post image

Der Volksfreund

Der Norweger Henrik Ibsen meinte vorab, es werde „diesmal ein freundliches Stück sein, das von Staatsministern und Großhändlern sowie deren Damen gelesen werden kann und vor dem die Theater nicht zurückzuschrecken brauchen“. Sein brandneues Stück „Ein Volksfeind“ wurde ein Skandal. Der Plot: Kurarzt Tomas Stockmann entdeckt, dass sein Heilwasser verunreinigt ist. Die nahe Gerberei des örtlichen Großunternehmers vergiftet mit seinen Rückständen heimlich das Badewasser des Kurortes. Stockmann schlägt Alarm, ist überzeugt, „dass die Wahrheit vor jeder Rücksichtnahme kommt“. Er fordert den Missstand zu beseitigen. Mit seinen Enthüllungen hofft er als wahrer Freund des Volkes gefeiert zu werden. Vielleicht sogar mit einem Fackelzug.

 

Henrik Ibsen. 1828-1906. „Ein Volksfeind“ veröffentlichte er 1882.    Quelle: Wikipedia

 

Es kommt anders. Die Obrigkeit in Person seines Bruders Amtsrat Peter Stockmann schlägt geschickt zurück. Die Offenlegung des Übels sei keineswegs bewiesen, schade jedoch in erster Linie den ökonomischen Interessen der Bürger. Zwei Presseleute werden zu den wichtigsten Verbündeten der „hohen Herren“. Mit Falschmeldungen und billigen Vorwürfen heizt Redakteur Billing die Stimmung an. Sein Kollege Hovstad vertritt als Hofschranze geschmeidig die Interessen der Unternehmer und Mächtigen.

Die Bürger bilden eine „geschlossene Mehrheit“ gegen den „Brunnenvergifter“ Stockmann. Der Arzt wird boykottiert, seine Praxis gekündigt, die Tochter als Lehrerin entlassen. Selbst Stockmanns letzte Hoffnung, in die USA auszuwandern, wird vereitelt. Der um die Gesundheit besorgte Kurarzt wird zum tragischen Helden. Verzweifelt ruft er am Ende aus: „Der Starke ist am mächtigsten allein“. Wie einstweilen Wilhelm Tell bei Friedrich Schiller.

 

 

Die „geschlossene Mehrheit“ von Bürgern und Presse ist stärker als jede Wahrheit. „Die Quellen unseres geistigen Lebens sind vergiftet, Grund und Boden unter uns verseucht“, lässt Ibsen im Volksfeind (veröffentlicht 1882) erklären. Am Ende seiner Tragik-Groteske bleibt ein am Boden zerstörter brot- und besitzloser Badearzt zurück, der verlassen in einer Wohnung mit eingeschlagenen Fenstern sitzt. Aus dem angesehenen Bürger der Stadt ist ein verachteter Volksfeind geworden.

 

Seit der Uraufführung vor 140 Jahren auf Hunderte Bühnen der Welt gespielt. Bis heute. Hier: Theater in der Altstadt Meran/Südtirol.

 

Ibsens Stück spielte in einer norwegischen Kleinstadt in der Nähe von Oslo. Ein Volksfeind hat nunmehr 140 Jahre auf dem Buckel, jedoch kein bisschen Staub angesetzt. Im Gegenteil. Vor den Toren Berlins wird in diesen Tagen die „Tesla-Gigafactory Berlin-Brandenburg“ fertiggesellt, ohne gültige Genehmigungen, aber mit dem Versprechen „die fortschrittlichste Serienproduktionsstätte für Elektrofahrzeuge der Welt“ zu werden. Behörden und Rot-grüne Politiker wischen alle Bedenken beiseite. Das Giga-Projekt gilt als Innovation und Vorzeigeprojekt für den Klimaschutz. Auch hier geht es ums Wasser. Eine Steilvorlage für ein neues Theaterstück rund um die alte Frage, wer am Ende wem das Wasser abgräbt. Wie wäre es mit …  „Die Volksfreunde von Grünheide“.

