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Wer ist Sonja?

Sie sitzt aufrecht in einem Berliner Café. Sie schaut ernst und abwartend. Fast gelangweilt. Ihre Augen schauen uns direkt an. Ihre Tischnachbarn sind nur angedeutet. Wahrscheinlich sind sie unwichtig. Obwohl, wer weiß? Die Frau im „kleinen Schwarzen“ raucht, wartet, überlegt. Hofft sie, den großen Moment zu erleben oder das kleine Glück nicht zu verpassen? Sonja. Berlin, 1928. In jenem Jahr wurde mein Vater geboren, mein Schwiegervater auch. Der Maler Christian Schad hat diesen kühlen, flirrenden Augenblick des Zeitgeistes festgehalten. Nun ist Sonja nach sechs Jahren Umbauzeit wieder zu sehen. Die Ausstellungsmacher der neueröffneten Neuen Nationalgalerie in Berlin haben Sonja in die „Neue Sachlichkeit“ einsortiert. Doch wer ist Sonja?

 

Christian Schad. Sonja. 1928

 

Sonja heißt eigentlich Albertine Gempel. In Schwerin geboren, zieht die unternehmungslustige, junge Frau nach Berlin. Nur nichts verpassen, heißt die Devise. In der Hauptstadt der Hoffenden und Scheiternden jobbt sie bei einer Mineralölfirma, bewegt sich jedoch lieber in Künstlerkreisen. Albertine ist Jüdin. Als die Nazis an die Macht kommen, verpassen ihr die neuen NS-Herren einen Stern, den sie nicht mehr ablegen kann. 1933 wird sie fristlos entlassen.  Albertine zieht von Berlin nach München. Dort lernt sie das Glück ihres Lebens kennen. Den Maler Franz Herda, der aus Brooklyn, New York City stammt. Im Überlebenskampf der nächsten Jahre wird sie diese Verbindung retten.

 

Die „echte“ Sonja. Albertine Gempel (1896-1973). Dieses Foto stammt von 1926.

 

Albertine steht mehrfach auf Transportlisten. Doch viel Glück, ein US-Reisepass und „ihr unerschrockenes Auftreten“, so der Ausstellungstext, bewahren sie vor der Deportation in den sicheren Tod. Albertine kann ihrem Freund Franz Herda nach New York folgen. Dort heiraten sie 1948. Aus Sonja wird nun die US-Bürgerin Albertine Herda. Das Paar bleibt bis Anfang der sechziger Jahre in New York, dann kehren sie gemeinsam nach Deutschland zurück. Da Ehemann Herda nicht nur Sonja das Leben gerettet hat, ernennt ihn die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zum „Gerechten unter den Völkern“. Die Geschichte vom Happy End von Sonja alias Albertine Gimpel ist dem neuen Begleitext der Nationalgalerie zu verdanken. Neu ist: Schicksale porträtierter Personen werden – soweit möglich – entschlüsselt und erklärt.  Jetzt bekommen die Unbekannten ein Gesicht, eine Geschichte, einen Namen.

 

Lotte Laserstein . Abend über Potsdam. (1930) Mehr Frauen, mehr globale Moderne, mehr Transparenz verspricht die Neue Nationalgalerie.

 

In der detailgetreu aufgehübschten Neuen Nationalgalerie sind nun 250 der 1.800 Bestandsbilder endlich wieder zu sehen. Die neue Dauerausstellung Kunst der Gesellschaft zeigt prominente Werke von 1900 bis 1945. Von Käthe Kollwitz bis Picasso, von Lotte Laserstein bis George Grosz. Diese unruhige, nervöse Krisenzeit mit zwei Weltkriegen und einem hektischen Tanz auf dem Vulkan steht wie keine andere Epoche für Aufbruch und Erschütterung. Erfreulich: Das sechsjährige Warten wegen der Generalsanierung des ikonischen Baus von Mies van der Rohe durch den Briten David Chipperfield hat sich gelohnt.  Sonja, Abbild der neuen Frau von 1928, wartet wieder im Untergeschoss. Mit kühlem Blick, einer Rose am Kleid und einer qualmenden Zigarette. Sie signalisiert: „Ich lebe meine Leben. Und Du?“ Vielleicht ergibt sich doch etwas Neues – beim Rendezvous in der Neuen Nationalgalerie. Wer weiß?

 

 

Die Kunst der Gesellschaft. Neue Nationalgalerie Berlin. Bis 2. Juli 2023

Last Exit, Kabul

Check-in Kabul. Am deutschen Flughafen pflaumt uns die Lufthansa-Mitarbeiterin an: „Da haben wir nichts zu suchen!“ In der Maschine sitzt eine merkwürdige Mischung aus Geheimdienstleuten, Militärs, Vertretern von NGOs, mein Kameramann und ich. Eine Woche lang wollen wir herausfinden, wie der Stand der Demokratisierung im Land am Hindukusch ist. Wir treffen Frauenrechtlerinnen, Journalistinnen, den Leiter einer Lehrlingswerkstatt, einen vorsichtigen, einheimischen Wahlbeobachter und einen traumatisierten Filmemacher. Das war vor gut zehn Jahren. Was hat sich geändert? Was die Hoffnungen betrifft, nichts. Was die Befürchtungen angeht, alles. Ein filmreifes Ende wie in einem Hollywood-Blockbuster. Die korrupte Elite hat sich im Hubschrauber abgesetzt. Doch für die Menschen sind alle Illusionen zerstört.

