Wir sind irgendwie normal und stellen nicht dar, was wir nicht sind. So etwas überzeugt die Leute. So wie wir aussehen, klingen wir auch“. Die Band brauchte weder Insta-Fotos oder TikTok-Schnickschnack um europaweit bekannt zu werden. Nach zwei langen Sommern brach die Band auseinander. „Es ging damals alles viel zu schnell . . . Wir haben nach außen hin ein sehr klares Gruppenbild abgegeben, aber innen drin gab es große Probleme, weil wir aus dem Proben und Spielen und Interviews geben gar nicht mehr herausgekommen sind. Nach der zweiten Tour war ich auch körperlich einfach am Ende, ich habe mich teilweise durch die Konzerte nur noch hindurch gehustet“.

Katharina Franck machte sich auf eine lange Reise, auf die nicht einfache Suche nach neuen Wegen. Die Diplomatentochter produzierte Hörspiele, experimentierte mit Avantgarde-Künstlern aus dem Umfeld der Einstürzenden Neubauten. Sie veröffentlichte Spoken-Word- Platten, vertonte literarische Größen wie Rilke oder Fontane in Reinhardt Repkes’ „Club der Toten Dichter“. Als Proberäume in Berlin unbezahlbar wurden, zog die gebürtige Düsseldorferin in ein altes Forsthaus bei Neuruppin aufs Land. Auf die Frage, was eine berufliche Alternative wäre, sagte sie einmal: „Schleusenwärterin“. Ihr größter Traum? „Dass die Würde aller Menschen wirklich unantastbar wird“.

 

 

Wenn Katharina Franck singt, dann jubilieren meine Ohren, als würden Regenvögel einen neuen Morgen begrüßen. Auch wenn die Zeit ihrer Hits vorbei sein mag, Katharina Franck ist eine Wiederentdeckung wert. Im September will die bald 69-jährige Künstlerin Neues vorstellen.

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„Ich bin der Waffenhändler der Ukraine“

Update: Am 9. Juli 2022 entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij mit dem Dekret 479/2022 Botschafter Andrij Melnyk. Dies sein ein normaler Vorgang.

Der Mann ist seit Monaten in aller Munde. Andrij Jaroslawowytsch Melnyk. Ukrainischer Botschafter. 46 Jahre. Die „verbale Panzerhaubitze“ Kiews im Westen. Der gebürtige Lwiwer (Lemberger) studierte Chemie, Jura und Internationale Beziehungen und war während der Maidan-Proteste Aktivist. „Ich war der Fahrer des Maidans“. Der ungewöhnlichste Diplomat auf deutschem Boden sagt über sich selbst: „Ich bin ein moderater Mensch. Kein Radikaler. Ich will Menschen überzeugen. Durch die Kraft des Wortes“.

Dabei versteht Melnyk seine Mission als Abwehrkampf eines überfallenen Landes, das um sein Überleben ringt. In dieser Notwehrsituation – „jede zweite ukrainische Familie ist kriegsbetroffen“ – feuert er seine Verbalattacken auf die Trägheit bundesdeutscher Entscheidungsträger, wie es ihm beliebt. Wie einst Trump twittert er gegen die deutsche Elite in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Einen SPD-Politiker titulierte er als „Arschloch“, den Bundespräsidenten als Russenfreund und Verfasser von Friedensappellen als „pseudo-intellektuelle Versager“, die sich „zum Teufel scheren“ sollten. So viel Trommelfeuer war noch nie – von einem Diplomaten.

 

 

Jetzt legte Andriy Melnyk in einem dreistündigen Gespräch bei jung&naiv nach. Im Viertelstundentakt krachte es: „Alle Russen sind meine Feinde“. „Russland hat ein faschistisches System“. „Putin ist schlimmer als Hitler und Stalin“. „Wir haben Merkel naiv vertraut. Das war ein Fehler“. „Ich bin der Waffenhändler der Ukraine“. „Die Menschen aus der Rüstungsindustrie sind die nettesten Menschen, die ich kennenlernen durfte“. „Bandera war kein Massenmörder“.

