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Einen alten Baum…

… verpflanzt man nicht. Sagt der Volksmund. Ben Wagin ist 91 Jahre alt. Knorrig, nicht mehr ganz knackig. Doch im Denken, Fühlen, Handeln kreativer als die meisten der jüngeren Nachgeborenen. Ben ist eine echte Berliner Pflanze. Baumpate, Bildhauer, Lebenskünstler, Maler und unermüdlicher Kämpfer Er duzt jede(n), egal ob be-porschter Makler, mächtiger Minister oder tatendurstige Feministin. Ben ist sauer. Mächtig sauer. Sein letztes großes Wandbild soll weg. Und zwar flott. Zum 30. Juni 2021. Da ist nicht mehr viel Zeit. Die bittere Pointe: Sein Weckruf für mehr Umweltschutz aus den Achtzigern soll weichen – im Namen des Umweltschutzes. Die schwarzbraune verrußte Ziegelwand erhält einen neuen Dämmputz.

 

 

„Wir trinken was wir pinkeln!“ Wie oft habe ich am S-Bahnhof Savignyplatz auf seinen Weltenbaum II geschaut? Ich kann es nicht mehr zählen. Meistens so lange, bis die nächste Bahn kam und mich nach Berlin-Mitte beförderte. Sein Werk ist 105 Meter lange Kunst. In der Mitte ein Riesenbaum mit Ästen, züngelnder Schlange, verzweifelten Gesichtern, Trauernden, Toten, dazwischen ein Mädchen, das lächelt. „Idealisten sind immer in der Gefahr/An ihrem Idealismus zugrunde zu gehen.“ Schiller grüßt. Wagin schrieb es in den achtziger Jahren an die Wand, als die Züge seltener fuhren, als die Mauer die Stadt noch stabil teilte.

 

Weltenbaum II. Detail. Berlin. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

„Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur.“ Seinen Satz auf seinem riesigem in die Jahre gekommenen Wandbild hat sich mir eingebrannt. Ob die Smartphone-Generation Wagins Botschaften noch wahrnimmt? Heute heißt auf den Zug warten, aufs Gerät starren und subito zum nächsten Bild wischen. Was man verpasst? DenWeltenbaum II, 2013 komplett saniert. Das Wagin-Gesamtwerk verbindet bekannte Künstler wie Beuys, Grass oder Frida Kahlo, schlägt eine Brücke von den Nazi-Jahren 1933 bis 1945 bis zur Umweltzerstörung unserer Tage. Wagins Werk soll nun „irgendwie“ gerettet werden. Nach Vorstellungen von Investoren und mancher Politiker am besten im Internet. Als Instagram-News. Dann sehen es die Menschen vielleicht wieder.

 

Alt wie ein Baum. Der Putz fällt ab. Im Namen des Umweltschutzes soll der Umweltbaum weg. Frist des Investors bis 30. Juni 2021.

 

Alt wie ein Baum. Ben Wagin hat in seinem langen Leben an die 50.000 Bäume gepflanzt. Als Junge musste er am Ende des II. Weltkrieges aus den ehemaligen Ostgebieten nach West-Berlin flüchten. Der Großvater gab ihm eine Lebensweisheit mit: „Egal, was kommen wird, die Bäume werden zu dir sprechen.“ Wenigstens sein bekanntes Parlament der Bäume am Reichstag genießt Denkmalschutz. Was wird nun aus seinem großen Lebenswerk? Ein Umpflanzen des Weltenbaums ist kaum möglich, dem Künstler fehlt das Geld und mit seinen 91 Jahren vielleicht auch die Kraft. Ob sein Werk auf Dämmschutzplatten gepinselt werden kann? Kaum vorstellbar. Der ewigjunge Ben Wagin zitiert einen anderen alten, sperrigen Idealisten: Ernst Jünger. „Bruder Mensch hat uns schon oft verlassen. Bruder Baum nie.“

 

Weltenbaum II. Detail. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

Weltenbaum II ist noch zu sehen am S-Bahnhof Savignyplatz. 24/7. Eintritt frei. Soundtechnisch untermalt von der Berliner S-Bahn.

Alles so schön bunt hier

Als die Computer das Laufen lernten, bauten deren Hersteller für ihre neuen Wunderwerke ganze Paläste. So auch die Stadt Leipzig für ihr VEB-Datenverarbeitungszentrum. Wir schreiben das Jahr 1986. VEB steht für Volkseigener Betrieb. Auf den schwarzen Monitoren der neuen Robotron-Kisten flackern grüne Buchstaben, Zahlen und Männchen. Eine bessere Welt ist das Versprechen. Schneller, effektiver und natürlich sicherer. Das Datenzentrum etablierte sich vis-à-vis vom Sitz der Staatssicherheit. Die Wende bescherte das Ende der volkseigenen Datenerfassung. Längst ist hier die G2 Kunsthalle beheimatet. Dieser spezielle Ort ist wie geschaffen für einen Maler wie Norbert Bisky. Der gebürtige Leipziger will wissen, was aus dem Geist wurde, der einst so vielversprechend aus der Flasche fluppte.