post image

Am Ende der Welt

Hier ist die Natur weit größer als der Mensch. Und wie! Im hohen Norden befindet sich eine der abgelegensten Gegenden Islands. Das rund dreißig Kilometer lange Tal Flateyjardalur bahnt sich in atemberaubender Schönheit seinen Weg in den Atlantik. Gerade in dieser schwer zugänglichen Region kämpften Generationen von Isländern mit den Gesetzen der Natur. Ein hartes, mühsames und entbehrungsreiches Leben. Bis zu sechs Bauernhöfe wurden noch vor hundert Jahren bewirtschaftet, bis alle aufgaben. Der hier aufgewachsene Schriftsteller Theodor Fridriksson notierte 1944: “Mir geht es nicht aus dem Sinn, wie meine alten Eltern sich totgearbeitet haben, nur um in der Einöde in einer Hütte zu leben”. Im Winter fiel so viel Schnee, dass Sohn Fridriksson einmal die Hütte seiner Eltern nicht mehr fand. Zufällig stieß er beim Suchen mit seinem Skistock gegen den Dachfirst. Er fand seinen Hof erst, als er auf ihm stand.

 

Wie kam Johann Sebastian Bach vor 100 Jahren in den Hohen Norden Islands? Alle Fotos: Dagur Gunnarsson

 

Der Bauernhof Vargsnes befand sich an einer dieser unzugänglichen Buchten, an einem hohen Hang, der steil zum Meer abfiel. Aus der Wohnstube konnte man in den Zwanziger Jahren plötzlich Johann Sebastian Bach hören. Das kam so: Bauer Sigurbjörn erkannte das Talent seiner zehnjährige Sigridur. Sie träumte von einer Orgel. Der Vater machte sich auf und konnte im weit entfernten Husavik tatsächlich ein gebrauchtes Exemplar auftreiben. Er verpackte das gute Stück sorgfältig in eine Kiste, verschiffte die Orgel mit seinem Boot an den Strand von Vargsnes. Doch dann kam die eigentliche Herausforderung. Selbst mit Hilfe seiner herbeigerufenen Brüder war der steile, steinige Pfad zum Hof kaum zu überwinden.

 

Ásbyrgi. Island kann viel über Schönheit und Gefahren der Natur erzählen.

 

“Jeder hält die Kiste an einer Ecke, und immer wieder müssen sie sie drehen, die Seile etwas lösen, die Kiste auf dem Rücken zurechtsetzen, während sie sich durch einen Felsspalt nach dem nächsten zwängen. Mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung von Kristjan kamen sie auch hier herum, dann konnte er unter seinem Orgelkasten aufstehen, und so brachten sie die Orgel heim”. So beschreibt der Schriftsteller Thor Vilhjálmsson den mühsamen Transport. Sigridur wurde Organistin, spielte ihren geliebten Bach bis ins hohe Alter. Für Landeskenner Halldor Gudmundsson (Biograf des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness) war dieses Konzert ein magischer Moment, als er die alte Dame im Jahre 2000 noch leibhaftig erleben durfte.

 

Autor Hallldor Gudmundsson mit dem (noch fahrbereiten) Jaguar seines großen Vorbildes Halldor Laxness, isländischer Nobelpreisträger für Literatur.

 

Die Geschichte vom Orgeltransport am Ende der Welt ist nur eine von dreißig Episoden aus der Feder von Islands kenntnisreichstem Geschichtensucher Halldor Gudmundsson. Seine Botschaft: Auch am Außenposten der Welt gedeihen seit vielen Jahrhunderten Kultur und Literatur. Man muss nur genau hinschauen. Dank der eindrucksvollen Fotos von Dagur Gunnarsson lädt der neue Bildband in Pandemiezeiten ein, wenigstens mit dem Kopf bis ans Ende der Welt zu reisen. Übrigens: Die Isländer teilen die Deutschen in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die schon einmal auf ihrer Insel waren, und diejenigen, die unbedingt einmal dorthin möchten.

 

 

Island. Insel aus Geschichten. Ab dem 27. April 2021 im Buchhandel. Wirkungsvoller Impfstoff gegen Corona-Frust. Einzige Nebenwirkung: Fernweh.