 

Stepan Bandera. (1909-1959) Ukrainischer Nationalheld oder Nazi-Kollaborateur? Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Bandera? Ein Name, ein Mythos, ein Streitfall. Wer ist dieser Stepan Bandera? National-Held oder Nazi-Halunke? Der Priestersohn aus Staryj Uhryniw, Ostgalizien wurde 1909 in das zerfallende Habsburger Reich hineingeboren. Seine Jugend erlebte er als Angehöriger der ukrainischen Minderheit im neuen Polen. Der glänzende Redner stieg 1933 zum Prowidnyk, zum Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) auf. Die militante OUN-Bewegung orientierte sich an ihren Vorbildern Hitler und Mussolini. Sie wollten einen unabhängigen, homogenen ukrainischen Staat ohne Juden und Polen. Aus diesem Grund ermordete die OUN 1934 den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki. Bandera wurde verurteilt.

Bandera erklärte, dass im Kampf um die Freiheit der Ukraine „nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen“. Nach dem Hitler-Überfall auf Stalins Sowjetunion sah Bandera seine Stunde gekommen. Er proklamierte am 30. Juni 1941 in Lemberg einen neuen Staat, doch Hitler verweigerte dieser Ukraine die Aufnahme in sein „Neues Europa“. Hitler hatte völlig andere Pläne und ließ ihn verhaften. Bis Herbst 1944 war Bandera Sonderhäftling in Sachsenhausen, allerdings mit Wohnzimmer, Teppich und einer Versorgung, von der andere KZ-Häftlinge nur träumen konnten.

 

Lemberger Pogrom Anfang Juli 1941. Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Die Bilanz von Banderas Freiheitskampf? Seine Milizen töteten im Juli 1941 in Lemberg Zehntausende Juden und im März 1943 rund 100.000 Polen. Zehntausende vertrieben sie aus der Westukraine. Bandera hatte persönlich nichts damit zu tun. Doch die OUN-Milizen, die an Massakern, Deportationen und Vertreibungen beteiligt waren, betrachteten ihn als ihren Prowidnyk, ihren Führer, wie u.a. der polnische Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe in seiner Promotion nachwies.

 

Feierstunde zu Ehren Stepan Banderas in München am 17.10.2009 Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Nach dem II. Weltkrieg setzte sich in der Ukraine der brutale Partisanenkrieg mit mehr als Hunderttausend Todesopfern bis in die 50er Jahre fort. Stepan Bandera unterstützte diesen Kampf aus seinem deutschen Exil. Nach den tödlichen Schüssen durch den KGB-Agenten Bohdan Staschinski am 15. Oktober 1959 in München erreichte der Bandera-Kult neuen Auftrieb. Seit dem Ende der Sowjetunion wurden in der Westukraine 46 Denkmäler für Bandera aufgestellt. In der Ostukraine und besonders im Putin-Russland wird er hingegen als Verräter und Faschist wahrgenommen. Für Botschafter Andrij Melnyk ist der 2010 zum „Helden der Ukraine“ ernannte Lemberger der „Inbegriff des Freiheitskämpfers“. Als eine seiner ersten Amtshandlungen in Deutschland besuchte er im April 2015 dessen Grab im Waldfriedhof von München.

US-Historiker Timothy Snyder in Prag über Stepan Bandera.

https://youtu.be/cke7G5_2-ak

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Jenseits der Documenta

Ein Freund von mir ist verzweifelt. In seiner Heimat Äthiopien tobt seit Jahren ein grausamer Krieg. Niemand schaut hin. Er schreibt, allein letzte Woche seien mittlerweile „1.200 Angehörige seines Amhara-Volkes ermordet“ worden. Abgeschlachtet, „erschossen wie Hühner“, schreibt die US-Agentur Associated Press. Ich wusste davon nichts. Immerhin haben zwei österreichische Blätter den Massenmord an Amharas gemeldet. Es soll sich um Mordkommandos der OROMO-Milizen handeln, die offenbar unter Billigung von Premier Abyi Ahmed im bitterarmen Vielvölkerstaat vorgehen. Premier Abyi ist Friedensnobelpreisträger von 2019.

Er galt bisher als Hoffnungsträger, als „der Gorbatschow“ des geschundenen Landes am Horn von Afrika. In Deutschland hat keine einzige große Zeitung diese Meldung abgedruckt. Hierzulande dominierte die Documenta die Schlagzeilen. Der Rest unserer Aufmerksamkeitsökonomie verteilte sich auf Ukraine-Krieg, explodierende Gaspreise, Pandemie, Hitze und Waldbrände. Mein Freund schreibt: „Es ist einfach furchtbar. Zum Heulen. Wir sind … machtlos!“

 

Protest der kleinen Amhara-Community vor dem Berliner Kanzleramt. Er blieb bislang ungehört.