 Bisky nennt diese schöne neue Welt Disinfotainment. Die neue Medienwelt ist für ihn ein Alltag aus Überinformation, Unterhaltung und Desinformation. Trollfarmer (2021) zeigt beispielsweise in bunten Popfarben einen jungen Mann, der völlig versunken vor seinem Gerät nicht einmal den Stinkefinger bemerkt. Bisky reizt das Zeitgeist-Phänomen der Internetsucht, genannt „Doomscrolling“. Gemeint sind Menschen, die unentwegt nach neuen Katastrophen, Clips und Kontakten jagen. Immer auf dem Sprung, stets getrieben von der Angst etwas zu verpassen. Die Apokalypse auf dem Schirm, beschleunigt durch die Einsamkeit in der Quarantäne der Corona-Pandemie. „Ich finde das krass, was da gerade passiert.“

 

 

Das Surfen im Netz als Jagdrevier der einsamen Herzen. Freiwillig folgen sie der Macht der Algorithmen. Sie scrollen durch Kammern der Selbstinszenierung, flanieren abgestumpft in Emotionsblasen aus Hass und Hetze. Bisky zeigt uns Menschen im freien Fall. Es gibt kein Halt mehr. Hurra, die Welt geht unter. Einer von Biskys jungen schönen einsamen Männern heißt Pascal. Kein Zufall. Pascal ist die physikalische Einheit für Druck. Bisky sagt, reale Konflikte werden längst virtuell ausgetragen. So gebe es mittlerweile genügend Menschen, die glaubten, «Probleme wie den Nahostkonflikt auf Instagram zu lösen».

 

 

Mit seinen Ölbildern und Installationen aus Computerschrott der volkseigenen DDR-Achtziger reitet Bisky wie einst Don Quichote gegen die Windmühlen unserer Zeit. Die modernen Räder drehen sich in Echtzeit. Schneller als je zuvor. Das Netz verspricht  Abwechslung, Entertainment und die neuesten News. Bis zum Burnout auf Krankenschein. Bisky stellt die richtigen Fragen. Wie gehen wir mit Überreizung, innerer Unruhe und einer nicht mehr zu stoppenden Bilderflut um? Schnelle Antworten gibt es in Leipzig nicht. Aber viele Denkanstöße.

Norbert Bisky
„Disinfotainment“
G2 Kunsthalle, Leipzig
Bis 26. September 2021

Mein Land, dein Land, unser Land

Nennen wir sie Jana. Jana ist vierzig Jahre alt. Aufgewachsen in einer ostdeutschen Kleinstadt, arbeitet und lebt sie im Südwesten der Republik. Jana verspürt manchmal Heimweh. Sie ist mittlerweile genauso alt wie der kleine Staat mit den drei Buchstaben DDR, in den sie 1981 hineingeboren wurde. Jana lernte den Pioniergruß und das nur die Gemeinschaft zählt. Als sie neun wurde, änderten Eltern, Lehrer und Erwachsene die Tonlage, warfen ihr altes Leben wie Trabis und die Bitterfelder Schrankwand auf die Müllhalde. Das Alte, Morsche, Verkommene ist tot. Es lebe die Neue Zeit.

 

 

Jana bekam nach 1990 neue Schulbücher, machte ein neusprachliches Abitur. Sie verließ ihre kleine Welt, in der alles atemlos stillstand, suchte westwärts das versprochene Paradies. Sie studierte in einer schmucken Universitätsstadt, entdeckte ein verwirrendes System von Möglichkeiten. Ihr offenbarte sich ein Land voller Abfahrten, Umgehungsstraßen, Bau- und Supermärkten, Tankstellen, Reihenhäusern und schicken Villenvororten, versteckt hinter meterhohen Buchenhecken und gesichert durch dezente Videoanlagen. Keine Orte zum Verweilen. Auf ihren gelegentlichen Berlin-Touren erlebte Jana Castorfs Volksbühne, Christos eingepackten Reichstag, Filme von Quentin Tarantino oder David Lynch.

Jana absolvierte ihren Master in Landschaftsplanung, lernte rasch, dass Investoren zu viele Grünflächen nicht mögen, weil sie die Betriebskosten erhöhen. Sie spürte, dass man über Geld nicht spricht sondern einfach hat. Wer arm ist, hat eben Pech gehabt. Der Zeitgeist lehrte: Wer öffentliche Kassen plündert, ist bestens geeignet am Ende Inventur zu machen. CumEx, Wirecard oder Maskenvermittler zeigen bis heute, wie es geht. Sie traf Menschen, denen es an nichts fehlt außer an Bescheidenheit. Dafür pflanzte die neue Zeit ein Netz an Antidiskriminierungsbeauftragten, veränderte die Sprache und erklärte Diversity zum Menschheitsideal und Fortschritt.

 

Unbekannter Osten. Gesehen in Waren an der Müritz. Mecklenburg-Vorpommern. 2020.

