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Die Regenmacher

Wasser wird knapp. Weltweit. In Äthiopien und Somalia, wo nach drei Dürrejahren Millionen Menschen der Hungertod droht. Am riesigen Aralsee in Zentralasien, der langsam, aber sicher austrocknet. Im brandenburgischen Grünheide. Dort streiten die Gemeinden mit dem Technikgiganten Tesla um jeden Tropfen des kostbaren Gutes. Aber auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein staubtrockner Wüstenstaat. Vor 50 Jahren gegründet. Durch Öl unvorstellbar reich geworden, doch eines fehlt tagtäglich: Wasser. Exakt an zwölf Tagen im Jahr regnet es. Durchschnittlich sind das 78 Millimeter Niederschlag, ungefähr so viel wie in einem normalen Sommermonat in unseren Breitengraden gemessen wird. Am Himmel über den neureichen Wolkenstaat mangelt es nicht nur an Regen, auch an Wolken. Die sind kostbar. Wolken werden wie Trophäen verehrt und sind seit einigen Jahren Ziel einer Spezialtruppe. Eine Flugstaffel der Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) mit neun Piloten ist rund um die Uhr startbereit, um herannahende Wolken zu orten und zum Regnen zu bringen. Die Piloten sind Rainfluencer.

 

 

Mit ihren Propellerflugzeugen steuern die Regenpiloten die spärlich vorbeiziehenden Wolken direkt an. An den Tragflächen transportieren sie kleine Kartuschen in der Größe einer Küchenpapierrolle, gefüllt mit Natriumchlorid oder Kaliumchlorid. Diese „Salz-Bomben“ werden mitten in die Wolken abgefeuert. Die Partikel steigen auf, binden Wassermoleküle und regnen zu Boden. Das Kalkül: Die injizierten Partikel binden mehr Wasser und es regnet dadurch mehr – dank menschlicher Erfindungskraft. Regen durch Technik. Ob das Wolkenimpfen Nutzen bringt, ist in der Wissenschaft bis heute umstritten. Es gibt bei der Naturbeherrschung nach wie vor objektive Grenzen. Der Mensch kann weder Wolken schaffen noch lenken.

 

Tesla-Werk Grünheide. Umweltfreundlich auf Kosten der Umwelt? Streitfaktor: Wasserknappheit. Der März 2022 droht der trockenste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnung zu werden.             Foto: Wikipedia. 2020.

 

Das wurmt die Wüsten-Emiratis in keiner Weise. Mit ihren Regenmachern sind sie nicht die Einzigen, die auf künstlich produziertes Wetter setzen. Mehr als 50 Staaten experimentieren mit der sogenannten „Wettermodifizierung“, auch die Bundesrepublik. Dadurch sollen Stürme oder Extremwetterlagen wie Hagel oder Gewitter verhindert bzw. gelenkt werden. Als Erfolgsgeschichte gilt der blaue Himmel über Peking während der Olympia-Eröffnung 2008. Die Chinesen betreiben seit geraumer Zeit technische Manipulationen der Wetterbeeinflussung. „Wenn es zu lange grau und wolkenverhangen über der alten Kaiserstadt Xi`an ist“, schicken wir einfach unsere Flugzeuge hoch. Kein Problem“, lächelte uns die Reiseleiterin bei unserem Chinabesuch an.

 

 

Wolkenpimpen als Zukunftslösung? Als Quelle neuer Regenreservoirs auf unserer überhitzten und austrocknenden Erde? Not macht erfinderisch. Keine Frage, aber macht es Sinn?  „Mit dem Wolkenimpfen verhält es sich etwa so, als würde man einen Salzstreuer auf einen Jumbojet werfen. Theoretisch kann man etwas auslösen, aber praktisch müsse man schon sehr genau treffen“, zitiert die ZEIT Andrea Flossmann, Professorin für Wolkenphysik an der französischen Universität Clermont-Auvergne. Was soll´s, sagt sich das Zentrum für Meteorologie der Emirate in Abu Dhabi. Geld ist im Überfluss vorhanden. Künstlicher Regen muss doch machbar sein. Die technikverliebten Emiratis überlegen zusätzlich, Berge höher zu bauen, um mehr Wolken abfangen zu können und diese wiederum zu impfen. Nichts ist unmöglich. Und doch bleibt ein flaues Gefühl. Wasser wird knapp. Wasser ist Leben. Das lernt jedes Kind. Und noch etwas: Die Natur braucht uns nicht. Aber wir sie.

Zum Weltwassertag am 22. März 2022 rät die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU), sorgsam mit Grund- und Trinkwasser umzugehen.

 

Wasser wird knapp. Der Aralsee in Usbekistan trocknet aus. Eine Fläche fast so groß wie Bayern. „Eine der größten ökologischen Katastrophen der Gegenwart“, so die Vereinten Nationen. Der Aralsee sei „ein Symbol für die Zerstörung des Planeten durch den Menschen“.

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Massaker in Mariupol

Seit über 14 Tagen wird Mariupol in der Oblast Donezk bombardiert. Tag und Nacht. Die Stadt erleidet ein elendes Schicksal. Alles wird beschossen, sogar die Geburtsklinik Marianna. Es gibt keinen Strom mehr, keine Heizung, kein fließendes Wasser. „Man sammelt Schnee, um zu trinken“, klagt der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk die Weltöffentlichkeit an. Leichen werden in Massengräbern verscharrt. Die von Russischen Streitkräften belagerte Hafenstadt in der Südukraine ist in ein Trümmerfeld verwandelt worden – mit vielleicht 200.- bis 300.000 Menschen in den Ruinen. Keiner weiß es genau. Von einer Apokalypse spricht das Rote Kreuz. Von einem Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung viele Staaten. Putins „Operation“ zeigt ihr wahres Gesicht: Verheizen, vernichten, verbrannte Erde. Es ist ein mittelalterlicher Krieg wie im tschetschenischen Grosny oder dem syrischen Aleppo. So sieht „die Befreiung eines Brudervolkes“ aus. Mariupol wird zu einer Geisterstadt zusammengebombt. Ist diese Feuerwalze der letzte Kampf der alten Sowjetkader? Träumt deren Anführer Putin von einem Großreich wie einst Zar Peter der Große?