 

Gleichgültigkeit kann auch töten. Völlig klar ist, dass kein Mensch die vielen Krisen der Welt auch nur annähernd wahrnehmen kann. Daher sind immer wieder Mutige erforderlich, die an ihre Aufgabe und an eine sinnvolle Sache im Leben glauben. Es gibt die wunderbare Geschichte von Johann Franck aus der Armeleuteregion Lausitz. Der Gubener liebte seine Heimat und dichtete als Jurist nebenbei Lieder. Die Zeiten, in denen er lebte, waren niederschmetternd. Mitten im Dreißigjährigen Krieg griff er zur Feder. Mitteleuropa war verwüstet. Mehr als Hälfte seiner Zeitgenossen fiel dem Religionskrieg (1618 bis 1648) zum Opfer. Sie wurden abgeschlachtet, vergewaltigt, gerädert oder fielen der Pest anheim. Hobbydichter Franck wollte gegen die Volksverhetzer ein Zeichen setzen. Also dichtete er aus vollem Herzen:

„Trotz dem alten Drachen, trotz des Todes Rachen, trotz der Furcht dazu! Tobe, Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh“.

Franck gehörte zu den unbeugsamen Menschen, deren Gewissen nicht schwieg. Er handelte in der Überzeugung, dass zu Lebzeiten der Feind des Menschen eben nicht der Tod, sondern das irdische Unrecht ist. Der Choral Jesu meine Freude, das Protest- und Anti-Unrechtlied des längst vergessenen brandenburgischen Dichters Jonathan Franck wurde hundert Jahre später vertont. Kein geringerer als Johann Sebastian Bach nahm sich seinem Aufschrei an. Eine Motette, die seitdem millionenfach erklungen ist.

 

 

Mein Freund aus Äthiopien ist gläubiger Christ. Für ihn mag diese kleine Anekdote aus unserem 30-jährigen Krieg ein schwacher Trost sein. Aber vielleicht findet sich jemand, der seine Klage weiterträgt. Die Klage der Amharas. „Wir sind … machtlos!“ Mein Freund wird mit ein paar mutigen Getreuen in Garmisch-Patenkirchen am Rande der Sperrzone des G7-Gipfeltreffens gegen Krieg und Massenmorde in seiner Heimat Äthiopien demonstrieren.

 

Wer mehr über die Lage der Amharas in Äthiopien erfahren will, kann hier erste Informationen erhalten.

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Ein Ritt über den Bodensee

Großschriftsteller Martin Walser und sein fliehendes Pferd. Ob er den Ritt über den Bodensee noch wagen würde? Wohl kaum! Die Bodensee-Pilger wählen heutzutage das Rad, nicht das Pferd. Sie gehören zur Großgruppe der hochmobilen Ü-60-Generation. Er oder sie ist ausgestattet mit Rentenbescheid, E-Bike, Helm, bunter Funktionskleidung und Rossmann-Sonnenbrille. Vorne radelt in der Regel der männliche Vertreter, Typ rüstiger Rentner mit Hoppla-jetzt-komm-ich-Haltung. Im Windschatten gefolgt von der Gattin. Die verspiegelte Sonnenbrille lässt nur wenig Rückschlüsse zu auf ihr Wohlbefinden. Das größte Glücksgefühl ereilt diese Radlerrudel mit Hilfsmotor an langen Aufstiegen, wenn sie mit einem überlegenen Lächeln an unmotorisierter Konkurrenz vorbeiziehen.

 

Martin Walser auf dem fliehenden Pferd. Wie der Bildhauer Peter Lenk den Schrifsteller vom Bodensee sieht. Denkmal in Überlingen. Juni 2022

 

Das ist im angehenden Sommer 2022 der ultimative Kick für die Babyboomer-Generation! Maskenlos und mit vollem Akku rund 250 Kilometer rund um den Bodensee düsen, solange der Saft aus der Steckdose reicht. Radeln durch eine herrliche Landschaft mit See und Alpen bis zum nächsten Gartenlokal. Prost! Dort schmeckt das alkoholfreie Weizenbier doppelt so gut wie zuhause.