 

Jana verschwieg eisern ihre Ost-Biografie, das ersparte unnötige Fragen. Der Lohn folgte in Form einer steilen Karriere.  Dennoch suchte sie etwas anderes. Halt, Geborgenheit und einen lebenswerten Ort, um eine Familie zu gründen. Sie haderte mit einer Gesellschaft, in der nur noch eine Religion herrschte. Die des Eigentums. Ein Land, in dem Meinungen und Gesinnungen wie Waschpulver oder Parfum angedreht werden, fand Jana. Vor kurzem zog sie zurück in die kleine Stadt ihrer Eltern. Dort aßen, tranken, sagten und wählten die Menschen das Falsche. Aber sie stellten auch richtige Fragen, auf die sie keine Antwort bekamen. Wie ist es möglich, dass man sparsam jedes Jahr weniger Strom verbraucht und dennoch am Ende mehr bezahlt? Wie kommt es, dass Familien Vollzeit arbeiten, aber nicht wissen, wie sie mit 1.400,- netto bis zum Monatsende kommen?

Jana gefiel, dass sich Nachbarn gegenseitig helfen, ohne viel Lärm zu machen. Ihr fiel auf, dass zu jeder Wahl Reporter auftauchten, die wissen wollten, warum sie „Demokratie und Freiheit“ nicht schätzten? Warum sie falschen Heilspredigern nachliefen? Sie fragte sich aber auch, warum sie am Ende die immergleichen Geschichten schrieben, mit der angesagten Haltung: Anlächeln, sich moralisch überlegen fühlen, weiterziehen.

 

Berlin. Oberbaumbrücke. Die Stadt, in der Gemeinsamkeit jeden Tag neu gelebt werden kann. Foto: Renate Pinné

 

Jana ist vierzig Jahre alt. Genau so alt wie die untergegangene DDR mit ihrem unerfüllten Versprechen von einem gerechten Land. Wer verstehen will, was es mit dem „unbekannten Osten“ auf sich hat, sollte Jana fragen Es gibt viele Janas. Im Osten wie im Westen. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

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Denken ohne Geländer

Manhattan, 4. Dezember 1975. Plötzlich wollte das Herz nicht mehr. Es beschloss stehen zu bleiben. Das Herz von Hannah Arendt. In der Schreibmaschine steckte die erste Seite eines neuen Textes über „Das Urteilen“. Am nächsten Tag wollte die 69-jährige streitbare Denkerin loslegen. Von Arendt stammt der Satz: „Der Sinn von Politik ist Freiheit und nicht Einschränkung.“ Freies Denken und der Streit um den richtigen Weg waren der Motor ihres Lebens. Dabei war die Kettenraucherin eine Außenseiterin hoch drei. Sie war Jüdin, Frau und Intellektuelle. Zweimal musste die Bürgertochter aus Königsberg neu anfangen. 1933 nach der Flucht aus Hitler-Deutschland. 1941 als Exilantin in New York.

„Wir sind nicht geboren, um zu sterben, sondern um gemeinsam etwas Neues anzufangen.“ Typisch Arendt. Wir sollten unsere Tage besser mit konkretem Handeln nutzen bevor wir wieder in jenem „Nirgends“ verschwinden, aus dem wir gekommen sind. Bei unserem Verschwinden würde „der Kosmos nicht einmal zucken“, meint sie augenzwinkernd. In ihrer speziellen Mischung aus Schnoddrigkeit und Schärfe beschreibt sie das Lebensgefühl des modernen Menschen, in dem jede Freiheit von Anpassung, Sach- und Leistungszwängen erdrückt werde. Bürger hätten brav zu sein, sollten Dinge herstellen und verbrauchen, auch diejenigen, die sie gar nicht brauchen. Durch kapitalistische „Vergeudungswirtschaft“ verlören „ganze Bevölkerungsschichten ihren Platz in der Welt“. Die Gesellschaft dränge auf Veränderungen, doch Machteliten schotteten sich ab. Experten behaupteten beschwichtigend, die Gesellschaft sei eben so komplex wie die Evolution. Das schrieb sie vor über fünfzig Jahren.

 

 

Scharf kritisiert Hannah Arendt „die Religion des Eigentums“. Sie bekümmert, dass Bürgern „Meinungen und Gesinnungen wie Seifenpulver und Parfum“ verkauft werden. Die blockierten sozialen Kämpfe verwandelten sich am Ende in Kulturkämpfe. (Heute wären das Gendern und Identität). In Stellvertreterdebatten werde nur noch aggressiv gestritten, nicht jedoch das Gemeinsame gesucht. Für Arendt war klar, dass in fragmentierten Teilwelten keine kommunikative Macht entstehen kann. Anything goes. Alles geht, aber das mit voll aufgedrehter Lautstärke.

Gegen ihre Morgenmelancholie half eine Tasse Kaffee und natürlich Zigaretten. Wer raucht, denkt, war ihr Credo. Natürlich irrte auch die Dame aus Manhattan, manchmal sogar gewaltig. Ihr berühmter Gedanke über den NS-Schreibtischtäter Adolf Eichmann von der „Banalität des Bösen“ kostete der Philosophin 1964 viele Freundschafen. Man warf ihr „Originalitätssucht, Arroganz und Verrat an der jüdische Sache“ vor. Sie erntete jahrelang gewaltige Shitstorms. Aber sie blieb dabei: „Eichmann ist ein Hanswurst. Das nahmen mir die Leute übel.“ Die Geschichte gab ihr Recht. SS-Täter Eichmann war kein Dämon, er war ein Bürokrat. Die Banalität des Bösen.