Der 36-jährige Regisseur Aboozar Amini hat Anfang 2021 den beeindruckenden Dokumentarfilm Kabul, City in in the Wind in Deutschland veröffentlicht. Die Fortsetzung  als Spielfilm „Ways to run“ musste in den letzten Tagen gestoppt werden. Amini ist in Sicherheit. Sein ganzes Team aber in Kabul in großer Gefahr.

 

 

Hier sollen einige Stimmen aus der afghanischen Kulturbranche zu Wort kommen. Es sind selbstbewusste, stolze, mutige Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte aktiv einsetzen. Sie leben in Angst. Ihre Namen sind geändert.

 T. hat über einhundert Filme produziert. Er liebt das Action-Kino, in dem am Ende immer das Gute siegt. T. ist eine Art Bud Spencer. Er nimmt selbst auswegloseste Situationen mit Humor. In einem kleinen Kabuler Studio arbeitet er wie ein Besessener. Außer Actionkino hat er unzählige Dokumentarfilme über Drogen, Armut und Frauenrechte in seinem Land gedreht. „Bei den Dreharbeiten habe ich einmal acht Mitarbeiter verloren. Wir wurden während unserer Aufnahmen von den Taliban beschossen.“ T. wurde verletzt, machte weiter: „Zukunft? Das ist wohl ein Witz. Unsere Regierung ist korrupt, die Taliban sprengen uns in die Luft, unsere Kinder hungern und der Rest der Welt versucht seit Jahren etwas zu verbessern. Ich mache Filme, das ist alles. Ich habe bei den Märtyrern geschworen, das afghanische Kino Tag für Tag besser zu machen.“

 

Zwei afghanische Filmemacher bei der Arbeit. Foto: Heinz Kerber

 

Afghanistan ist eine Männergesellschaft. In einem unscheinbaren Hinterhof der Hauptstadt arbeitet einer der mutigsten Frauen des Neuanfangs. Die Journalistin Z. hat einen Terminkalender wie eine Managerin. Pausenlos klingeln ihre drei Telefone. Die Mutter von fünf Kindern ist eine viel gefragte Gesprächspartnerin: „Uns gibt es wirklich. Das Afghanische Frauenradio. Dieser Sender ist die erste weibliche Stimme in unserer Geschichte.“ Die Angehörige einer alteingesessenen Familie mit 150-jähriger Stammesgeschichte hat unzählige Morddrohungen erhalten. Aber nur vor einem hat sie Angst, dass sie mit den Taliban allein gelassen wird. „Ich denke ein guter Mensch lässt seinen Freund in schweren Zeiten nicht in Stich. Wenn Ihre Streitkräfte uns jetzt verlassen, bleibt alles auf halber Strecke stehen. Wollen Sie das wirklich?“

Das war einmal: Live auf Sendung in Kabul. Das erste Frauenradio. Foto: Heinz Kerber

 

Die Mehrheit der Afghanen ist unter zwanzig. Die Jugend hat vom Krieg die Nase gestrichen voll. Die Jungen wollen ein neues, ein anderes Afghanistan, dafür steht der Sender Tolo TV. Nachrichtenchefin A. hat wenig Zeit. Die Mittzwanzigerin betont, Afghanistan sei viel mehr als Attentate, Bomben und Gewalt. Dann schaut sie uns direkt an: „Warten Sie! Ich möchte noch etwas Wichtiges sagen. Afghanistan ist auch für den Rest der Welt wichtig. Falls andere Länder uns im Stich lassen, ist es möglich, dass diese Länder eines Tages selbst Probleme bekommen.“

In den Straßen von Kabul. Foto: Heinz Kerber

 

„Eine Reise nach Kabul“ lief 2010 im ZDF. Unser afghanischer Producer konnte sich mittlerweile in Sicherheit bringen.

Nichts gelernt? Die traurige Wahrheit ist eindeutig ja.  „Was haben wir dort zu suchen“, war die Frage schon vor 12 Jahren. Beklemmend aktuelle Antworten damals u.a. von Khazan Gul („Freundeskreis Afghanistan“) und Peter Scholl-Latour. Man hätte nur zuhören müssen. Sehr zu empfehlen.

 

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Lost in Berlin

„Wer hier wohnt, hat verloren“. Das meint die Berlin-Bashing-Kolumne der Süddeutschen aus München. Das Blatt stellt fest: „Was in Berlin schiefläuft? So ziemlich alles.“ Das Verrückte ist: Trotzdem kommen weiter viele Menschen in die deutsche Hauptstadt. Berlin ist nach wie vor Magnet. Die Stadtregierung lobt sich gerne über den grünen Klee. Berlin sei Melting Pot. Drehscheibe. Zukunftswerkstatt. Place to be. In einem Loft am Landwehrkanal lässt es sich leicht über den Alltag der meisten Bewohner hinweglächeln. Was der Stadt fehlt? Eine funktionierende Verwaltung. Wer seinen Ausweis verlängern oder einen Kitaplatz beantragen will, scheitert bereits beim zuständigen Bürgeramt. Termine sind so rar wie bezahlbare Wohnungen. Wartezeiten bis zu drei, vier Monate sind normal. 250.000 unerledigte Fälle. Willkommen in der postsozialistischen Wartegemeinschaft!

 

 

Das Motto der Behörden: ‚Ein kluger Beamter prüft zuerst seine Zuständigkeit und verneint sie.‘ Die Rechnung zahlt der Bürger: Statt sofort und unverzüglich heißt es, eher vielleicht und irgendwann. Folge eines dramatischen Abbaus. Sparen bis es quietscht, hieß es vor Jahren unter dem damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin. Eine ausgebrannte, überalterte, Mitarbeiterschaft soll den Bedarf einer stetig wachsenden Stadt bewältigen. Die logische Folge. Alles dauert. Eine Einbürgerung kann bis zu 24 Monate dauern. Eine alleinstehende Mutter wartet auf das Überbrückungsgeld für ihr neues Baby bis zu drei Monate. Wer im Park oder Wald seinen Müll entsorgt, muss sich keine Sorgen machen. Der bleibt liegen. Im Wald gibt es keine Förster mehr. Zwei Drittel der Stellen fielen weg. Die Grünflächenämter, für die Sauberkeit zuständig, sind überfordert.