Tatsächlich macht der Bodensee seinem Namen alle Ehre. Der See ist bis auf den Boden glasklar. Das Panorama der Alpen ist überwältigend und die Uferpromenaden sind ausstaffiert als stünde die nächste Bundesgartenschau vor der Tür. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die radelnde Massen durch Baden-Württemberg, Bayern, Österreich oder die Schweiz touren. Einzig kleiner, aber feiner Unterschied. Bei den Eidgenossen ist alles deutlich teurer.

 

„Zum Kotzen schön“ fand Maler Otto Dix die Landschaft am Bodensee. Das gilt auch heute noch. Abendstimmung in Überlingen. Juni 2022

 

Die Bodenseeregion wirkt komplett durchorchestriert. Bis auf wenige Nischen am Hochrhein, auf der Höri oder dem österreichischen Rhein-„Ländle“ ist alles durchsaniert und bebaut. Der Ufersaum ist ein langer, verdichteter Freizeitpark. Hotels, Apartments, Minigolfplätze, Einkaufsmärkte sowie Hinweis- und Verbotsschilder aller Art säumen den Weg. Typisch bei der Bodensee-Runde sind unzählige Neubauten mit Seeblick, Villen aller Art und Geschmacksrichtungen. Mal mehr, mal weniger elegant versteckt hinter mannshohen Buchenhecken, aufgeschichteten Steinwällen oder hölzernen Sichtschutzblenden. Auf alle Fälle gilt: „Zutritt verboten“. Das Ufer scheint fest in Privathand zu sein. Die übriggebliebenen Freiräume teilen sich Naturschutz, Badebetrieb, Tagestouristen, Airbnb-Ausflügler und die vielen Menschen auf der Durchreise wie die Bodenseeradler.

 

Kreative Formen der Abschottung der Ufergrundstücke. Gesehen zwischen Romanshorn und Kreuzlingen/CH. Juni 2022

 

Der Maler Otto Dix fühlte sich einst am Bodensee „in die Landschaft verbannt“. Dix suchte in den dreißiger Jahren kurz vor der Schweizer Grenze einen sicheren Rückzugsraum, sein inneres Exil vor den Nazis. Die Natur sei „zum Kotzen schön“, meinte er. Das trifft auch heute noch zu. Allerdings muss der Genuss mit den Segnungen des modernen Massentourismus kombiniert werden. So wäre ein Ritt über den Bodensee heute kaum noch möglich, weil zuerst eine zugängliche Stelle gefunden werden müsste. Dabei meint das geflügelte Wort vom Ritt über den Bodensee, dass man etwas sehr Gefährliches unternommen hat und das wahre Risiko erst im Nachhinein erkennt.

Diese Ballade des Heimatdichters Gustav Schwab aus dem Jahre 1826 beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie handelt von einem Mann, der an einem kalten Wintertag rasch ans andere Ufer gelangen will. Er möchte ein Schiff nehmen, kann aufgrund des schlechten Wetters den Weg jedoch nur schwer erkennen. So reitet er, ohne es zu merken, über den zugefrorenen Bodensee. Am anderen Ufer trifft er eine Frau und fragt, ob noch ein Schiff komme. Sie antwortet, dass er längst am anderen Ufer angekommen sei. Als der Reiter begreift, in welch gefährliche Lage er sich gebracht hatte, fällt er vor Schreck tot vom Pferd.

 

 

Keine Bange. Solch ein Ritt über den Bodensee ist heutzutage mehr als unwahrscheinlich. Zum letzten Mal war Europas drittgrößter Binnensee im Februar 1963 komplett zugefroren. Damals wanderten Deutsche, Schweizer und Österreicher ans jeweils andere Ufer. Es war ein Volksfest. Heutzutage – von fehlenden kalten Wintern infolge des Klimawandels abgesehen – wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man am anderen Ufer zuerst auf ein Schild treffen würden, auf dem steht: Zutritt verboten!