Hat Sahra Recht?

Der Zeitgeist schlägt links. Wirklich? Sahra Wagenknecht sagt Nein. Mit scharfem Schwert rechnet sie in ihrem neuen Buch mit dem rotgrünen Milieu im Lande ab. Der Titel ist eine Kampfansage: Die Selbstgerechten. Auf 334 Seiten attackiert Wagenknecht eine hochmütige Minderheit. Die sich progressiv wähnt, aber die arbeitende Bevölkerung längst vergessen hat. Entsprechend sind die Reaktionen im Netz: Streiterin Sahra wird gehasst wie gefeiert. Das Lager der attackierten „Selbstgerechten“ schimpft sie eine reaktionäre Kommunistin, eine Frau von vorgestern und narzisstische Außenseiterin. „Ohne solche Leute wäre vieles besser“, so der Sound der Wagenknecht-Kritiker.

 

 

Die Bandbreite ihrer Unterstützer hingegen ist überraschend wie kurios. Tenor: Die hasserfüllten Reaktionen zeigten, dass Wagenknecht ins Wespennest gestochen habe. Verrückt. Die einstige Ikone der Kommunistischen Plattform gilt heute als „Stimme der Vernunft“, als Sprachrohr der schweigenden Mehrheit. Am heftigsten geht der Gaul mit der AfD durch. Sie plakatiert in Sachsen-Anhalt: SARAH HAT RECHT! Ein Super-Gau? Für Wagenknecht-Gegner in der eigenen Partei ist die Aktion der definitive Beweis ihrer „Kontaktschuld“ mit Nationalisten. Sind die Selbstgerechten also überflüssig wie ein Kropf?

Als Anhänger der Aufklärung empfehle ich etwas anderes: Ein eigenes Urteil bilden. Wie wäre es mit argumentieren statt moralisieren? Das ist sinnvoller als jedes Twitter-Gewitter. Wagenknechts Kernthese: Die Linken haben die Seiten gewechselt. Sie sind auf die Seite der (neoliberalen) Sieger übergelaufen. Die Verlierer der Globalisierung bleiben draußen vor der Tür. Wagenknecht macht eine neue gutsituierte, linksliberale Klasse aus, die „Lifestyle-Linke“. Diesem akademischen Milieu bedeute Identität mehr als die soziale Situation ihrer Mitmenschen. Mitgefühl mit Unterprivilegierten? Fehlanzeige.

 

 

Das Buch liefert zahlreiche Beispiele. So feierten linksliberale Meinungsmacher im Sommer 2020, dass nach einem erfolgreichen Shit-Storm das Knorr-Produkt Zigeunersauce nunmehr diskriminierungsfrei als „Paprikasauce Ungarische Art“ angeboten wird. Zeitgleich zum Ende der „rassistischen“ Zigeunersauce drohten 550 Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn Kündigung bzw. massiver Stellenabbau. Hier rührte sich kein Protest. Reine Symbolpolitik statt Sozialpolitik, poltert Wagenknecht, ein Markenzeichen des neuen linken Zeitgeists.

Original-Ton Wagenknecht: „Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest in einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse, plädiert für eine Post-Wachstums-Ökonomie und achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung. Discounterfleisch-Esser, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigflugreisende sind ihm ein Graus.“

 

 

Die promovierte Ökonomin plädiert für den Nationalstaat. „Nationale Identität“ definiert sie „kulturell und historisch, aber nicht genetisch“. Der diffamierte Nationalstaat sei der einzige Garant für einen funktionierenden Sozialstaat. Die EU habe bewiesen eine schöne Vision ohne Bodenhaftung zu sein. Brüssel ignoriert die realen Sorgen und Nöte der Menschen. Und die 51-jährige zerlegt  in einem ganzen Kapitel analytisch fundiert „die wunderbare Erzählung von der Migration als großen Freiheitsgewinn und Vorteil für alle Seiten“. Zum Beifall der AfD, zum Ärger der Linken.

Wagenknechts Fazit: Die richtige Gesinnung – oder Neusprech: Haltung – wiegt schwerer als das Richtige zu tun. „Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögenssteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten“.