Unglaubliche acht bis neun Jahre dauert beispielsweise der Neubau einer Schule.  Warum? Ein Dschungel an Zuständigkeiten, „Behördenpingpong“ genannt: 1) Bezirk definiert Bedarf, 2) Mittel werden beantragt, 3) Testat wird erstellt, 4) Senat für Finanzen verabschiedet Investplan, 5) Anmeldung durch Bezirk, 6) Senatsbeschluss, 7) Erarbeitung Bedarfsprogramm, 8) Genehmigung Bedarfsprogramm, 9) Vergabeverfahren, 10) Auswahlentscheidung, 11) Vorplanungsunterlagen (VPU) werden erarbeitet, 12)  VPU werden genehmigt, 13) Veranschlagung im Haushalt, 14) Bauplanungsunterlage (BPU) wird erarbeitet, 15) BPU wird genehmigt, 16) Ausführungsplanung, 17) Ausschreibungscheck, 18) Baubeginn, 19) Fertigstellung (unbestimmt). Ein Wunder, dass der Flughafen BER nach fast zwei Jahrzehnten Planung, Pleiten, Pech und Pannen überhaupt fertiggestellt werden konnte.

 

Warten, hoffen, aufstehen, weitermachen. Quelle Margherite Saiko

 

Ein letztes Beispiel: Am 11. September 2019 beschloss das zuständige Bezirksamt in Pankow nach Unfällen, dass eine Straße verkehrsberuhigt werden soll. „Aufgrund der dramatischen Personalsituation in der Straßenverkehrsbehörde“ konnten seitdem nicht einmal mehrere Kleine parlamentarische Anfragen beantwortet werden. Fast zwei Jahre sind seit dem Beschluss vergangen. Geschehen ist nichts. „Aktuell krankheits- und urlaubsbedingt“ verfüge man nicht „über die notwendigen Personalressourcen“.  Vielleicht sollte die Straße ausgebürgert werden.

 

Genug gegruselt. Schwabinger Schickeria und Stuttgarter Stammtischler mögen es sicher gerne hören, dass die Berliner nur eine große Klappe haben „und sonst nichts“. Geübte Kenner der Stadt wissen: „Um Berlin in seiner jetzigen Verfassung zu malen, müsste man den göttlichen Dante Alighieri bemühen, welcher die Hölle und das Fegefeuer zu schildern wusste.“ Diese Feststellung ist aus dem Jahre 1896. Nachzulesen bei Alfred Kerr in: „Was ist der Mensch in Berlin – Briefe eines europäischen Flaneurs“.

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„Holt uns raus!“

An einem Sonntag im August liest ein Achtzehnjähriger das Neue Deutschland. Damals hatte das SED-Parteiorgan noch eine Sonntagsausgabe. Die Grenze ist geschlossen, heißt es, die Kriegspläne der Bonner Ultras sind durchkreuzt. Die Geburtsstunde des antifaschistischen Schutzwalls, weltweit nur Mauer genannt. Peter Joachim Lapp ist entsetzt. Er sitzt mit der Gefangnenennummer 1373/60 im Kommando 1 des sächsischen Zuchthauses Waldheim. Verurteilt wegen staatsfeindlicher Hetze. Mit seinen Zellenkameraden diskutiert er deprimiert, was die Grenzschließung zu bedeuten hat. „Es gibt Krieg“, sagt einer. Andere lachen höhnisch. „Die Westmächte werden wieder nichts tun, wie am 17 Juni 1953“, dem Tag des DDR-Volksaufstandes. Andere fantasieren, dass „demnächst Hubschrauber der Amerikaner im Gefängnishof landen und uns rausholen“.

 

Zuchthaus Waldheim. Zellentrakt. Lapp war im Kommando 1 von 1960-1964.

 

Nichts passierte an diesem Sonntag, den 13. August 1961 hinter den Mauern des Zuchthauses von Waldheim – vor sechzig Jahren. Kein Hubschrauber landete. Keiner der rund 1.200 Insassen wurde befreit. Der heute 79-jährige Lapp erinnert sich genau: „Wir waren im Schichtbetrieb auch am Sonntag. Ich war zur Nachtschicht eingesetzt und da liefen verstärkt Offiziers-Patrouillen mit Tränengaspatronen durch die Gänge. Die Wachen auf den Türmen rund um die Anstalt waren normalerweise durch einen Posten besetzt, diesmal mit zwei. Sie patrouillierten mit Hunden. Es war erhöhte Alarmbereitschaft. Die Volkspolizei war verstärkt überall und man spürte die allgemeine Nervosität.“

 

Urteil vom 18.08.1960 wegen „staatsgefährdender Gewaltakte in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze“. Der Gewaltakt bestand in einem Stück Papier mit 13 Artikeln für eine vierkköpfige „Deutsche Widerstandsbewegung“, die im März 1960 vier Wochen existierte.