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Kim. Das Napalm-Mädchen

8. Juni 1972. Trang Bong. Ein kleines Dorf in Südvietnam. Kim Phúc Phan Thi spielt im Hof des Restaurants ihrer Eltern. Die Neunjährige kann das Flugzeug noch hören, das die tödlichen Napalm-Bomben über ihrem Dorf abwirft. Kim rennt mit Brüdern und Cousinen um ihr Leben. Als sie vor den US-Bomben auf die Landstraße flüchten, drückt der südvietnamesische AP-Fotograf Nick Ut auf den Auslöser. Er dokumentiert das nackte, schreiende Mädchen mit weit ausgebreiteten Armen und Todesangst in den Augen. Das Bild vom „Napalm Girl“ wird rasch zum „Inbegriff des Schreckens des Vietnamkrieges“, so US-Autorin Susan Sontag. Der Fotograf erhält den Pulitzer-Preis. Kim Phúc Phan Thi überlebt und muss fortan ein Leben lang mit dreißig Prozent verbrannter Haut, heftigen Schmerzen und seelischen Qualen klarkommen.

 

Kim Phúc Phan Thi heute in Kanada. Foto: May Truong

 

„Ich habe kaum noch eine Erinnerung an den Bombenabwurf“, schreibt Kim Phúc Phan Thi zum fünfzigsten Jahrestag des Bildes, das um die Welt ging. Kim schreit „Nóng quá, nóng quá. So heiß, so heiß“. Das Furchtbare: Vor Napalm kann niemand wegrennen. Napalm haftet am Körper, egal wie schnell man rennt. Nach der Aufnahme legt Fotograf Nick die Kamera weg, hüllt Kim in eine Decke und bringt sie zum nächsten Sanitäter. Nick habe ihr Leben gerettet, sagt Kim, obwohl sie ihn lange für dieses Foto verabscheute. „Ich war nackt. Ein schreiendes Mädchen. Warum hast Du dieses Foto gemacht? Warum hast Du dieses Bild veröffentlicht, während meine Brüder und Cousinen wenigstens bekleidet waren? Ich fühlte mich hässlich und schämte mich“.

Der Napalm-Angriff veränderte Kims Leben. Sie wanderte nach Ontario in Kanada aus. Viele Jahre litt sie an Angstzuständen und Depressionen. Das weltberühmte Foto brachte ihr in den achtziger Jahren die Aufmerksamkeit von Fernsehsendern. Sie wurde als Gast in Regierungs- und Königshäuser eingeladen. „Ich wurde zu einem Symbol für den Horror des Krieges“. Schließlich gründete Kim eine Hilfsorganisation für traumatisierte Kriegskinder. Die heute 59-jährige schreibt jetzt in der New York Times: „Ich weiß, was es bedeutet, wenn dein Dorf bombardiert wird. Leider hat sich nichts geändert. Wieder gibt es tote Kinder in der Ukraine oder in Uvalde/Texas. Unschuldige Kinder, die niedergeschossen wurden, aus Hass und Willkür“.

 

 

„Ich trage die Spuren des Krieges an meinem Körper. Bis heute. Die seelischen Narben sieht man nicht“. Dennoch will Kim auch fünfzig Jahre nach dem Napalm-Terror in Vietnam nicht nachlassen, gegen den Wahnsinn des Krieges weltweit anzukämpfen. „Ich bin trotz aller Schwierigkeiten froh, dass Nick (Anm. der Fotograf) das Bild gemacht und veröffentlicht hat. Mein Horror wurde dadurch universal. Ich bin davon überzeugt, dass Friede, Liebe, Hoffnung und Vergebung stärker sind als jede Art von Waffen“.

Als die Queen Schiller besuchte

24. Mai 1965. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Es ist bedeckt und leicht regnerisch, als meine Mutter und deren Freundin mit mir, dem siebenjährigen Steppke, zur Protokollstrecke Stuttgart – Ludwigsburg – Marbach eilen. Die Queen ist in Deutschland. Welch ein Glanz! Was für ein Ereignis! Ich habe Herzklopfen und zwei selbst gebastelte Union Jack-Fähnchen dabei. Die will ich begeistert schwenken, wenn sie im offenen Mercedes S 600 Pullmann auf ihrem Weg zur Schillerstadt Marbach vorbeikommt. Das muss man sich vorstellen: Queen Elisabeth II aus dem Hause Windsor und Prinz Philip Herzog von Edinburgh bei uns! Höchstpersönlich. Auf ihrer ersten Deutschland-Reise nach dem Krieg. Eine Premiere. Das Königspaar aus dem Vereinten Königsreich beehrt für elf Tage unser besiegtes, westliches Wirtschaftswunderland. Ich bin mehr als mächtig aufgeregt.