 

Gegen den Strom. Nicht immer einfach, besonders in Hamburg im Juni 1936.

 

Eigenständiges Denken ist und bleibt ihr Vermächtnis. Dinge verstehen wollen. Suchen, Nachdenken. Wie genial einfach ist dieser innere Kompass und wie schwer ist ihm zu folgen. Gerade in heutigen Zeiten von Twitter-Gewitter, Cancel Culture und selbstgerechter, moralischer Belehrung. Zum Schluss daher lieber noch einer dieser typischen Arendt-Sätze: „Wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust, zu leben.“

Der Mann mit der Maske

Wenige Minuten vor Konzertbeginn. Das Berliner Tempodrom am Anhalter Bahnhof ist rappelvoll. Das Publikum wartet ungeduldig auf den Meister. Kein Wunder. Seine Audienz ist sündhaft teuer. Plötzlich geht ein Spot an. Eine Dame im Business-Kostüm stöckelt auf die Bühne, nestelt an ihrem Headset und bittet routiniert im Stewardessen-Ton um Aufmerksamkeit. „Im Interesse der Künstlers und des Konzerts sind Handyaufnahmen und Fotos unerwünscht.“ Abgang. Die Kapelle legt los. Aus dem Nichts betritt ein Mann mit Hut das Geschehen. Gesicht verschlossen. Ganz in schwarz. Der knarzende Nobelpreisträger singt maskenhaft. Seit 1988 jettet er rastlos mit seiner Never Ending Tour um die Welt. Bob Dylan. Sechzig Jahre Bühnenpräsenz, 600 Songs und jetzt vielleicht etwas mehr als sechzig Minuten in Berlin. Der Mann auf der Bühne hält Distanz. Deutlich mehr als 1 Meter 50. Lange bevor Abstand pandemiebedingt gesellschaftsfähig wurde.

 

 

Mit dem Auftaktsong beginnt ein digitales Blitzgewitter. Hunderte Smartphones leuchten. Rowdies beziehen hinter den Boxen Position und zielen mit riesigen Mag-Lite-Taschenlampen auf jeden Knipser. Luftkampf im Tempodrom! Dylan singt unbewegt seine Lieder von Abschied, Hoffnung und Liebesleid. Knockin on heavens door. Seine Songs sind Balladen für die Ewigkeit. Texte, die andeuten, verschlüsseln, verwirren. Forever young. Wie er. Der ewige Lonesome Cowboy aus Minnesota/USA. Im Publikum flitzen Ordner zu Besuchern, die das Knipsen nicht lassen können. Mehr oder wenig rustikal werden sie gestoppt. All along the watchtower. Dylan nuschelt unbeeindruckt seine Songs von der Suche nach Erfüllung und Erlösung. Er formuliert diesen Kinderwunsch von einem guten Ende, an dem sich alles fügt, was bislang schief ging.

 

 

Hat der Bote auf der Bühne eine Botschaft? – Antwort Dylan: Warum fragt Ihr mich? Strengt Euren Grips an. Er sei kein Erfinder von Ideen, nur so eine Art Erbe. Das sagte er einmal. Oh, Mister Tambourine Man. Die Texte seien ihm nicht eingefallen, sondern „geisterhaft“ zugetragen worden. In seiner Biografie Chronicles von 2004 schreibt er: „Ganz egal, was man sagt, es ist nur Gestammel. Man hat nie die Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Zusammenflicken, drüberbügeln, rein damit, und ab geht die Post – so läuft das normalerweise.“ Don´t think twice it´s all allright.

 

 

Das Konzert knarrt dem Ende zu. Wieder blitzen Dutzende Handylichter auf. Tapfer hält die Dylan-Crew mit ihren Lampen dagegen. Ein wundersames Spektakel. Spannender als die routiniert heruntergeschnurrten Songs des Meisters. Als wollte Meister Dylan die Zeit aufhalten. Hört lieber zu. Als mit Euren Geräten verwackelte Selfies zu produzieren. Schnell ist die Stunde um. Eine Zugabe gibt es noch. Blowin in the wind. Verjazzt, verfremdet und doch freundlich wiedererkennbar. Keine Version zum Mitschunkeln. Aber zum wundern, dass in diesem alten, weißen Mann so viel an Potential steckt. Einer, der auch im achten Lebensjahrzehnt Lust an Neuem hat. Dylans Blowin in the Wind verweht leise im weiten Rund des Tempodroms. Die Lichter gehen an. Der Meister mit der Maske ist längst entrückt. Das Blitzen der Handys hat aufgehört.

Mein Berliner Dylan-Konzert war 2015. Live und mit Publikum. Happy Birthday zum 80ten, Bob.

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Irisch Man

Ein 75-jähriger Nordire stellt Fragen wie: „Why you are on Facebook? Why do you need secondhand friends?” Der Mann röhrt mit Leib und Seele: “Suchst Du dort etwas, was Du nicht finden kannst?” Der Facebook-Song ist einer von 28 neuen Songs des Urgesteins Van Morrison. „Latest Record Project“ heißt sein mittlerweile 36. Album. Sir Van, geadelt für sein Lebenswerk, kann es nicht lassen. Im neuen Album folgt sein Sound altbewährten, vertrauten Pfaden. Der Van the Man-Sound aus Blues, Bläsern und seiner seit sechzig Jahren einzigartig aufgerauhten Balladen-Stimme. Der Mann kann es. Übel gelaunt den besten Blues auf die Bühne bringen.