 

Immerhin gab es kein Krieg. Kaufmannslehrling Lapp durfte in Waldheim als Dreher in einer zugigen Lagerhalle schuften. Damit konnte er sich ein paar Kleinigkeiten im „Knast-HO“ leisten, dem Anstaltsladen. Er saß vier Jahre und sechs Monate ab, wegen „Kindereien“, wie er betont. Seine Schülerclique in Rudolstadt hatte auf dem Papier eine „Deutsche Widerstandsbewegung“ gegründet. Der Name wirkte mächtig, die Ziele waren romantisch-pubertär. Die Schüler forderten die Abschaffung des DDR-Regimes und eine demokratische Erneuerung nach Vorbild der USA. Spitzel meldeten die „Untergrundgruppe“. Die DDR-Behörden nahmen die vier Teenager ernst und sperrten sie wegen Gesellschaftsgefährlichkeit als Feinde des Arbeiter- und Bauernstaates ein. Der achtzehnjährige Peter Joachim Lapp saß seine Strafe bis zu seinem Freikauf in den Westen 1964 nahezu komplett ab.

 

Als das Land noch geteilt war. Brandenburger Tor 1988. Luftbild: MfS. Quelle: BSTU

 

Das Einmauern 1961 gilt als zweiter Gründungsakt der DDR.  Der Schutzwall sollte dem SED-Sozialismus eine zweite Chance geben, Imperialisten, Geschäftemachern und Schiebern in die Schranken weisen, wie es offiziell hieß. Im Zuchthaus Waldheim sank die Stimmung kontinuierlich auf den Nullpunkt. Lapp: „Als dann im Herbst 1961 die Zellen statt mit dreien mit sechs Gefangenen belegt wurden, da hatte die Revolutionäre Justiz zugeschlagen. Alle Kritiker am 13. August kamen zu uns.“ Viele der „Politischen“ in Waldheim waren verzweifelt und hoffnungslos. „Was uns vor allem abgestoßen hat, war diese irre Propaganda, die diese ganze Geschichte als Erfolg der DDR oder des Sozialismus vorstellte. Das Gegenteil davon war der Fall. Wer die eigenen Leute im Lande mit Gewalt halten musste, der konnte nicht sagen, dass das der Humanismus des 20. Jahrhunderts war.“

Die DDR-Führung feierte den 13. August als Akt der Stärke und Tag des Friedens. Peter Joachim Lapp sagt: „Das war der soziokulturelle Geburtstag der DDR. Seitdem konnte dieser Staat sichtbar nicht ohne Befestigung der Grenzen leben und das ist natürlich ein Armutszeugnis gewesen bis zum Schluss.“ Lapp wurde 1992 vom Bezirksgericht Gera rehabilitiert. Das Urteil vom 18.08.1960 wurde aufgehoben.

 

„Alles, was ich bin, wurde ich durch die DDR. Ich bin ein Kind des Kalten Krieges“. Peter Joachim Lapp. Autor, Publizist.

 

Peter Joachim Lapp lebt heute in der Eifel. Der Politologe und Publizist war von 1977 bis 1997 beim Deutschlandfunk. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur DDR und einer der Zeitzeugen in meiner ZDF-Dokumentation „Am Todesstreifen“. Seine Zeit im Zuchthaus Waldheim hat er in „Zuchthausjahre“ (2019) veröffentlicht.

Machs gut, Ben

Einen alten Baum… verpflanzt man nicht, schrieb ich vor gut einem Monat. Hätte ich ihn doch besucht. Ben Wagin. Bildhauer, Baumpate, Lebenskünstler, Maler und unermüdlicher Kämpfer „Komm einfach vorbei“ knurrte er ins Telefon. „Die Deppen von der Firma verstehen sowieso nichts von Kunst. Das soll alles weg. Die Welt ist so.“ Pause. „Vom Fernsehen bist Du? – Ja, vielleicht hilft´s, antworte ich. „Du weißt ja, wo ich wohne…“ Ich kam nicht vorbei. Weder mit noch ohne Kamera. Niemand wollte die Geschichte über das Wegsanieren seines letzten großen Wandbildes in Berlin. Also besuchte ich ihn nicht. Ein Fehler. Ende Juli ist Ben Wagin im Alter von 91 Jahren gestorben „wie er gelebt hat: munter, mutig, heiter“, erklärte sein Baumpatenverein.

Ben war eine Berliner Pflanze. Er duzte jede(n), den mächtigen Minister wie die eifrige Feministin. Ben war Ende Juni sauer: Sein Weckruf für mehr Umweltschutz aus den Achtzigern sollte weichen. Pointe: Im Namen des Umweltschutzes. Die schwarzbraun, verrußte Ziegelwand am S-Bahnhof Savignyplatz soll einen modernen Dämmputz erhalten. Nun kann der Investor loslegen. Der grantige Kauz ist nicht mehr. Doch seine Botschaft vom pfleglichen Umgang mit der Natur bleibt. Dafür stand er.

 

Weltenbaum II am S-Bahnhof Savignyplatz. 105 Meter lange Street Art. Vielleicht kann die Denkmalpflege das Werk aus den Achtzigern retten. Es soll verschwinden.

 

„Wir trinken was wir pinkeln!“ habe ich unzählige Male am S-Bahnhof Savignyplatz auf seinen Weltenbaum II gesehen. Meistens so lange, bis die nächste Bahn kam. Sein Werk ist 105 Meter lange kostenlose Kunst. Ein Riesenbaum mit Ästen, züngelnder Schlange, verzweifelten Gesichtern, Trauernden, Toten, dazwischen ein Mädchen, das lächelt. „Idealisten sind immer in der Gefahr/An ihrem Idealismus zugrunde zu gehen.“ Schiller grüßt. Ben schrieb es in den achtziger Jahren an die Wand, als die Züge viel seltener fuhren, als die Mauer den Weg in der Stadt versperrte.