 

24. Mai 1965. Queen Elisabeth II im offenen Mercedes auf ihrem Weg durch Stuttgart.

 

Lange vor dem angekündigten Termin stehen wir auf der „richtigen“ Straßenseite, an der die Queen am besten zu sehen sein soll. Sie wird hinten rechts sitzen, heißt es, ihr Gemahl Prinz Philip auf der linken Seite. Eine große Menschenmenge ist zusammengelaufen. Alle sind aufgekratzt, schnattern fröhlich. Die Polizei räumt eine breite Gasse frei. Das Warten gerinnt zu einer gefühlten Ewigkeit. Aus Minuten werden Stunden. Da heißt es, die Queen verspäte sich. Gerüchte verbreiten sich. Der 39-jährigen sei angeblich unwohl geworden, weiß jemand, oder die Luxuslimousine sei stehengeblieben. Kaum vorstellbar, aber dieses Gerücht sollte sich später bewahrheiten. Der schwere Mercedes Pullmann versagte in Stuttgart den Dienst. Er musste unter dem Gejohle der Zuschauer von den Chauffeuren angeschoben werden. Welch ein Schmach in der stolzen Wir-sind-wieder-wer-Daimlerstadt!

 

1965. Mit sieben Jahren wollte ich die Queen sehen.

 

Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. „Die Queen kommt!“, ruft ein Mann, der hinter uns auf einer Leiter steht. Die Menschen rufen wie auf Kommando Hurra. Ich stehe als kleiner Bub in Sonntagsstaat mit meinen Fähnchen bereit für den großen Augenblick. Da drängelt und schubst jemand. Meine beiden Wachsstift-bemalten Union Jack-Fahnen fallen auf das Straßenpflaster. Um Himmels willen! Die Jubelschreie steigern sich zu einem Orkan. Ich versuche im nervösen Gedränge meine Fähnchen zu retten, als ich das Brummen der Motoradstaffel – meine Mutter nannte sie „weiße Mäuse“ – und den tiefen Sound der schweren Mercedes-Limousinen höre. Als ich wieder aufrecht stehe und gleichfalls meine Fähnchen schwenke, ist der Pullmann-Mercedes mit der Queen längst vorbei. Ich sehe nur noch schwarze Begleitfahrzeuge von hinten. Unfassbar.

 

Eine Viertelstunde, nachdem ich die Queen verpasst habe, gelingt einem Amateurfotografen in Marbach diese Aufnahme. Die Queen in Schillers Geburtsstadt. Leserfoto Jones.

 

Meine Mutter lacht. Sie strahlt vor Glück. „Ich habe sie gesehen. Sie hatte einen gelben Hut und ein gelbes Chrysanthemen-Kleid an“. Chrysanthemen sind mir in diesem Moment historischen Versagens schnuppe. Ich war bei der Queen und habe sie verpasst. Schlimmer noch:  Meiner Tante gelang 1965 ein Schwarz-Weiß-Foto. Unscharf ist die Queen im Fond zu erkennen. Auch dieser Beleg, dass die Queen bei uns vorbeikam, ist verschwunden. Was ich im siebzigsten Dienstjahr der Queen noch erwähnen möchte. Sie hat sich für den Dichter Schiller, den ich verehre, zehn Minuten Zeit genommen. Sie studierte einige Handschriften, staunte über die bescheidene Küche. Sie lobte den guten Zustand von Schillers Geburtshaus. Kein Wunder. Die Marbacher hatten das Haus komplett renoviert und aufgehübscht. Geschmückt mit Chrysanthemen-Sträußen. Gelb wie Hut und Kleid der Queen, die ich an diesem Mainachmittag des Jahres 1965 verpasst habe.