„Sie kam aus Mariupol.“ In ihrem bewegenden Roman beschreibt die Autorin Natascha Wodin das Schicksal ihrer Eltern. Vater Russe, Mutter Ukrainerin. Das Buch erschien 2017 und erhielt den Buchpreis der Leipziger Buchmesse. Wodin schildert, wie ihre Mutter im II. Weltkrieg vor Stalin flieht, um bei Hitler als Zwangsarbeiterin versklavt zu werden. Im fremden Nachkriegs-Deutschland kommt die Ukrainerin nicht klar. Sie leidet furchtbar an der Sehnsucht nach Heimat. Eine Sehnsucht, die fast so unstillbar ist wie Hunger. 1956 „geht sie ins Wasser“. Da ist Natascha Wodin zehn Jahre alt. „Sie kam aus Mariupol“ ist ihre Familiengeschichte und es ist eine wahre Geschichte. Als Waisenkind wächst sie in einem katholischen Heim auf. In diesen Tagen holt sie der Schrecken des Krieges und der Vertreibung wieder ein. Ein zweites Mal. Die mittlerweile 76-jährige Wahl-Berlinerin kann es immer noch nicht richtig begreifen. Selbst das Beten ist ihr vergangen. „Gott mischt sich nicht ein. Wir müssen unsere Probleme selbst lösen.“

 

https://youtu.be/1IufcuBAuUo

 

Putins „barbarischer Krieg“ sei durch nichts zu rechtfertigen, aber, das betont sie in einem Interview mit der Berliner Zeitung, „es wäre vielleicht nicht dazu gekommen, wenn der Westen sich anders verhalten hätte“.  2001 habe Putin die Hand ausgestreckte, der Westen habe sie ignoriert. Die NATO-Osterweiterung habe gegen die damals an Gorbatschow gegebenen Zusagen stattgefunden. Jetzt befürchtet Wodin ein Verheizen und Abschlachten in der Ukraine, übrigens auf beiden Seiten. „Der ukrainische Heldenmut in Ehren, aber die Jungs und Mädchen sollten zu Hause bei ihren Eltern bleiben und nicht sinnlos ihr Leben opfern, ihr Tod wird der Ukraine nichts nutzen“.

 

Natascha Wodin. Kurz nach Kriegsende 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren. Sie wuchs in deutschen Displaced Persons-Lagern auf. Nach dem frühen Tod der Mutter 1956 kam sie in ein katholisches Mädchenheim. Wichtige Werke: „Sie kam aus Mariupol“ 2017, „Nastjas Tränen“ 2021. Foto: Wikipedia

 

Die russisch-ukrainische Schriftstellerin mit deutschem Pass, geboren 1945 in Fürth in Bayern, ist verzweifelt. Das Drama für sie ist, dass Russland wie die Ukraine „hochkorrupte Oligarchenstaaten“ seien, von unabhängiger Gerichtsbarkeit keine Spur. So erzählt sie in „Nastjas Tränen“ (2021) eine Alltagsgeschichte aus Kiew, in der ein Ehepaar ihren gut gehenden Copy-Shop an einen kriminellen Clan verliert. Die Behörden schauten weg. Dennoch gelte selbstverständlich das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. Die Unabhängigkeit trete Putin mit Füßen. „Er kommt mir vor wie ein Cäsar in seinem letzten Machtrausch und deshalb auch zu allem fähig. Vielleicht ist der Angriff auf die Ukraine eine Art erweiterter Suizid“.

 

 

In Zeiten einer „atomaren Explosion von Lügen, Fake-Nachrichten und Desinformationen“ müsse man trotz aller Verbrechen klaren Kopf bewahren. Eines ist Natascha Wodin wichtig zu betonen. „Viele Russen wollen diesen Krieg nicht.“ Währenddessen versinkt ihre Vater- und Mutterstadt Mariupol im Pulverdampf russischer Großmachtgelüste. Stalin erlebt seine Wiedergeburt als Putin. Die Folge: Ein weiteres Mal müssen Mädchen aus Mariupol einen katastrophalen Geschichtsbruch in Europa erleben – wie 1941 bis 1945. Der Exodus von Millionen Menschen hat längst eingesetzt. Wie der Krieg ausgeht? Natascha Wodin weiß es nicht Sie antwortet lakonisch: „Wir müssen warten auf das, was kommen wird“. Wiederholt sich Geschichte? Es scheint das Schicksal der Ukraine zu sein.

Wer Menschen aus der Ukraine in Berlin helfen will, kann zum Beispiel die Notunterkunft in Berlin-Mitte in der Straßburgerstraße unterstützen. Bereits 2015 war das Haus ein Anlaufpunkt für Geflüchtete. Jetzt für Bürger der Ukrainischen Volksrepublik. Am sinnvollsten sind zur Zeit Geldspenden.

GLS Bank
IBAN DE 98 4306 0967 1225 518200
Kennwort: Ukr.Strassb.Str.Berlin e.V.

Wer will diesen Krieg?

Krieg als Lösung? – Nicht für Olgas Familie aus Charkiw. Großmutter Olga flüchtet mit drei Kindern in überfüllten Zügen nach Berlin. Die Mutter ist vor Kriegsausbruch an Krebs gestorben. Der Vater bleibt zurück – zur „Verteidigung der Heimatstadt“. Krieg als Lösung? – Nicht für Susana Camaladinova aus Kiew, Mutter von zwei Kindern. Sie nimmt ihrer Kinder und flüchtet mit dem Auto nach Berlin. Susana ist Sängerin, besser bekannt als Jamala. 2016 gewann die Ukrainerin in Stockholm den ESC-Contest mit ihrem Lied „1944“. Der auf Krimtatarisch gesungene Song erzählt von verlorener Heimat. Jamalas Großeltern wurden 1944 von der Krim nach Zentralasien deportiert. Stalin beschuldigte die Krimtataren kollektiv der Kollaboration mit Nazi-Deutschland. Jamala ist nun im deutschen Exil in Sicherheit. Sie sagt: „Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg aufhört. Ich singe heute im Namen der Kinder. Ich singe heute im Namen der Frauen. Ich möchte, dass die ganze Welt unsere Stimme hört und von unseren Schmerzen und Leiden hört.“ Ihr Mann verharrt in Kiew.