 

 

„Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur.“ Sein Satz auf seinem riesigem in die Jahre gekommenen Wandbild hat sich mir eingebrannt. Ob die Smartphone-Generation Bens Botschaften noch wahrnimmt? Heute heißt auf den Zug warten, aufs Gerät starren und zum nächsten Bild wischen. Der Weltenbaum II verbindet bekannte Künstler wie Beuys, Grass oder Frida Kahlo. Das Wagin-Gesamtwerk, 2013 komplett saniert, schlägt eine Brücke von den Nazi-Jahren bis zur Umweltzerstörung unserer Tage. Bens Werk soll gerettet werden. Nach Vorstellung der Investoren am besten im Internet. Als Instagram-News.

Als 14-jähriger Junge musste er am Ende des II. Weltkrieges aus seiner westpreußischen Heimatstadt Jastrow flüchten. Er versteckte sich in Pommern hinter einem schützenden Baum, als die Kugeln umherflogen. Sein ganzes späteres Leben stellte er sich folgerichtig vor die Bäume. Er vergaß nie die Worte seines Großvaters, der ihm mit auf den Weg gab: „Egal, was kommen wird, die Bäume werden zu dir sprechen.“ Sein bekanntes Parlament der Bäume am Reichstag genießt mittlerweile Denkmalschutz. Weltweit pflanzte Ben an die 50.000 Bäume.

 

 

Weltenbaum II ist (noch) zu sehen am S-Bahnhof Savignyplatz. 24/7. Eintritt frei. Den Sound liefert die Berliner S-Bahn. Ebenfalls umsonst und draußen.

Ben, mach´s gut!

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Sei du selbst

Auf Island suchen viele Menschen das, was sie zuhause nicht finden. Weite, Wärme, Ruhe, Geborgenheit. Eine unberührte Natur, so schön wie schroff, so wild wie verwegen. Ende Februar 2020, wenige Tage vor dem großen Lockdown in Europa, reiste die polnische Pianistin Hania Rani in den äußersten Südosten der Vulkaninsel. Sie inszenierte am Ende der Welt ihren Song „F Major“.  Der Filmemacher Neels Castillon drehte das Video in einem einzigen Mastershot, ohne einen einzigen Schnitt. Eine Herausforderung bei minus sieben Grad für alle Beteiligten. Für Hania Rania, die drei Tänzerinnen Mellina Boubetra, Janina Sarantsina und Fanny Sage und das Team. Ihr Motiv? Die Suche nach dem einzigartigen Moment der Wahrhaftigkeit. Die entscheidende Voraussetzung für Kunst, die wirklich etwas zu sagen hat.

 

 

Hania Rani sagt: „Ich glaube, ich bin als Musiker wie als Privatperson der gleiche Mensch. Musik ist meine Art zu kommunizieren und ich sehe die Kunst, die Musik als ein großes Ganzes, ohne Grenzen, Unterteilungen, oder sogar Genres.“ Die Pianistin und Komponistin lebt teils in Warschau teils in Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist für die 30-Jährige Polin ein Place to be: „Hier hast du die Freiheit, du selbst zu sein“, betont sie.

 

 

Rani wuchs in einer musikalischen Familie in Danzig/Gdansk auf. Ursprünglich wollte sie Klassische Musik studieren, doch sie entschied sich für Jazz und Elektronische Musik, „mixte Chopin & Schostakovitch mit Dave Brubeck und Moderat.“ Ihre Vorbilder sind Komponisten und Musiker wie Max Richter, Esbjorn Svensson, Miles Davis, Nils Frahm, Murcof, Portico Quartet, Radiohead oder die Beatles. „Das, was alle Künstler, die mich inspirieren, verbindet, ist ihre spezielle Herangehensweise an die Musik und ihren Sound. Für mich haben sie alle ein großes Herz und einen riesigen Verstand.“

 

 

Mittlerweile ist die Pianistin auf großen Bühnen wie in der Nationalphilharmonie Warschau, im Funkhaus Berlin oder im Londoner Roundhouse aufgetreten. Ihr zweites Album „Home“ legte sie im Mai 2021 vor. Dabei versucht sie ihren musikalischen Radius zu erweitern, setzt die eigene Stimme ein und wird auf einigen Stücken von Bassist Ziemowit Klimek und Schlagzeuger Wojtek Warmijak begleitet. „Home“ ist für Rani die Fortsetzung ihrer musikalischen Lebensreise, die auf „Esja“ ihren Anfang nahm. Wie rasch die Lebensentwürfe anders verlaufen können, hat die bleierne Corona-Zeit gezeigt. Mutter Natur zeigt ihre Krallen. Die Menschen reagieren aggressiv, hilflos oder überfordert. Plötzlich steht alles still. Dann bleibt nur die Reise zu uns selbst. Für solche Momente ist Hania Reni eine wunderbare Gefährtin.

 

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Über den Berg

Neue Ideen nehmen ihren Anfang häufig vom Ende der Welt. Halberstadt ist eine kleine Provinzstadt mitten in Deutschland, in Sachsen-Anhalt. Mittendrin, aber abseits. Eine Region die viele nicht kennen, maximal als nervige Wegstrecke zwischen Hannover und Berlin. Nun wollen die Halberstädter nach ihrer John Cage-Performance eine neue spektakuläre Aktion starten. Sie nennen es „Keine Handbreit Wasser“. Rund 200 Freiwillige wollen im Schweiße ihres Angesichts 100 Paddelboote ohne eine Handbreit Wasser unter dem Kiel über einen Berg schleppen. Geht`s noch? Während gerade der Südwesten Deutschlands in brauntrüben Fluten untergeht, ziehen die Halberstädter gegen den weltweit dramatischen Wassermangel zu Berge.