 

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Achtung! „Germany Calling“  

Propaganda gehört zum Leben. Propaganda kann vieles bewirken. Heute wie damals. Manchmal wirkt Propaganda sofort, meistens jedoch entwickelt das Dauerbombardement toxische Langzeitwirkung. Der Satz: „Der Jude ist schuld!“ gehörte zum Instrumentenkasten der deutschen NS-Propaganda. Genau wie „Swing tanzen verboten“. Ein Kulturkampf der Nazi-Zeit. Jazzmusik galt als undeutsch und war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Bereits 1932 erließ Volksbildungsminister Wilhelm Frick den Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“.  Jazz, also „Negerkultur“ war in Thüringen von nun an offiziell verboten, obwohl sich einige Wirte trauten, das Gesetz zu unterlaufen. Swing war in jenen 30er und 40er Jahren Popmusik. Swing war tanzbar und äußerst beliebt bei der Jugend.

Das Swing-Verbot war ernst gemeint. Freunde der US-Tanzmusik wurden als „Swing-Heinis“ beschimpft oder sogar verprügelt. Ab Oktober 1935 durfte die „entartete anglo-jüdische Seuche“ in den Radiosendern des Dritten Reichs nicht mehr gespielt werden. Nun gab es im ganzen Land ein offizielles „Verbot des Nigger-Jazz für den gesamten deutschen Rundfunk“. Das Schild „Swing tanzen verboten“, das viele kennen, ist allerdings eine gut gemachte Fälschung. Das Schild gab es nicht. Es war die Idee eines Grafikers in den siebziger Jahren, der den Umsatz für eine neue Jazzplatte ankurbeln wollte.

 

 

Während Swing-Größen wie Coco Schumann ins KZ deportiert wurden, gründete Joseph Goebbels 1939 eigens eine staatlich finanzierte Swing-Band. Es war die Einzige in Deutschland, die erlaubt war. Eine streng geheime Band für den Deutschlandsender, um westliches Publikum gezielter ansprechen zu können. So entstand die Propaganda-Swingband Charlie and his Orchestra. Bandchef war Lutz Templin und Sänger Karl „Charlie“ Schwedler gab der Combo ihren Namen. Die Band trat nicht ein einziges Mal öffentlich auf. Die Musiker spielten über 270 Schallplatten ein.

 

Mitglieder von „Charlie and his Orchestra“ nach der Evakuierung aus Berlin an den Reichssender Stuttgart, 1944

 

„Germany Calling“ hieß es seit Hitlers Kriegsbeginn auf Kurzwelle: Cooler Swing aus Deutschland gewürzt mit tumber NS-Propaganda. Bei dir war es immer so schön oder Songs wie I hear music sollte Menschen in Feindesländern für deutsche Kriegsziele begeistern. Der Sound der Band klang durchaus so professionell wie in US-Produktionen. Doch der ungelenke Gesang von „Charlie“ fiel auf. Der Mann war im Hauptberuf Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt für Feindpropaganda. In holprigem Denglisch agitierte er mit Hilfe umgetexteter Songs gegen „jüdischen Kulturbolschewismus“ und die „Angloamerikaner“ in Washington und London. Im Visier besonders Winston Churchill. Textprobe Charlie: „The man with the big cigar, who´s the best friend of the USSR”.

 

 

 

Das war Goebbels Plan: Mit Bebop in den Blitzkrieg. Mit amerikanischem Swing zum deutschen Endsieg. Für Musiker war die Mitgliedschaft im Charlie-Orchester lukrativ. Es gab ordentliche Honorare, dazu coole Musik, vor allem aber die Dienstbefreiung von der Front. Je länger der Krieg dauerte, desto internationaler wurde das Ensemble. 1943 musste das Berliner Orchester wegen der Bombenangriffe zum Reichssender Stuttgart verlegt werden. Der Propaganda-Erfolg der Goebbels-Swing-Truppe jedoch blieb bescheiden. Vielmehr entwickelte sich in vielen besetzten Ländern der Swing zum Symbol des Widerstands.  Viele in Europa bevorzugten den echten Swing, nicht den Propaganda-Swing aus dem Land des Stechschritts und der Durchhalteparolen.

 

 

Swing-Legende Coco Schumann hat die Nazi-Schreckensorte Theresienstadt und Auschwitz nur dank seiner Musik überlebt. Von dem großartigen Gitarristen ist ein wunderschönes Zitat überliefert. „Wer den Swing in sich hat, kann nicht mehr im Gleichschritt marschieren“.

Let´s swing. Der beste Impfstoff gegen Pandemien und Potentaten aller Art.