 

 

Jetzt schlagen Tugendwächter Alarm. Das neue Album sei musikalisch uninteressant, inhaltlich jedoch höchst bedenklich. Van nur noch ein „knurriger „Aluhütchen-Protestsänger“ und ein „frustrierter Rebell im Rentenalter“. Was ist passiert? Van Morrison kritisierte bereits 2020 in den Songs “Born to Be Free,” “As I Walked Out” and “No More Lockdown die Corona-Maßnahmen seiner Regierung. Der nordirische Gesundheitsminister Robin Swann war sauer und nannte Morrisons Texte „gefährlich“.

Ein Licht in Cancel Culture-Zeiten, jubeln seine Fans. Was denn nun? Gefährlich oder großartig? In mehreren Songs des 2021-Albums, vor allem in „They Own the Media“ heißt es zum Beispiel: „They control the story we are told“. Kritiker sagen, damit bediene Van Morrison ein klassisches Verschwörungsnarrativ. Wie sich die Zeiten ändern. 1968 hatten die Medien sein aufmüpfiges Werk Astral Weeks in den Himmel gelobt. Das Album sei ein Meilenstein. Einfühlsame, kritische Texte, musikalisch innovativ. Astral Weeks entstand in nur zwei Tagen mit renommierten Jazzmusikern in New York. Die außergewöhnliche Mischung aus Folk-, Blues-, Soul- und Jazzelementen errang 68er-Kultstatus, verkaufte sich nur äußerst miserabel.

 

 

Kritiker schwärmten dennoch weltweit: Astral Weeks sei unangepasst und ein mutiges Zeichen gegen den Mainstream. „Eine in sich geschlossene musikalische Welt aus akustischen Gitarren, Streichern, Vibraphonen, Cembalos und Van Morrisons seelenvollem Gesang. Ein Gemälde aus Klang, das erst unzugänglich erscheint und sich dann zu einem ganzen Universum purer Schönheit öffnet“. Und der Bayrische Rundfunk jubelte noch vor kurzem: „Wenn dieses Album dich einmal auf dem richtigen Fuß erwischt hat, dann bleibt es für den Rest deines Lebens“.

 

 

Und jetzt beim 36. Album „Latest Record“? Van auf dem falschen Fuß erwischt? Alles vorbei? Der Tenor der Verrisse lautet: Der alte weiße Mann wisse nicht mehr was er tut. Bitte mal einen Moment innehalten. Luft holen. Nachdenken. — Sind wir auf dem Weg zurück in den Kalten Krieg? Damals wurden „falsche“ Meinungen angefeindet in der Version-West: „Geh doch rüber!“ oder eingesperrt in der Logik-Ost: „Hetze für den Klassenfeind“. Heute werden Abweichler von Nena bis Van Morrison verteufelt.

Mein Tipp: Album anhören, eine eigene Meinung bilden. In der Frage des Corona-Krisen-Managements ließen sich viele Argumente austauschen. Van the Man, „ich teile Deine Meinung nicht. Ich werde aber bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen, dass Du Deine Meinung frei äußern kannst“.

Dieses Zitat ist von Voltaire.

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Der Volksfreund

Der Norweger Henrik Ibsen meinte vorab, es werde „diesmal ein freundliches Stück sein, das von Staatsministern und Großhändlern sowie deren Damen gelesen werden kann und vor dem die Theater nicht zurückzuschrecken brauchen“. Sein brandneues Stück „Ein Volksfeind“ wurde ein Skandal. Der Plot: Kurarzt Tomas Stockmann entdeckt, dass sein Heilwasser verunreinigt ist. Die nahe Gerberei des örtlichen Großunternehmers vergiftet mit seinen Rückständen heimlich das Badewasser des Kurortes. Stockmann schlägt Alarm, ist überzeugt, „dass die Wahrheit vor jeder Rücksichtnahme kommt“. Er fordert den Missstand zu beseitigen. Mit seinen Enthüllungen hofft er als wahrer Freund des Volkes gefeiert zu werden. Vielleicht sogar mit einem Fackelzug.

 

Henrik Ibsen. 1828-1906. „Ein Volksfeind“ veröffentlichte er 1882.    Quelle: Wikipedia

 

Es kommt anders. Die Obrigkeit in Person seines Bruders Amtsrat Peter Stockmann schlägt geschickt zurück. Die Offenlegung des Übels sei keineswegs bewiesen, schade jedoch in erster Linie den ökonomischen Interessen der Bürger. Zwei Presseleute werden zu den wichtigsten Verbündeten der „hohen Herren“. Mit Falschmeldungen und billigen Vorwürfen heizt Redakteur Billing die Stimmung an. Sein Kollege Hovstad vertritt als Hofschranze geschmeidig die Interessen der Unternehmer und Mächtigen.