Überschwemmungen und Dürre, Sintfluten und Trockenheit, Bäche, die zu reißenden Flüssen werden und Wasserknappheit sind Extreme aber zwei Seiten einer Medaille. Mutter Natur rächt sich. Der Mensch zahlt die Rechnung. Hunger nimmt weltweit wieder zu. Folge von Pandemie, Klimawandel, gewaltsamen Konflikten und Ergebnis grotesker Ungleichheit. Wie kommen wir über diesen Berg? Ilka Leukefeld lacht. Die Künstlerin hat sich das Huy-Projekt „Keine Handbreit Wasser“ ausgedacht. „Wir sitzen alle in einem Boot. Wir müssen zusammen in eine Richtung rudern. Nicht im Kreis herum. Dann funktioniert`s.“ Die Kunstaktion am 24. Juli 2021 will zeigen, dass Menschen viel bewegen können, wenn sie es gemeinsam versuchen.

 

„Boote im Wald – Karawane im Huy“ – Kunstaktion in Halberstadt/Sachsen-Anhalt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Leukefeld: „Es ist fünf nach zwölf. Wir wollen eine Aktion starten, die Mut macht.“ Die Grundwasservorräte seien endlich, in vielen Regionen der Welt würden die Wasservorräte sinken. „Wir leben in Halberstadt im Vorharz. Wir sind bereits im dritten Jahr mit großer Trockenheit. Oder wir haben Extremregen. Deshalb tragen wir 100 Boote über den Berg. Das ist eine Versinnbildlichung für den Zustand, wenn kein Wasser mehr da ist.“ Am Zielpunkt in einer Scheune in Huy-Neinstadt werden die Boote hängend installiert. Auftakt für insgesamt vier Podien im Sommer und eine Abschlussveranstaltung am 2. Oktober. „Die Resonanz ist gut. Schüler, Studenten, Rollstuhl-Fahrer, Mitarbeiter von Stadtwerken oder Diakonischem Werk, aber auch Flüchtlinge machen mit“. Jede(r) zählt. Noch werden Freiwillige gesucht.

 

14 Kilometer 100 Boote tragen – Sinnbild, wenn das Wasser fehlt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Die Halberstädter haben einen langen Atem. Ihr international beachtetes Orgelprojekt „As slow as possible“ in einem ehemaligen Kloster ist auf 639 Jahre angelegt. Die Hommage an den Komponisten John Cage zieht seit über zwanzig Jahren Publikum aus der ganzen Welt an. Jeder Tonwechsel ist ein Grund zum Feiern. Nun zieht eine Boot-Karawane über den Berg. Ist das nicht Größenwahn, eine Art Klein-Fitzcarraldo im Harzvorland? Nein, meint Ilka Leukefeld, die nach zwanzig Jahren künstlerischer Arbeit in London in ihre Heimat zurückgekehrt ist. „Wir machen das absolut freiwillig. Für mich wäre es schon ein Erfolg, wenn auch nur ein einziges Boot die 15-Kilometer lange Strecke über den Berg getragen wird.“

 

Freiwillige für die Kunstaktion am 24. Juli 2021 können sich noch melden. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Am Morgen des 24. Juli 2021 soll eine Kilometer-lange Karawane in Halberstadt aufbrechen, um zu zeigen, dass Menschen nicht alle Katastrophen klaglos hinnehmen wollen. Die Kunst-Aktion mag verrückt sein. Aber kommen die besten Ideen aus den Zentren der Macht? Sie wachsen woanders. Zum Beispiel in Halberstadt. Auf geht´s. Das Unmögliche wagen. Das Mögliche machen. Über den Berg.

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Das Amt für Glück  

Aufschneider, Besserwisser, Coach-Helden, Damen-Imitatoren, Dampfplauderer, Fitness-Gurus, Freisprecherinnen, Narzissten, Positionierungsexperten, Salon-Löwen, Selbstdarsteller, Sinnsucher, Spielwütige, Schönheiten, Talker, Yoga-Krieger-Übende, Zyniker und noch mehr Zeitgeisthelden sind ständig online. Viele suchen das kleine oder große Glück. Andere teilen ihren Kummer, ihre Ratlosigkeit und Wut. Aber alle wollen Aufmerksamkeit, Klicks, Likes und möglichst viele Follower. Vom Glück ein gesundes Baby in Corona-Zeiten zu bekommen, erzählt diese Twitter-Episode. Die Geschichte mit dem neuen Menschenkind nimmt rasch eine unschöne Wendung. Die Folge: Eine alleinstehende Mutter* verzweifelt an der Berliner Bürokratie. Doch der Reihe nach.

Anfang Juni 2021 war eine werdende Mutter kurz vor der Entbindung Covid-19-positiv getestet worden. Der Nachwuchs kam in der Charité mit Hilfe eines Kaiserschnitts zur Welt. Alles lief gut. Wegen des positiven Tests wurden Mutter und Kind isoliert. So hatte die frisch gebackene Mutter keine Möglichkeit ihr Kind bei der Geburtenmeldestelle anzumelden. Als sie das Krankenhaus verlassen konnte, ergab sich eine bizarre bürokratische Odyssee: ohne Geburtsurkunde kein Mutterschaftsgeld, kein Elterngeld, kein Kindergeld, kein Kinderzuschlag, kein Überbrückungsgeld. Nichts. Die Mutter berichtet: „Der erste Anruf beim Standesamt Berlin-Mitte war deprimierend. Die Dame am Telefon war unfreundlich und pampig zu mir. Wär ja mein Problem, dass ich mein Kind nicht In der Klinik gemeldet habe. Sie hätte die Geburt noch nicht im PC, ich solle kommende Woche noch mal anrufen aber mich nach Beantragen auf 12 Wochen Bearbeitungszeit einstellen.“ Das sind exakt drei Monate.