 

 

Krieg als Lösung? – Nicht für Anna Skryleva, eine international renommierte Pianistin und Dirigentin. Seit 2019 Generalmusikdirektorin am Theater Magdeburg. Die 47-jährige gehört zur großen Community der Russen in Deutschland. Sie verurteilt Putins Intervention und bangt um die Zukunft der Ukraine und die ihrer Heimat in Russland. Für Anna Skryleva ist der Überfall ein „Albtraum“. Dem MDR sagte sie: „Leider merke ich, dass jetzt generell die Kultur sehr unter Druck steht. Ich meine, ich bin Russin, in Russland geboren und aufgewachsen. Ich bin deutsche Staatsbürgerin. Aber natürlich werde ich für alle Russin bleiben – und das ist auch gut so. Ich will meine Identität nicht verstecken. Aber umso wichtiger finde ich, als Russin wirklich zu sagen, dass so ein Kriegsverbrechen heutzutage überhaupt nicht geht!“

 

 

Krieg ist teuer. Wir werden auch im Westen die Folgen bald spüren. Energie, Lebensmittel, Benzin. Alles wird teurer. Währenddessen laufen die Propagandamaschinen auf Hochtouren. Auf beiden Seiten. Krieg ist Macht. Putins Kriegslogik: Angriff als Verteidigung. Mit diesem Satz rechtfertigte er den Überfall: „Die wahre Stärke liegt in der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Doch Krieg zerstört die Wahrheit. Als erstes. Das weiß auch die Duma. Das russische Parlament hat ein Gesetz erlassen, wonach das Benennen der Militäraktion als Krieg mit Strafen bis zu sechs Jahren geahndet werden kann.

 

 

Putin lässt seit Tagen Millionenstädte beschießen wie einst die Serben Sarajewo im Bosnienkrieg. Die Orthodoxe Russische Kirche verteidigt Putins Vorgehen als notwendiges Mittel. Die Patriarchen fungieren als eine Art innere Gesinnungspolizei, besonders erfolgreich auf dem Land. So eskalierte am 24. Februar 2022 mit der russischen Invasion in der Ukraine eine brisante Mischung aus Putins Größenwahn und seinem Netzwerk aus Kreml, Kirche, Militär und Geheimdienst. Dirigentin Anna sagt: „Das Schlimmste ist, was die Regierung in Moskau getan hat: Sie hat nicht nur Völkerverbrechen der Ukraine gegenüber getan. Sie hat ihrem eigenen Volk gegenüber ein Verbrechen getan. Jetzt beginnt so eine Art Hexenjagd auf Russen auf der ganzen Welt, ohne zu fragen, wie wir überhaupt zu diesem Weg stehen. Das finde ich das Schlimmste.“

 

 

Olga, Jamala und Anna wollen diesen Krieg nicht. Großmutter Olga muss nun mühsam mit ihren Kindern in einem fremden Land Fuß fassen. Jamala singt beim deutschen ESC-Wettbewerb, wird umjubelt und denkt doch nur an ihre Heimat. Anna weiß noch nicht, ob ihr Projekt „Classic for Peace„, bei dem junge ukrainische und russische Musiker gemeinsam musizieren, eine Zukunft hat. Wir selbst jedoch können viel tun. Raus aus der Komfortzone,runter vom Sofa. In jeder Gemeinde, in jeder Stadt gibt es Hilfsorganisationen, die selbst Hilfe benötigen. Menschen in Not konkret beizustehen ist eine wunderbare Sache. Viele sind bereits dabei.

Zarte Pflanze Demokratie

Wiederholt sich Geschichte? 1938 erfolgte der Einmarsch von NS-Truppen in die Tschechoslowakei, um das Sudetenland „heim ins Reich zu holen“. 1968 folgte der Einmarsch der Roten Armee in Prag, um „Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“. Wladimir Putin rechtfertigt seine Invasion, die Ukraine bereite einen „Genozid“ vor, das Land müsse „entnazifiziert“ werden. Grotesker Höhepunkt einer Desinformationskampagne und moralischer Tiefpunkt des Mannes im Kreml. In Kiew ist ein gewählter ehemaliger TV-Komiker im Amt. „Wie könnte ich ein Nazi sein?“, fragt Wolodymyr Selenskyj, der selbst Jude ist. Will Wladimir Putin mit seiner Invasion den 44-jährigen Präsidenten entnazifizieren?

Um die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen, möchte ich an einen 100-jährigen Veteranen erinnern, der im II. Weltkrieg gegen echte Nazis gekämpft hat, die einen unvorstellbaren Genozid durchzogen. Er wagte alles: als Deutscher und als Jude. In der Uniform eines US-Offiziers, übrigens an der Seite der Sowjetunion. Sein Name ist Günther Stern. Der gebürtige Hildesheimer, Jahrgang 1922, ist eine lebende Legende. Er hat Kopf und Kragen für die Demokratie riskiert. Es hat sich gelohnt, sagt er.

 

Guy Stern, Jahrgang 1922. Ein Deutscher in US-Uniform. Angehöriger der legendären „Ritichie Boys“, benannt nach ihrem Ausbildungscamp in Maryland, USA.

 

1937 konnte er mit Hilfe eines lebensrettenden Visums in die USA flüchten. Da war er gerade 15 Jahre alt. Seine zurückgebliebene jüdische Familie überlebte den Holocaust nicht. Als Hitler 1941 Washington den Krieg erklärte, wurden im Camp Ritchie, Maryland, junge Deutsche zu einer Spezialeinheit ausgebildet. Nicht wenige von ihnen waren Jungs wie Günther, der sich fortan nur noch Guy nannte. Leute wie er wurden zunächst als feindliche „Aliens“ verschmäht. Sie sollten als Ritchie Boys Teil der psychologischen Kriegsführung werden. Knapp 10.000 junge Hitler-Gegner durchliefen das Camp.