Die Bürger bilden eine „geschlossene Mehrheit“ gegen den „Brunnenvergifter“ Stockmann. Der Arzt wird boykottiert, seine Praxis gekündigt, die Tochter als Lehrerin entlassen. Selbst Stockmanns letzte Hoffnung, in die USA auszuwandern, wird vereitelt. Der um die Gesundheit besorgte Kurarzt wird zum tragischen Helden. Verzweifelt ruft er am Ende aus: „Der Starke ist am mächtigsten allein“. Wie einstweilen Wilhelm Tell bei Friedrich Schiller.

 

 

Die „geschlossene Mehrheit“ von Bürgern und Presse ist stärker als jede Wahrheit. „Die Quellen unseres geistigen Lebens sind vergiftet, Grund und Boden unter uns verseucht“, lässt Ibsen im Volksfeind (veröffentlicht 1882) erklären. Am Ende seiner Tragik-Groteske bleibt ein am Boden zerstörter brot- und besitzloser Badearzt zurück, der verlassen in einer Wohnung mit eingeschlagenen Fenstern sitzt. Aus dem angesehenen Bürger der Stadt ist ein verachteter Volksfeind geworden.

 

Seit der Uraufführung vor 140 Jahren auf Hunderte Bühnen der Welt gespielt. Bis heute. Hier: Theater in der Altstadt Meran/Südtirol.

 

Ibsens Stück spielte in einer norwegischen Kleinstadt in der Nähe von Oslo. Ein Volksfeind hat nunmehr 140 Jahre auf dem Buckel, jedoch kein bisschen Staub angesetzt. Im Gegenteil. Vor den Toren Berlins wird in diesen Tagen die „Tesla-Gigafactory Berlin-Brandenburg“ fertiggesellt, ohne gültige Genehmigungen, aber mit dem Versprechen „die fortschrittlichste Serienproduktionsstätte für Elektrofahrzeuge der Welt“ zu werden. Behörden und Rot-grüne Politiker wischen alle Bedenken beiseite. Das Giga-Projekt gilt als Innovation und Vorzeigeprojekt für den Klimaschutz. Auch hier geht es ums Wasser. Eine Steilvorlage für ein neues Theaterstück rund um die alte Frage, wer am Ende wem das Wasser abgräbt. Wie wäre es mit …  „Die Volksfreunde von Grünheide“.

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Am Ende der Welt

Hier ist die Natur weit größer als der Mensch. Und wie! Im hohen Norden befindet sich eine der abgelegensten Gegenden Islands. Das rund dreißig Kilometer lange Tal Flateyjardalur bahnt sich in atemberaubender Schönheit seinen Weg in den Atlantik. Gerade in dieser schwer zugänglichen Region kämpften Generationen von Isländern mit den Gesetzen der Natur. Ein hartes, mühsames und entbehrungsreiches Leben. Bis zu sechs Bauernhöfe wurden noch vor hundert Jahren bewirtschaftet, bis alle aufgaben. Der hier aufgewachsene Schriftsteller Theodor Fridriksson notierte 1944: “Mir geht es nicht aus dem Sinn, wie meine alten Eltern sich totgearbeitet haben, nur um in der Einöde in einer Hütte zu leben”. Im Winter fiel so viel Schnee, dass Sohn Fridriksson einmal die Hütte seiner Eltern nicht mehr fand. Zufällig stieß er beim Suchen mit seinem Skistock gegen den Dachfirst. Er fand seinen Hof erst, als er auf ihm stand.

 

Wie kam Johann Sebastian Bach vor 100 Jahren in den Hohen Norden Islands? Alle Fotos: Dagur Gunnarsson

 

Der Bauernhof Vargsnes befand sich an einer dieser unzugänglichen Buchten, an einem hohen Hang, der steil zum Meer abfiel. Aus der Wohnstube konnte man in den Zwanziger Jahren plötzlich Johann Sebastian Bach hören. Das kam so: Bauer Sigurbjörn erkannte das Talent seiner zehnjährige Sigridur. Sie träumte von einer Orgel. Der Vater machte sich auf und konnte im weit entfernten Husavik tatsächlich ein gebrauchtes Exemplar auftreiben. Er verpackte das gute Stück sorgfältig in eine Kiste, verschiffte die Orgel mit seinem Boot an den Strand von Vargsnes. Doch dann kam die eigentliche Herausforderung. Selbst mit Hilfe seiner herbeigerufenen Brüder war der steile, steinige Pfad zum Hof kaum zu überwinden.

 

Ásbyrgi. Island kann viel über Schönheit und Gefahren der Natur erzählen.

 

“Jeder hält die Kiste an einer Ecke, und immer wieder müssen sie sie drehen, die Seile etwas lösen, die Kiste auf dem Rücken zurechtsetzen, während sie sich durch einen Felsspalt nach dem nächsten zwängen. Mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung von Kristjan kamen sie auch hier herum, dann konnte er unter seinem Orgelkasten aufstehen, und so brachten sie die Orgel heim”. So beschreibt der Schriftsteller Thor Vilhjálmsson den mühsamen Transport. Sigridur wurde Organistin, spielte ihren geliebten Bach bis ins hohe Alter. Für Landeskenner Halldor Gudmundsson (Biograf des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness) war dieses Konzert ein magischer Moment, als er die alte Dame im Jahre 2000 noch leibhaftig erleben durfte.