Hat Sahra Recht? Fährt der Zug gerade in die komplett falsche Richtung? Wagenknechts Streitschrift liefert provokativen Stoff zum Überprüfen der eigenen Meinungen und Überzeugungen. Es empfiehlt sich das ganze Buch zu lesen. Und nicht vorschnell als Nazi-Müll zu disliken. Die Lektüre lohnt sich. Gesalzen und gehaltvoll wie eine „Paprikasauce Ungarische Art“. Guten Appetit.

post image

Der morbide Charme der Vergänglichkeit

Zu den Riesen von Rüdersdorf geht es einen Kanal entlang, dann steil die Uferböschung hoch, durch ein kleines Loch im Zaun. Plötzlich öffnet sich eine andere Welt. Wie Dinos ragen gigantische Hallen, Ruinen, Silos und Schornsteine in den märkischen Himmel. Willkommen im Jurassic-Park einer untergegangenen Epoche. Auf zu einem Abenteuerspielplatz für Entdecker, Filmteams, Graffiti-Sprayer und Sonntagsausflügler. Rüdersdorf ist gerade mal rund vierzig Kilometer östlich vom Alexanderplatz entfernt. Ein Symbol für das Verfallsdatum eines ganzen Industriezeitalters mit Zementwerken, historischen Schachtofenbatterien und einem Volkseigenen Chemiegiganten.

 

Die Reste des Futtermittelwerks. Das VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf exportierte Düngemittel gegen Westdevisen. 1999 stillgelegt.  Alle Fotos von Ende März 2021.

 

Apropos: Augen auf. Versteckt lauern Löcher und Stolperstellen. Rüdersdorf 2021 ist ein Sammelsurium aus rostigen Ruinen, geborstenen Rohren, Scherben, Stahl, Schrott, Schutt, Schienen, Loren, verbogenem Metall, Müll aller Art, Öfen, Rückhalte-Becken mit undefinierbarer Flüssigkeit, Spraydosen, Sackkarren und heruntergefallenen Ziegeln. Alles ist vergänglich, will Rüdersdorf wohl sagen. Am Anfang stand eine Kalkgrube. Aus dem abgebauten Kalkstein wurde der berühmte Rüdersdorfer Zement gebrannt. Von 1876 bis 1967 brannten 18 Öfen für die neue Hauptstadt. Rund um die Uhr. Vier Zementwerke gab es, eines ist noch in Betrieb. Das hatte Folgen. Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Natur in der Umgebung eine weiß-graue, verkalkte Mondlandschaft. Auf Bäumen, Pflanzen und Häusern lag eine zentimeterdicke Staub- und Rußschicht.

 

Kathedralen der Kalkverarbeitung. In 18 Rumfort-Öfen wurde der Zement für den Bauboom in Berlin gebrannt.

 

Graffitis, Tanks und Kriegskulisse. Im Innern der Ruinenlandschaft von Rüdersdorf.

 

Der andere Industrieriese, das gigantische VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf, produzierte ab Anfang der sechziger Jahre Düngemittel. Bevorzugt für den Westen. „Rükana“ war ein Devisenbringer. Ökologie hingegen ein Fremdwort. Pro Jahr  setzte das Chemiewerk 200.000 Tonnen Schwefelsäure frei. Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein. Als die DDR 1989/90 kollabierte, übernahm ein Investor das Phosphatwerk, scheiterte und hinterließ gewaltige Altlasten, die bis heute im Erdreich stecken. Seit der Stillegung im Jahre 2000 dient das Gelände als Kulisse für Kriegsfilme. „Monument Men“, „Inglorious Bastards“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ wurden in den Ruinen gedreht. Rüdersdorf verwandelte sich wahlweise in Stalingrad oder in die Schlacht um Berlin. Hollywood in der Mark Brandenburg.

 

So weit das Auge reicht. Der noch aktive Kalk-Tagebau von Rüdersdorf. 2062 soll Schluß sein.