 

Guy Stern als US-Offizier im II. Weltkrieg. Im Sommer 2021 erzählte er mir, wie er als Offizier der Roten Armee mit dem Fake-Namen Krukow bei den Verhören mit widerwilligen NS-Offizieren sichtbare Erfolge erzielte. (in deutscher Sprache ca. 7 Minuten)

 

Mit 22 Jahren kehrte Guy Stern in US-Uniform nach Europa zurück. Ab Sommer 1944 war er vor und hinter der Frontlinie undercover in geheimer Mission unterwegs. Niemand kannte den Nazi-Feind besser als die Ritchie Boys. Dessen Stärken, dessen Schwächen. Vom D-Day in der Normandie bis zur deutschen Kapitulation. „Wir hatten mehr Mut als Verstand“, betont Guy, der mit Waffen überhaupt nicht umgehen konnte. Seine Waffe war das Wort. Der Hildesheimer verhörte KZ-Aufseher und fanatische SS-Offiziere. Aber auch prominente Gefangene wie Raketenforscher Wernher von Braun oder Reinhard Gehlen, den späteren BND-Chef.

Ob er Stolz empfinde, als Sieger der Geschichte nach Deutschland zurückzukehren, frage ich. „Stolz ist nicht das Wort. Nein. Es ist eher um die Leute, die sich mit mir vereinen, mit denen ich mich vereinen durfte, dass ich denen auch den Tribut zolle, hierherzukommen an einem der Jahrestage von den schrecklichen Ereignissen, von dem Krieg.“

 Für Guy Stern ist Demokratie etwas sehr Kostbares. In einem herrlich altmodischen aber perfekten Hochdeutsch betont der mittlerweile hundertjährige Germanistikprofessor, dass ihm eine Sache ganz besonders wichtig sei. „Die Demokratie ist eine sehr zarte Pflanze. Unser Kampf muss sein, diese zarte Pflanze zu schützen, damit wie beim Hildesheimer Rosenstock jedes Jahr eine neue Rose hervorgeht.“

 

 

Guy Stern hat mit seiner Frau Susanna Piontek, einer deutschen Schriftstellerin, soeben das Buch „Wir sind nur noch wenige“ veröffentlicht. Am 14. März 2022 von 16.00 bis 17.00 wird es in Berlin (digital) vorgestellt. Es ist an der Zeit, wieder Rosen zu pflanzen. Sie sollten gehegt, gepflegt und geschützt werden.

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„Bei Risiken und Nebenwirkungen…

…fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Aber was tun, wenn die Fachleute bei Schmerzen überhaupt nicht helfen können. Wenn sie die Krankheit noch nicht einmal kennen. Dann wird es kompliziert. Noch komplizierter ist der Name der Erkrankung, an der immer mehr Menschen leiden. Sie heißt Myalgisches Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom – abgekürzt: ME/CFS. Kaum zu merken, schwer auszusprechen. Noch besser ist es, mit dieser heimtückischen neuroimmunologischen Krankheit nicht in Berührung zu kommen. Denn ME/CFS bedeutet Leiden und Siechtum. Es ist ein körperlicher Verfall bis zur totalen Erschöpfung. Nichts geht mehr. Das Schlimme: niemand kann bisher wirklich helfen. Bislang. Das soll, das muss sich ändern, fordert Sibylle Dahrendorf. Die 58-jährige leidet seit fünf Jahren an ME/CFS. Ich kenne Sibylle als aufgeweckte, lebensfrohe Regisseurin und langjährige Mitarbeiterin des legendären Theatermachers Christoph Schlingensief. Sibylle war ein Energiebündel. Jetzt lebt sie zurückgezogen in ihrer Wohnung wie in einer Höhle. Die Berlinerin kann sich kaum noch bewegen.

 

Sibylle Dahrendorf. Regisseurin, Frida Kahlo-Bewunderin. Organisatorin der ME/CFS-Spendenaktion. Quelle: #Sibylle Dahrendorf

 

Was ist ME/CFS? Unser Interview haben wir per Telefon geführt. Die Antworten hat Sibylle autorisiert. Sie ist eine von mindestens 300.000 Deutschen, die an ME/CFS leiden. Tendenz steigend. Es trifft vor allem jüngere und hochmobile Menschen, die viel in der Welt unterwegs sind. Hinzu kommen mittlerweile auch Long-Covid-Erkrankte, die über ähnliche Symptome klagen. Die allermeisten ME/CFS-Geschädigten bekommen keine oder eine falsche Behandlung. Nach der Devise: „Mal entspannen! Wieder Sport treiben und an die frische Luft gehen!“

Wie kam es zu Deiner Erkrankung?

Sibylle Dahrendorf: „Möglicherweise habe ich mir ME/CFS als Folgen von diversen Infektionen das Virus unter anderem 2011 in Burkina Faso geholt. Ich war dort zur Eröffnung von Schlingensiefs Operndorf.  Ich habe mir die Malaria eingefangen. Es war ein schwerer Verlauf, aber ich habe sie gut überstanden. Im gleichen Jahr zuvor hatte ich auch in Burkina Faso eine Lebensmittelmittelvergiftung, die unter anderem mit Fluorchinolonen behandelt wurde. Die Medikamente können Schäden verursacht haben. Daher vermute ich unter anderem die zellulären Schäden. Später in Berlin begannen die Probleme.“

 

Was bedeutet ME/CFS für Dein Leben?

„Die Intensität der Krankheit ist nur schwer zu vermitteln. Sie hat eine zerstörerische Kraft, als ob man im Feuer liegt. Du läufst Marathon und erholst dich nicht. Der Körper fährt nicht runter. Er ist immer im Stress. Mit unter anderem Atemnot und Herzrasen. Es ist wie ein Adrenalinrausch.

 

Wie sieht Dein Alltag aus?