 

 

Verzweifelt rief die Mutter bei ihrer Krankenkasse an. Die Reaktion? „Ich schilderte meine Situation: Dass ich gerne bereit bin eine Kopie vom U-Heft oder Eintrag im Mutterpass als Beweis senden würde, dass mein Kind existiert. Dass ich auf mein Mutterschaftsgeld angewiesen bin und bat um irgendein Entgegenkommen. Keine Chance. Als ich anfing aus Verzweiflung zu weinen, wurde der Mann leicht pampig. Ich müsse Verständnis haben, dass sie nun mal ihre Vorgaben haben. Ich hätte mir Empathie gewünscht, dass ich ohne Mutterschaftsgeld, ohne Familienversicherung für mein Neugeborenes nun mal verzweifelt bin und nicht weiß, wie ich ihn ernähren soll.“

Doch auch Jobcenter und Sozialamt lassen die Anfragen der berufstätigen Erzieherin nach Überbrückungsgeld ins Leere laufen. Die unverschuldet in Notlage geratene Mutter schreibt: „Sie haben mich wegtreten lassen zwecks Überbrückungsgeld, weil ich ja prinzipiell einen Job habe und nur in Elternzeit bin. Ich wurde sogar dafür geshamed und als „selbst schuld“ angeprangert, weil ich alleinerziehend bin und derzeit auch keinen Unterhalt bekomme. Ich stehe derzeit also da, mit einem Kind, das versorgt werden muss. Mit 450 Euro weniger im Monat und bald komplett ohne einen Cent, weil das Elterngeld und Kindergeld ja erst bearbeitet werden muss“.

 

Verwaltung ist Herrschaft. (Max Weber) Der Rückstau. Rund 250.000 unerledigte Fälle in Berliner Bürgerämtern. Foto: 99pixel

 

In Berlin warten derzeit rund 250.000 Bürgeranfragen auf einen Termin. Ob Geburts- oder Sterbeurkunde, neuer Ausweis oder Wohnsitz-Ummeldung (alles gesetzlich vorgeschrieben): die durchschnittliche Wartezeit liegt bei drei Monaten. Verwaltung ist Herrschaft sagt ein alter Grundsatz. Und Kurt Tucholsky spöttelte: „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.“ Diese Lebenswirklichkeit beschrieb er vor genau 91 Jahren. Im Fall der jungen Mutter habe ich Anfang Juli 2021 beim zuständigen Bezirksamt Berlin-Mitte nachgefragt. Man habe von dem Fall gehört, hieß es, man müsse die Zuständigkeit prüfen. Geschehen ist seitdem – nichts.

 

*Die Mutter will namentlich nicht genannt werden.

Am Ende hilft zur Wirklichkeitsbeschreibung nur Loriot.

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Die letzten Reporter

Wenn Ihr den Zug der Zeit verpasst, dann werdet Ihr „Cadavers on the floor“. Auslaufmodelle. Dinos. Fossile. Die taffe Expertin rät: „Ihr müsst eine Marke werden. Macht Digital Storytelling. Ihr braucht neue, moderne Ausspielkanäle auf Notebook, Tablet oder Smartphone. Die alte Zeitung hat keine Zukunft.“ Die junge Marketingexpertin schaut in die ratlosen Gesichter der alten Hasen. Eine Spezies Berichterstatter, die sich verzweifelt an Stift, Notizbuch und ihre Überzeugung klammert. Journalisten sollten Inhalte transportieren und keine Klickzahlen produzieren. Der neue Dok-Film Die letzten Reporter erzählt drei bewegende Geschichten aus einer Welt, die dem Untergang geweiht zu sein scheint.

 

Thomas Willmann. Sportreporter. Jedes Wochenende im Einsatz. Jetzt auch auf Facebook.

 

Da ist Sportreporter Thomas Willmann aus Schwerin. Motto: Auf dem Platz ist die Wahrheit. Mit stoischer Ruhe berichtet er Wochenende für Wochenende vom Dorf-Kick, Radball oder Ringen. Er hört zu. Jeder kennt ihn. Ein Reporter mit Notizbuch und Nokia-Handknochen, der sich von nichts ablenken lässt. Der seinen Job liebt, dem die Ehefrau weggelaufen ist. Egal. Hauptsache, die Zeitung bleibt. Nun soll er seine „Storys“ auf Instagram und Facebook posten. Wie das?

 

Werner Hülsmann. Immer auf Draht. 30 Jahre lang Osnabrücks Boulevard-König.

 

Amüsant der Promi-Reporter von Osnabrück Werner Hülsmann. Dreißig Jahre lang hauchte er in seiner Kolumne Werners Cocktail dem Provinzdasein Glanz und Glamour ein.  Ob Peter-Maffay-Verschnitt oder blondierte Operndiva, die fürs Autohaus Werbearien trällert, dieser Gerhard Schröder in der Osnabrück-Ausgabe – Motto: Wie war ich? – hatte sie alle. Sogar Thomas Gottschalk. Auch er muss sich umstellen, in Rekordzeit den Quantensprung zum Multitasking-Media-Mann wagen. Als Entertainer alter Schule weiß er allerdings: „Heißer Scheiß“ verkauft sich immer besser als „alter Scheiß“.

 

Anna Petersen. Ganz nah dran. Nachwuchshoffnung aus Lüneburg.