 

Übrigens: Kalk wird im angrenzenden Tagebau weiter abgebaut. Über riesige Förderbänder wandert der Kalk in ein neueres Zementwerk. So speist Rüdersdorfer Zement auch heute noch das boomende Berlin wie einst in der kaiserlichen Gründerzeit. Bis ins Jahr 2062 reichen die Kalkvorräte. Dann ist endgültig Schluss. Die riesigen Kraterflächen sollen bis 2077 geflutet und rekultiviert werden. Es ist spannend in Rüdersdorf zu erleben, wie sich die Natur in den letzten Jahren augenscheinlich erholt hat. Kaum zu glauben, aber die Wunden der letzten 150 Jahre scheinen zu heilen. Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit. Wir brauchen die Natur. Aber die Natur braucht uns nicht.

 

Der morbide Charme der Vergänglichkeit. Die leere Produktionshalle des ehemaligen Futtermittelwerks.

Der Museumspark Rüdersdorf mit geführten Touren ist eine Reise wert. Sehr zu empfehlen.

 

 

post image

Brot ist Leben

Was muss in ihr vorgegangen sein? In der Todesstunde, gegen Mitternacht in Berlin-Plötzensee. Wir wissen es nicht. Margarete Elchlepp starb „im Namen des Volkes“ einsam unter dem Fallbeil. Ihr Verbrechen: Sie hatte kurz vor Kriegsende mit Hunderten anderen hungernden Menschen in Berlin-Köpenick Brot verlangt. Die Hausfrau starb am 8. April 1945 um 0.45 Uhr. Genau wie ihr Leidensgenosse Tischlermeister Max Hilliges. Die beiden Köpenicker wurden als „Rädelsführer“ wegen „Landfriedensbruchs, Plünderns und Wehrkraftzersetzung“ enthauptet. Auf Befehl von „Reichsverteidigungskommissar“ Joseph Goebbels. Ermöglicht durch einen fanatischen NS-Ortsgruppenleiter, denunziert von Hitler-treuen Frauen aus der Nachbarschaft. Das grausame Ende des Brotaufstands von Rahnsdorf: Drei Todesurteile, zwei vollstreckt. Eine Frau wurde in letzter Minute zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt, weil sie Mutter von drei Kindern war. Hingerichtet für ein Stück Brot, vier Wochen vor dem Ende des Dritten Reiches.

 

Magarete Elchlepp (1899-1945) Ihren Wunsch nach Brot musste sie am 8. April 1945 um 0.45 Uhr mit dem Leben bezahlen. Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Freitag, 6. April 1945. Im beschaulichen Berliner Vorort Rahnsdorf am Müggelsee verbreitet sich am Vormittag ein Gerücht. Brot gibt es nur noch für NS-Mitglieder! Hunderte Köpenicker eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Frauen, Kinder, Alte. Zwei Bäcker zeigen Herz und verteilen das Brot zu 50,- Pfennig das Stück. Beim zentralen Bäcker an der Fürstenwalder Allee eskaliert die Situation. Das nazitreue Bäckerspaar weigert sich Brot an die Bevölkerung abzugeben. Der alarmierte Ortsgruppenleiter Hans Gathemann droht mit gezogener Waffe zu schießen, kann aber nicht verhindern, dass Brot den Besitzer wechselt. Es gibt Wortgefechte. Der in der Bäckerei mit Reparaturen beschäftigte Tischlermeister Max Hilliges sagt zum 52-jährigen NS-Funktionär: „Gib den Frauen doch Brot“. Und: „Deinen Rock wirst Du bald ausziehen müssen“.

 

Die ehemalige Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf vor der Sanierung. Links unter der Hausnummer ist die noch nicht enthüllte Gedenktafel von 1998 zu erkennen. Sie verschwand nach der Renovierung vor ca. fünf Jahren.