„Jede Form von körperlicher Anstrengung führt zu Überanstrengung. Ich bin entkräftet bis auf die Knochen. Der Körper wehrt sich. Es fühlt sich an, als wäre der Stecker herausgezogen.

Ich habe über 150 Symptome. Ich habe keine Gefäßregulation mehr. Ich bin seit fünf Jahren arbeitsunfähig. Mein Körper fällt auseinander. Ich kann keine zwei Minuten mehr stehen. Ich kann das Haus nicht mehr verlassen.“

 

Gibt es Hilfe?

„Die Krankheit wird von der Politik seit Jahren bewusst ignoriert.“

 

Sibylle Dahrendorf hat mit anderen Betroffenen eine private Spendenaktion ins Leben gerufen. Der Spendenstand liegt derzeit bei rund 180.000 Euro. Forschung ist dringend nötig. Es gibt keine wissenschaftlichen Studien in Deutschland. Die Pharmabranche interessiert sich nicht für diese komplexe Multisystemkrankheit. Nach einer Bundestags-Anhörung im Petitionsausschuss Mitte Februar 2022 kündigte der bayrische Bundestagsabgeordnete Erich Ilstorfer (CSU) zumindest eine erste staatliche Förderung in Höhe von 800.000 Euro an. Sie könnte den Start zu einer Medikamentenstudie an der Uni-Erlangen durch Dr. Bettina Hohberger ermöglichen. Der bayrische Landtag will die Summe Anfang April 2022 genehmigen. Das wäre ein Anfang.

 

Auch der renommierte Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk unterstützt als ME/CFS-Betroffener den Spendenaufruf.

 

Gesucht wird ein Medikament, das hilft. Noch mehr brauchen wir Hoffnung, sagt Sibylle Dahrendorf, dass die rätselhafte Krankheit endlich ernstgenommen wird. Ihre Spendenaktion heißt „Wir fordern Forschung“. Jeder Euro zählt.

Sehr empfehlenswert ist die arte-Doku „Die rätselhafte Krankheit – Leben mit ME/CFS“ von Daniela Schmidt-Langels aus dem Sommer 2021.

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Allendes Enkelin

Geschlagen ziehen die Großeltern nach Haus. Die Enkel fechten` s besser aus. Das meint der Volksmund. Bald wird in Chile eine Enkelin den Beweis antreten müssen, ob diese Volksweisheit stimmt: Maya Fernández Allende. Die Veterinärmedizinerin soll ab März 2022 Verteidigungsministerin werden. Die 50-jährige Sozialistin hat damit künftig die Generalität zu befehligen und die müssen parieren. Ein Himmelfahrtskommando? Ein alter Obrist drohte bereits offen, ihre Ernennung sei eine „Schande“ für die Armee. „Das einzige Verdienst von Frau Fernández ist ihr Hass auf die Streitkräfte“, tönte der Mann, der 2018 wegen Ermordung von mindestens 15 Allende-Anhängern verurteilt worden war.

 

Das letzte berühmte Foto von Salvador Allende (links mit Brille) im Präsidentenpalast Santiago de Chile am 11. September 1973.

 

Vor fast genau fünfzig Jahren stürzten Obristen mit Hilfe des US-Geheimdienstes CIA den ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Eine bis heute traumatische Erfahrung für das Andenland. In einem blutigen Putsch errichtete General Augusto Pinochet ein Regime, das siebzehn Jahre lang mit harter Hand regierte. Die junge Elite flüchtete ins Ausland. Viele gingen in Deutschland ins Exil, das damals zwei Möglichkeiten bot: in der DDR und in der Bundesrepublik.

 

 

Wird das alte Offizierskorps der neuen Verteidigungsministerin folgen? Die Generalität genießt in Chile weitgehende Privilegien. Nach einem Gesetz der Militärjunta von 1980 sind Offiziere mit einen bestimmten Prozentsatz an Erlösen des chilenischen Exportschlagers Kupfer beteiligt. Ein lukratives Zusatzeinkommen plus großzügigen Pensionsregelungen und luxuriösen Ferienclubs. Die neue Regierung unter dem jungen linken Präsidenten Gabriel Boric will dieses Gesetz abschaffen. Für Maya Fernández steht viel Arbeit an. Gelingt ihr ein Reinigungsprozess bei den von Korruptionsfällen geschüttelten Streitkräfte? Oder belässt sie es bei symbolischen Maßnahmen?

 

Allendes Enkelin: Maya Fernández. Designierte Verteidgungsministerin Chiles.  Foto: Facebook

 

Maya Fernández Allende ist das Kämpfen in die Wiege gelegt worden. Ihr Leben ist von tiefen Einschnitten, großen Verlusten, aber auch von starkem Durchsetzungsvermögen geprägt. Als ihr Großvater 1973 im Präsidentenpalast von Santiago in auswegloser Lage Selbstmord beging, war sie zwei Jahre alt. Ihrer Mutter Beatriz Allende, nur „Tati“ genannt, gelang die Ausreise nach Kuba. Mayas Vater, ein kubanischer Geheimdienstmann, trennte sich jedoch nach der Rückkehr von „Tati“ und entschied sich für seine eigentliche Familie. Er hatte zu „Tati“ keine Liebesbeziehung aufgebaut, sondern einen Befehl ausgeführt. Mitte Oktober 1977 nahm sich Mayas Mutter das Leben. Ihre beiden Kinder wurden in Havanna von der Schwester von Allendes Geliebte großgezogen.

 

Allendes Nichte: Isabel Allende. Das Geisterhaus erschien 1982 und wurde ein Welterfolg. Isabel erzählt die Geschichte des Putsches in Chile.

 

Maya war 21 Jahre alt, als sie 1992 mit ihrem jüngeren Bruder nach Chile zurückkehrte. Dort studierte sie Biologie und Veterinärmedizin. Sie arbeitete als Bezirksrätin und leitete die chilenische Abgeordnetenkammer. Mitte März 2022 soll Allendes Enkelin das Kommando über das Militär übernehmen. Ein Apparat, der bereits ihre Berufung als „Erniedrigung für unsere Institution und ihre heilige Geschichte“ anprangert, so der verurteilte Obrist i.R. Jaime Manuel Ojeda Torrent, ein Pinochet-Getreuer.