 

Autor Hallldor Gudmundsson mit dem (noch fahrbereiten) Jaguar seines großen Vorbildes Halldor Laxness, isländischer Nobelpreisträger für Literatur.

 

Die Geschichte vom Orgeltransport am Ende der Welt ist nur eine von dreißig Episoden aus der Feder von Islands kenntnisreichstem Geschichtensucher Halldor Gudmundsson. Seine Botschaft: Auch am Außenposten der Welt gedeihen seit vielen Jahrhunderten Kultur und Literatur. Man muss nur genau hinschauen. Dank der eindrucksvollen Fotos von Dagur Gunnarsson lädt der neue Bildband in Pandemiezeiten ein, wenigstens mit dem Kopf bis ans Ende der Welt zu reisen. Übrigens: Die Isländer teilen die Deutschen in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die schon einmal auf ihrer Insel waren, und diejenigen, die unbedingt einmal dorthin möchten.

 

 

Island. Insel aus Geschichten. Ab dem 27. April 2021 im Buchhandel. Wirkungsvoller Impfstoff gegen Corona-Frust. Einzige Nebenwirkung: Fernweh.

Hat Sahra Recht?

Der Zeitgeist schlägt links. Wirklich? Sahra Wagenknecht sagt Nein. Mit scharfem Schwert rechnet sie in ihrem neuen Buch mit dem rotgrünen Milieu im Lande ab. Der Titel ist eine Kampfansage: Die Selbstgerechten. Auf 334 Seiten attackiert Wagenknecht eine hochmütige Minderheit. Die sich progressiv wähnt, aber die arbeitende Bevölkerung längst vergessen hat. Entsprechend sind die Reaktionen im Netz: Streiterin Sahra wird gehasst wie gefeiert. Das Lager der attackierten „Selbstgerechten“ schimpft sie eine reaktionäre Kommunistin, eine Frau von vorgestern und narzisstische Außenseiterin. „Ohne solche Leute wäre vieles besser“, so der Sound der Wagenknecht-Kritiker.

 

 

Die Bandbreite ihrer Unterstützer hingegen ist überraschend wie kurios. Tenor: Die hasserfüllten Reaktionen zeigten, dass Wagenknecht ins Wespennest gestochen habe. Verrückt. Die einstige Ikone der Kommunistischen Plattform gilt heute als „Stimme der Vernunft“, als Sprachrohr der schweigenden Mehrheit. Am heftigsten geht der Gaul mit der AfD durch. Sie plakatiert in Sachsen-Anhalt: SARAH HAT RECHT! Ein Super-Gau? Für Wagenknecht-Gegner in der eigenen Partei ist die Aktion der definitive Beweis ihrer „Kontaktschuld“ mit Nationalisten. Sind die Selbstgerechten also überflüssig wie ein Kropf?

Als Anhänger der Aufklärung empfehle ich etwas anderes: Ein eigenes Urteil bilden. Wie wäre es mit argumentieren statt moralisieren? Das ist sinnvoller als jedes Twitter-Gewitter. Wagenknechts Kernthese: Die Linken haben die Seiten gewechselt. Sie sind auf die Seite der (neoliberalen) Sieger übergelaufen. Die Verlierer der Globalisierung bleiben draußen vor der Tür. Wagenknecht macht eine neue gutsituierte, linksliberale Klasse aus, die „Lifestyle-Linke“. Diesem akademischen Milieu bedeute Identität mehr als die soziale Situation ihrer Mitmenschen. Mitgefühl mit Unterprivilegierten? Fehlanzeige.

 

 

Das Buch liefert zahlreiche Beispiele. So feierten linksliberale Meinungsmacher im Sommer 2020, dass nach einem erfolgreichen Shit-Storm das Knorr-Produkt Zigeunersauce nunmehr diskriminierungsfrei als „Paprikasauce Ungarische Art“ angeboten wird. Zeitgleich zum Ende der „rassistischen“ Zigeunersauce drohten 550 Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn Kündigung bzw. massiver Stellenabbau. Hier rührte sich kein Protest. Reine Symbolpolitik statt Sozialpolitik, poltert Wagenknecht, ein Markenzeichen des neuen linken Zeitgeists.

Original-Ton Wagenknecht: „Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest in einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse, plädiert für eine Post-Wachstums-Ökonomie und achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung. Discounterfleisch-Esser, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigflugreisende sind ihm ein Graus.“

 

 

Die promovierte Ökonomin plädiert für den Nationalstaat. „Nationale Identität“ definiert sie „kulturell und historisch, aber nicht genetisch“. Der diffamierte Nationalstaat sei der einzige Garant für einen funktionierenden Sozialstaat. Die EU habe bewiesen eine schöne Vision ohne Bodenhaftung zu sein. Brüssel ignoriert die realen Sorgen und Nöte der Menschen. Und die 51-jährige zerlegt  in einem ganzen Kapitel analytisch fundiert „die wunderbare Erzählung von der Migration als großen Freiheitsgewinn und Vorteil für alle Seiten“. Zum Beifall der AfD, zum Ärger der Linken.