 

Und da ist Anna Petersen, 25-jährige blonde Berichterstatterin aus Bienenbüttel. Sie berichtet für die „Lüneburger Landeszeitung“ über Rentnerinnen im Rufbus, besorgte Bauern, übende Feuerwehrwehrleute und wegdämmernde Ratsmitglieder. Besonders sensibel porträtiert die junge Lokalreporterin eine schicksalsgebeutelte Tochter einer Alkoholikerin. Petersen will dicht dran sein an den Leuten, über die sie schreibt. Nicht weit weg, wie bei ihrer Ausbildung in der Süddeutschen Zeitung, wo sie in der 9. Etage eines gläsernen Hochhauses fremdelte. Anna Petersen hat Zukunft. Sie macht Mut. Für ihr mehrteiliges Porträt „Chaos im Kopf“ über die junge, leidgeprüfte Frau erhielt sie vor wenigen Tagen den renommierten Theodor-Wolff-Preis für Lokaljournalismus.

 

 

Filmemacher Jean Boué ist eine eindrucksvolle Hommage an Die Letzten Reporter gelungen.  Menschen, die schlecht bezahlt in einem prekären 60 Stunden-Wochen-Job drei bis vier Geschichten am Tag abliefern müssen. Getriebene, die gegen dramatisch sinkende Auflagen anschreiben. Immer im Wettlauf mit der Zeit und nun auch „On-Air“. Diese Reporter trinken den Kaffee nicht, sie stürzen ihn weg. Am Ende zeigt der Film fast wehmütig, wie Zeitungsjournalisten gegen den Lauf der Zeit anrennen – wie einst die Bergleute in ihren Zechen und Gruben.

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Fuggern

„Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.“ Maklerpoesie vom Feinsten. Wer in Großstädten eine bezahlbare Bleibe sucht, wird im Alltäglichen schnell auf den Boden geholt. Im Herzen Kreuzbergs“ ist mittlerweile eine 4-Zimmer-Altbauwohnung mit 165,81 Quadratmeter für4642,68 Euro kalt zu haben. Das ergibt eine Warmmiete von 5062,68,- pro Monat.  Kein Wunder, dass weniger Betuchte wie in Berlin dem Mietendeckel nachtrauern (hat nicht funktioniert) oder dreihunderttausendfach eine Initiative zur Enteignung von großen Wohnungskonzernen unterstützen. (soll im September 2021 per Volksentscheid entschieden werden). Doch es geht auch anders. Ganz anders zum Beispiel in Augsburg.

 

Seit 500 Jahren erfolgreicher sozialer Wohnungsbau. Die Fuggerei in Augsburg. Quelle: Wikipedia

 

In der Fuggerei in Augsburg gibt es die einmalige Chance für einen rheinischen Gulden = 88 Cent im Jahr eine Sozialwohnung zu mieten. Günstiger geht es wirklich nicht. Hinzu kommen noch pro Monat rund 85 Euro Betriebskosten. Das ist der Preis für eine rund 60qm große Wohnung mit kleinem Garten, separatem Eingang und einer mechanischen Türglocke wie zu Opas Zeiten. Dieser traumhafte Niedrigpreis gilt seit genau 500 Jahren. Am 23. August 1521 führte Jakob Fugger der Reiche – „ein langer rainer herr, hips und frölich von andlit“ – den ältesten Mietendeckel der Welt ein, in der älteste Sozialsiedlung der Welt.

Familie Fugger machte ihr Geld mit Tuche, Textilien, Südfrüchten, Juwelen und Gewürzen. Die Fuggers finanzierten Kriege und kassierten beim päpstlichen Ablasshandel bis zu 3% Provision. Eine geschäftstüchtige Familie. So eine Art Amazon des Mittelalters. Allerdings hatte die Familie ein Herz. Die Armut in deren Blüte-Zeit  war groß. Jeder zweite Augsburger zählte im 16. Jahrhundert zu den Habenichtsen. Also ließ Jakob der Reiche ab 1516 eine Siedlung bauen: Für kleine Handwerker, Tagelöhner, kinderreiche Familien und auch einen gewissen Franz Mozart. Der einfache Maurer war übrigens der Urgroßvater des späteren Maestros Wolfgang Amadeus Mozart.

Die Aufnahmebedingungen für eine der 142 Wohnungen in 67 Häusern sind immer noch dieselben wie vor 500 Jahren. Wer in die Fuggerei einziehen will, muss Augsburger und katholisch sein. Und: Er oder sie muss bereit sein, dreimal täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis für den Stifter Jakob und die Stifterfamilie Fugger zu absolvieren. Ob die tägliche Lobpreisung noch kontrolliert wird, ist unbekannt.

 

Tagsüber (wieder) Touristenmagnet. Abends Stille mit Rad und Brunnen. Das Tor zur Fugger-Siedlung wird um 22 Uhr verschlossen. Quelle: Wikipedia

 

Derzeit wohnen etwa 150 bedürftige Augsburger für eine Jahres(kalt)miete von 88 Cent in der Fuggerei. Subventioniert von den Fugger-Stiftungen, die ihr Vermögen mit Immobilien und Waldbesitz machen. Kein Wunder: Die Bewerberliste hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Zum diesjährigen Jubiläum planen die Fugger-Stiftungen ein „Next 500“. Ihre Idee von günstigen Sozialwohnungen soll weltweit Schule machen. Wäre das nicht die „wahre Lebenskunst“, die „im Alltäglichen das Wunderbare“ sieht? Wohnen ohne Monatsmieten, die Menschen jede Luft zum Atmen nimmt.

 

 

Fuggern wäre doch ein Plan. Wenn es sein muss, auch mit einem täglichen Dankesseufzer „Vater unser, dein Reich komme, im Himmel wie auf Erden…“