Der neue Job ist eine wahre Herkulesaufgabe für die Frau, die ihren Großvater und ihre Mutter durch Suizide verlor, weil sie für ihr Land einen demokratische Neuanfang mit einer loyalen Armee wollten. Auf die Verfassung wird Maya Fernández Allende ihren Eid ablegen, wie ihr Großvater – im Namen des Volkes.

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„Wo aber Gefahr ist…“

„…wächst das Rettende auch“.

Am 11. September 1806 hat Friedrich Hölderlin keinen Schutzengel. Er ist in allerhöchster Gefahr, aber Rettung ist von den Häschern des Kurfürsten nicht zu erwarten. Sie verschleppen den 36-jährigen aus dem hessischen Bad Homburg nach Tübingen. Hölderlin gilt als Staatsfeind, steht unter dem Verdacht des Hochverrats. Er war als Mitglied einer revolutionären Gruppe denunziert worden. Der Dichter widerruft: „Ich will kein Jakobiner sein.“ Es hilft nichts. Hölderlin wird für „geisteskrank“ erklärt. Am 15. September 1806 trifft er in der Psychiatrischen Anstalt von Tübingen ein.

Seine „Therapie“ besteht aus einem Mix aus abwechselnd Tollkirsche, Opium und Quecksilber. Nach 231 Tagen „Behandlung“ wird er als unheilbar entlassen. Der Gutachter vermerkt, Hölderlin habe noch drei Jahre Lebenszeit. Asyl findet der „Wahnsinnige“ bei einem Tischler. Ernst Friedrich Zimmer nimmt den Dichter auf, räumt einen Raum im Turm über dem Neckar frei. 36 Jahre verbringt Hölderlin hier bis zu seinem Tode. Besser bekannt als „Hölderlin-Turm“ von Tübingen.

 

„Alles wird von Grund auf neu bestimmt.“ Friedrich Hölderlin (1770-1843). Pastell von Franz Karl Hiemer, 1792.

 

Der Dichter und der Handwerker werden Freunde. Der eine arbeitet mit Gedichten und Gesängen, der andere mit Holz und Hobel. Hölderlin arrangiert sich in seinem „Käfig“. Der Dichter sehnt sich nach Schutz und Geborgenheit. Kein Wunder. Die erste Hälfte seines Lebens war von Aufbruch, Revolutionsromantik und viel Sturm und Drang geprägt. Danach folgten Krisen, Niederlagen und Absturz.  Hölderlins Mutter wollte immer, dass er Pfarrer werden sollte. Doch ihr Sohn scheiterte auf der ganzen Linie. Im bürgerlichen Sinne gelang nichts. Sein Glaube an die Französische Revolution platzte wie eine Seifenblase. Seine Liebe zur Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard endete in einer Katastrophe. Seine Hoffnung als Dichter den Lebensunterhalt bestreiten zu können, misslang. Nicht einmal als Hauslehrer konnte er sich über Wasser halten „Was du hast, ist Atem zu holen“, notiert er resigniert. Und: „Wozu Dichter – in dürftiger Zeit?“

 

Hölderlin mit Susette Gontard. Seine große, unerfüllte Liebe zur Bankiersgattin aus Frankfurt/Main. Er verewigte sie als „Diotima“ in seinem Roman Hyperion.

 

Doch seine Gedichte und Werke markieren den Durchbruch zur Moderne. „Komm ins Offene, Freund!“ ist sein Motto. Dichtung ist für ihn Dienst an der Gesellschaft. Der Versuch, Menschen mit Kunst und Kultur zu ändern sein Ideal. Friedrich Schiller ist und bleibt sein Idol. Der Dichterfürst von Weimar, der als Schwabe „im Ausland“ ein Großer wurde, genau wie Hölderlins Studienfreund Hegel in Berlin.

 

„Hölderlin-Turm“ in Tübingen. Hölderlin wurde beeinflusst durch Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“

 

Im „Hölderlin-Turm“ pflegt die schöne Tischler-Tochter Lotte Zimmer liebevoll die verkannte, manchmal „ach so wundersame“ Person. Er habe sich in Tübingen nicht als Gefangener gefühlt, heißt es, das kleine Turmzimmer sei sein Schutzraum gewesen. 49 Gedichte verfasst er noch. Als er sich 1812 von seinem Hausherrn einen „Tempel aus Holz“ wünscht, muss Tischler Zimmer lachen. Er antwortet: „Ach, Hölderlin, ein Schreiner baut Tische und Stühle, Türen und Treppen. Ich habe keine Zeit, nur so aus Spaß einen kleinen Tempel zu machen. Da hat er mich traurig angeschaut und mit einem Stift auf eines der Bretter geschrieben.“ Er kritzelt „An Zimmern“:

 

 

Die Linien des Lebens

„Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.“

 

Die Linien des Lebens schrieb Hölderlin „in zwölf Minuten“. Es ist eines seiner schönsten Gedichte. Von einem Dichter, der den höchsten Preis bereit zu zahlen war, der amtlich für „wahnsinnig“ erklärt wurde, der 36 Jahre in Isolation verbrachte, weil er sein Leben der Kunst widmete. Und nur der Kunst.

„Was bleibet, aber stiften die Dichter“, notierte Hölderlin noch. Seine letzte Hoffnung sollte sich bewahrheiten. Aber erst nach seinem Tod im Turm 1843.