Wagenknechts Fazit: Die richtige Gesinnung – oder Neusprech: Haltung – wiegt schwerer als das Richtige zu tun. „Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögenssteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten“.

Hat Sahra Recht? Fährt der Zug gerade in die komplett falsche Richtung? Wagenknechts Streitschrift liefert provokativen Stoff zum Überprüfen der eigenen Meinungen und Überzeugungen. Es empfiehlt sich das ganze Buch zu lesen. Und nicht vorschnell als Nazi-Müll zu disliken. Die Lektüre lohnt sich. Gesalzen und gehaltvoll wie eine „Paprikasauce Ungarische Art“. Guten Appetit.

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Der morbide Charme der Vergänglichkeit

Zu den Riesen von Rüdersdorf geht es einen Kanal entlang, dann steil die Uferböschung hoch, durch ein kleines Loch im Zaun. Plötzlich öffnet sich eine andere Welt. Wie Dinos ragen gigantische Hallen, Ruinen, Silos und Schornsteine in den märkischen Himmel. Willkommen im Jurassic-Park einer untergegangenen Epoche. Auf zu einem Abenteuerspielplatz für Entdecker, Filmteams, Graffiti-Sprayer und Sonntagsausflügler. Rüdersdorf ist gerade mal rund vierzig Kilometer östlich vom Alexanderplatz entfernt. Ein Symbol für das Verfallsdatum eines ganzen Industriezeitalters mit Zementwerken, historischen Schachtofenbatterien und einem Volkseigenen Chemiegiganten.

 

Die Reste des Futtermittelwerks. Das VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf exportierte Düngemittel gegen Westdevisen. 1999 stillgelegt.  Alle Fotos von Ende März 2021.

 

Apropos: Augen auf. Versteckt lauern Löcher und Stolperstellen. Rüdersdorf 2021 ist ein Sammelsurium aus rostigen Ruinen, geborstenen Rohren, Scherben, Stahl, Schrott, Schutt, Schienen, Loren, verbogenem Metall, Müll aller Art, Öfen, Rückhalte-Becken mit undefinierbarer Flüssigkeit, Spraydosen, Sackkarren und heruntergefallenen Ziegeln. Alles ist vergänglich, will Rüdersdorf wohl sagen. Am Anfang stand eine Kalkgrube. Aus dem abgebauten Kalkstein wurde der berühmte Rüdersdorfer Zement gebrannt. Von 1876 bis 1967 brannten 18 Öfen für die neue Hauptstadt. Rund um die Uhr. Vier Zementwerke gab es, eines ist noch in Betrieb. Das hatte Folgen. Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Natur in der Umgebung eine weiß-graue, verkalkte Mondlandschaft. Auf Bäumen, Pflanzen und Häusern lag eine zentimeterdicke Staub- und Rußschicht.

 

Kathedralen der Kalkverarbeitung. In 18 Rumfort-Öfen wurde der Zement für den Bauboom in Berlin gebrannt.

 

Graffitis, Tanks und Kriegskulisse. Im Innern der Ruinenlandschaft von Rüdersdorf.

 

Der andere Industrieriese, das gigantische VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf, produzierte ab Anfang der sechziger Jahre Düngemittel. Bevorzugt für den Westen. „Rükana“ war ein Devisenbringer. Ökologie hingegen ein Fremdwort. Pro Jahr  setzte das Chemiewerk 200.000 Tonnen Schwefelsäure frei. Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein. Als die DDR 1989/90 kollabierte, übernahm ein Investor das Phosphatwerk, scheiterte und hinterließ gewaltige Altlasten, die bis heute im Erdreich stecken. Seit der Stillegung im Jahre 2000 dient das Gelände als Kulisse für Kriegsfilme. „Monument Men“, „Inglorious Bastards“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ wurden in den Ruinen gedreht. Rüdersdorf verwandelte sich wahlweise in Stalingrad oder in die Schlacht um Berlin. Hollywood in der Mark Brandenburg.

 

So weit das Auge reicht. Der noch aktive Kalk-Tagebau von Rüdersdorf. 2062 soll Schluß sein.

 

Übrigens: Kalk wird im angrenzenden Tagebau weiter abgebaut. Über riesige Förderbänder wandert der Kalk in ein neueres Zementwerk. So speist Rüdersdorfer Zement auch heute noch das boomende Berlin wie einst in der kaiserlichen Gründerzeit. Bis ins Jahr 2062 reichen die Kalkvorräte. Dann ist endgültig Schluss. Die riesigen Kraterflächen sollen bis 2077 geflutet und rekultiviert werden. Es ist spannend in Rüdersdorf zu erleben, wie sich die Natur in den letzten Jahren augenscheinlich erholt hat. Kaum zu glauben, aber die Wunden der letzten 150 Jahre scheinen zu heilen. Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit. Wir brauchen die Natur. Aber die Natur braucht uns nicht.

 

Der morbide Charme der Vergänglichkeit. Die leere Produktionshalle des ehemaligen Futtermittelwerks.

Der Museumspark Rüdersdorf mit geführten Touren ist eine Reise wert. Sehr zu empfehlen.