 

 

 

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Der genaue Blick

Sie war still, verschlossen und unauffällig. Eine Einzelgängerin, eine Frau mit einem eigenen Kosmos. Sie war ein Leben lang eine Nanny, ein Kindermädchen in Los Angeles und Chicago. Sie war keine Fotografin. Doch ihre Liebe gehörte der Fotografie. Wenn sie in ihren freien Stunden loszog, beobachtete sie ihre Umgebung und schaute ganz genau hin. Vivian Maier. Sie fotografierte Menschen wie sie sind. Im Alltag, bei der Arbeit, auf der Straße, im Park, vor dem Konzert. Sie hielt das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen fest. Meisterhaft, brillant, mit Witz und dem gewissen Etwas. Unzählige Momentaufnahmen aus dem Leben in den Straßen der USA bannte sie auf Negative. Doch Maiers Bilder aus vier Jahrzehnten wurden zu ihren Lebzeiten nie gezeigt. Das fotografierende Kindermädchen verstaute ihre Arbeit in Kisten, Koffern und Schachteln. Sie starb 2009 völlig vereinsamt. In ihrem Testament hielt Vivian Maier fest: „Wir müssen anderen Menschen Raum geben. Das Rad dreht sich weiter. Jemand anderes wird übernehmen. Das ist der Lauf der Dinge.“

 

Selbstporträt Vivian Maier. (1926-2009)

 

Jedes Ende kann ein Neubeginn sein. Die als Künstlerin völlig unbekannte Vivian Maier (1926-2009) sollte recht behalten. Das Rad dreht sich weiter. Der große Ruhm der gebürtigen New Yorkerin kam nach ihrem Tod. Bei ihr half der berühmte Zufall nach. Der junge Sammler John Maloof ersteigerte auf einer Auktion in Chicago Berge von Kisten und Koffern mit Fotoabzügen und Negativen. Er wusste zuerst nicht, was er damit anfangen sollte. Er googelte den Namen „Vivian Maier“ – und fand nichts. Doch der Sammler war begeistert. Der Förderer erkannte den Wert der Bilder und scannte den riesigen Bestand ein. Jahrelang klopfte er bei Museen und Galerien an. Erste Ausstellungen fanden ein begeistertes Echo. Die Entdeckung Vivian Maiers wurde „eine der größten Sensationen“ der US-Fotogeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit nunmehr zehn Jahren faszinieren Maiers Alltagsaufnahmen Menschen in aller Welt.

 

Fotos: Vivian Maier.

 

Auf ihren vielen Expeditionen in den Alltag hielt Maier Momente fest, in denen sich Menschen der Großstadt unbeobachtet wähnten. Ihre Bilder erzählen Geschichten. Sie erfassen scheinbar Nebensächliches und stellen sie in den Mittelpunkt. Mit einem feinen Gespür für Details. Das kann ein Blick, eine Frisur oder ein stolzer Schwarzer Reiter mitten im hektischen Großstadtgewühl sein. Vivian Maier konzentrierte sich auf das Wesentliche. Sie inszenierte nicht, sie wollte bewusst unerkannt bleiben. Die Tochter eines Österreichers und einer Französin machte aus ihrer Person kein Aufheben. Sie blieb unverheiratet, kümmerte sich um den Nachwuchs amerikanischer Mittelschichtsfamilien. Ein Höhepunkt bildete ihre zusammengesparte Weltreise 1959, die sie nach Bangkok, Peking und in die Heimat ihrer Mutter nach Frankreich führte. Manchmal hat sich die scheue Maier auch selbst fotografiert, mal in Spiegeln, Schaufenstern oder nur als Schatten. Danach packte sie alle Negative weg und verstaute sie.

 

Fotos: Vivian Maier.

 

Maier schottete ihr Zweitleben als Fotografin sorgsam vor den Familien ab, bei denen sie als Nanny jahrelang arbeitete und wohnte. Niemand wusste davon. Ihre Fototouren blieben ihr gut gehütetes Geheimnis, die Bilder ihr ganz persönlicher Schatz. Insgesamt entstanden zwischen 1950 und 1990 rund 150.000 Aufnahmen. Die allermeisten hat Maier vermutlich aus Geldknappheit nie entwickelt. Jetzt sind insgesamt 120 beeindruckende Bilder aus Maiers Riesenbestand in Berlin zu sehen. Eine großartige Gelegenheit, das andere Gesicht der USA kennenzulernen. Ohne Pathos oder Hochglanz-Posen. Aus der Sicht einer Nanny, die ganz genau hinschaute, wo andere weitergingen oder einfach nur wegschauten.

 

 

 

Die Vivian Maier-Ausstellung „Streetqueen“ ist bis zum 27. Februar 2022 geöffnet. Werkstattgalerie Hermann Noack. Am Spreebord 9, 10589 Berlin. Der Eintritt ist frei.

Sehr empfehlenswert.

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Umsteuern

„Ich bin Millionärin, besteuert mich endlich“, fordert Marlene Engelhorn. „Ich habe für mein künftiges Erbe nichts geleistet.“ Marlene ist 29 Jahre alt und wird ein zweistelliges Millionenerbe antreten können. Damit hätte sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Ein sorgenfreies Leben, eine rosige Zukunft. Die Studentin gehört zur unbeschwerten Wohlstandsgeneration, auf die ein bedingungsloses Erbeneinkommen wartet. Doch die Enkelin des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn drängt auf eine „dauerhafte Vermögenssteuer für die Reichsten“. Sie will ihr Geld nicht spenden, sondern „angemessen“ Steuern zahlen. „Ich will mein Geld für das Gemeinwohl des Landes geben!“ Ein Rich Kid, das die Klappe aufreißt, titelt abschätzig das US-Wirtschaftsmagazin Forbes. Was will Marlene Engelhorn wirklich? Die Welt umsteuern und dadurch retten?

 

BASF-Erbin Marlene Engelhorn will eine Reichensteuer. Screenshot: ORF2

 

Bereits im letzten Sommer hatte Engelhorn die Initiative #taxmenow gegründet. In diesen Tagen beteiligte sich die BASF-Erbin an einem weiteren offenen Brief. Das Schreiben der US-amerikanischen „Patriotic Millionaires“ (Patriotische Millionäre), der „Millionaires for Humanity“ (Millionäre für die Menschheit) und ihrer Initiative „Tax me now“ (Besteuert mich jetzt) ist an die Wohlhabenden auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos adressiert. 102 Mitglieder aus dem Club der Reichen sagen: „Als Millionäre wissen wir, dass das derzeitige Steuersystem nicht fair ist“. In der Pandemie sei „unser Vermögen gewachsen, obwohl die Welt in den letzten zwei Jahren ein immenses Leid durchgemacht hat“. Mäzenatentum à la Bill und Melinda Gates reiche nicht mehr aus, es brauche eine verbindliche Besteuerung, „um die Welt gerechter zu machen“. So weit, so klar.

 

 

Doch der Appell der 102 Reichen für eine Reichensteuer an die Davos-Elite ist im Nachrichtenstrom versickert. Außerdem wurde das Weltwirtschaftsforum wegen der Pandemie auf Mai 2022 verschoben. Verpufft der gut gemeinte Vorstoß? Die Initiative Taxmenow will keine falschen Hoffnungen wecken. Ziel sei nicht zu spenden oder karitativ unterwegs zu sein. Die Website weist ausdrücklich darauf hin, dass „Anfragen zu Spenden oder Projektförderungen“ nicht beantwortet werden. Die Initiative wolle strukturelle Veränderungen“ und sich „für die Verteilungs- und Steuergerechtigkeit“ einsetzen.

Höhere Steuern für Reiche? Utopien für Spinner oder für Realisten? Tatsächlich hatte selbst einmal die USA einen Spitzensteuersatz von 70%. Das Land brach keineswegs zusammen. Das war in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem republikanischen US-Präsident Eisenhower, so der Historiker Rutger Bregman. Er sorgte auf dem Weltwirtschaftsforum 2019 – also vor dem weltweiten Covid-Ausbruch – für Furore. Der 33-jährige Niederländer forderte höhere Steuern für die Reichen. Alles andere wäre, als ob eine Konferenz für Feuerwehrleute über alles spricht, nur nicht über Wasser zum Löschen. Seine Brandrede wurde millionenfach angeklickt. Die Wirtschaftselite nahm seine Thesen zur Kenntnis und ging zur Tagesordnung über. Übrigens: Das Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums findet nun vom 22. bis 26. Mai in Davos statt. Das Motto: „Working Together, Restoring Trust“. Vertrauen wiederherstellen ist ein schönes Versprechen. Echte Taten wären besser.

 

Rutger Bregman in Davos 2019.

 

 

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„Grundlos vergnügt“

Alles war schon einmal da. Krisen, Epidemien, eine selbstverliebte Elite, verbitterte Abgehängte. Das Leben kennt kein Pardon. Siege und Niederlagen liegen oft nur einen Wimpernschlag entfernt. Genauso Hoffnungen und Hilflosigkeit, Euphorie und Enttäuschungen. Alles kommt wieder. Vor hundert Jahren wie heute. Seien wir also „sozusagen grundlos vergnügt“. Das meint eine kleine, quirlige Frau mit Witz und Esprit, die Ende der „Goldenen Zwanziger“ die Berliner Welt im Vorübergehen entdeckt, erobert und elektrisiert hat. Sie heißt Golda Malka Aufen. Besser bekannt unter dem Künstlernamen Mascha Kaléko. Ihr Motto: Ich schaue mir die Welt an, solange es sie noch gibt. Magisch zieht sie Träumer, Abenteurer und Idealisten an. Ihre Gedichte sind wie Eispickel, die einen zugefrorenen See spielend leicht knacken. Was sie nicht ertragen kann: Träumer, die nur reden, aber keinen tropfenden Wasserhahn reparieren können. Oder Kerle, die beim ersten größeren Problem weglaufen.

Sozusagen grundlos vergnügtRezitation: Carmen-Maja Antoni.

 

Mascha Kaléko starb zurückgezogen und vergessen in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Heutzutage wird die Berlinerin mit Geburtsort im galizischen Chrzanóv in Literaturkreisen gefeiert. Die heiter-zarte Melancholikerin hat viele Fans. Diese Großstadtlerche, die unbekümmert ihr Leben in vollen Zügen genoss. Eine Kostprobe? – Was, bitteschön? Das ist wohl nicht mehr als eine kurze Affäre. Warum eigentlich nicht, überlegt sie und schläft zuhause federleicht ein. Neben ihrem Ehemann. So beschreibt Florian Illies Mascha in seinem Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“.

Gedichte gelten als altmodisch, nicht Instagram-kompatibel. Doch sie können mitten ins Herz treffen. Wer sich Zeit und Geduld nimmt, wird belohnt. Und wie! Auf geht´s. Auf dieser Seite nun Mascha Kaléko. Mit zwei kurzen Texten zum Hören, Träumen, Genießen und Entdecken.

 

Kompliziertes Innenleben. Rezitation: Elke Heidenreich

 

Mascha verlebte in Berlin eine überwiegend heiter-unbeschwerte Jugend. Sie probierte sich aus, provozierte, begeisterte ihr Publikum. Als die Nazis an die Macht kamen, war sie 26 Jahre alt. Ihre Texte wurden 1935 als „schädliche und unerwünschte Schriften“ verboten. Sie konnte rechtzeitig in die USA emigrieren. Nach dem Krieg sollte sie 1960 in der Stadt ihrer hoffnungsfrohen Blüte den „Fontane-Preis“ der Akademie der Künste erhalten. Als sie im Mai 1959 erfuhr, dass ein früherer SS-Standartenführer in der Jury saß, lehnte sie die Nominierung ab. Die Akademie beschwichtigte und stufte dessen SS-Zeit als Jugendtorheit ein. Außerdem wurde ihr mitgeteilt, „wenn es „den Emigranten nicht gefalle, wie wir hier die Dinge handhaben,“ sollten sie fortbleiben. Nach diesem verbalen Fußtritt zog sie mit ihrem Mann nach Israel. Dort aber fehlte ihr die deutsche Sprache wie die Luft zum Atmen.

Ein letztes Mal überlegte Mascha Mitte der siebziger Jahre nach (West) Berlin zurückzukehren. Dazu kam es nicht mehr.  Sie erlag in Zürich einem Krebsleiden, gut ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes. Maschas letzte Ruhestätte ist auf dem Jüdischen Friedhof in Zürich zu finden. Ihre Gedichte aber bleiben und sind lebendiger als je zuvor.