 

Margarete Elchlepp soll in der Menge vorne gestanden haben. Was sie genau getan oder gesagt hat, ist unbekannt. Laut Kripoakten soll sie „vermittelt haben“. Sie habe jedoch „unumwunden zugegeben, Brot genommen zu haben“. Schließlich gelingt es NS-Mann Gathemann, die wütende Menge zu vertreiben. Nun nehmen die Nazis Rache. Frauen aus der Umgebung notieren Namen auf einem Stück braunem Papppapier. Gathemann meldet die Beteiligten der Gestapo. Am selben Abend werden 15 Rahnsdorfer verhaftet und zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht. Am folgenden Tag verurteilt ein Standgericht Max Hilliges (56), Margarete Elchlepp (45) und Gertrud Kleindienst (36) als „Rädelsführer“ zum Tode.

 

Max Hilliges. (1891-1945) Auch der Tischlermeister musste sterben, weil er es wagte, dem NS-Ortsgruppenleiter zu widersprechen. Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Drei Stunden nach dem Urteil muss Margarete Elchlepp im Gefängnis Plötzensee ihre letzte Habe abgeben. Ein paar Halbschuhe, drei Taschentücher, zwei Halstücher und ein Wintermantel. Sie kann nicht einmal mehr quittieren. Ein rotes Kreuz wird nachträglich markiert. Es bedeutet Hinrichtung. Der Henker muss in der Nacht extra wegen der „Brotaffäre“ kommen. So dringend war Joseph Goebbels das Abschreckungsurteil, dass er den nächsten regulären Hinrichtungstermin am 10. April 1945 nicht abwarten wollte. In seinem Tagebuch notiert er: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“

 

Das sog. Kammerbuch von Plötzensee. Eintrag Margarete Elchlepp vom 8. April 1945, ca. 0.30 Uhr. Kurz vor der Hinrichtung wurde ihr die letzte Habe abgenommen und genauestens protokoliiert.

 

Viele Jahrzehnte wurde das „Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung“ vergessen und verdrängt, so Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Erst 1998 wurde eine (fehlerhafte) Gedenktafel am Haus der Bäckerei angebracht. Diese verschwand nach einem Eigentümerwechsel. Was wir mittlerweile wissen: NS-Ortsgruppenleiter Gathemann wurde laut Moskauer Akten von einem Sowjetischen Militärtribunal zum „Tode durch Erschießen“ verurteilt. Ob das Urteil vollzogen wurde, war bislang nicht zu erfahren. Eine der Frauen aus der Nachbarschaft wurde 1953 in der DDR zu sechs Jahren Zuchthaus „wegen Denunziation“ verurteilt. Sie saß fünf Jahre unter anderem im Frauengefängnis Hoheneck.

Familie Elchlepp sprach nur im engsten Familienkreis über das Schicksal Margaretes. Der heute 83-jährige Dietrich Elchlepp:„Ich erinnere mich als kleiner Bub, wie unsere Familie nur ganz leise über den Tod meiner Tante sprach. Mit Entsetzen in den Augen. Man wollte es einfach nicht glauben.“ Der ehemalige Europarlamentarier aus Denzlingen bei Freiburg schaut mich an: „Mir wird heute noch schlecht. Ich kann mir das richtig vorstellen. Es geht mir unheimlich nahe. Diese Unverhältnismäßigkeit. Für einen Laib Brot, Kopf ab.“ Dietrich Elchlepp ist eine Sache noch wichtig: „Wenn Herr Gauland von der AfD im Bundestag sagt, die NS-Zeit sei in der Geschichte Deutschlands nur ein Vogelschiss gewesen, dann sage ich ganz klar. Das war kein Vogelschiss. Das war die Ermordung der Margarete Elchlepp und vieler Hundertausende anderer.“

 

Margarete Elchlepp 1936. Die gebürtige Brandenburgerin aus Müncheberg war mit dem Steglitzer Textilkaufmann Walter Elchlepp verheiratet. Dieser stellte nach dem Krieg Anträge auf Entschädigung. Sie wurden abgelehnt. Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Margarete Elchlepp aus Berlin-Rahnsdorf wurde 45 Jahre alt. Seit Jahren wird versprochen, eine neue Gedenktafel an der Bäckerei anzubringen.

Über mittelmäßigen Sex

Kaya liebt Rammstein und norwegische Berge. Sie modelt für Gucci und spielt im Mystery-Thriller Thelma eine Studentin. Sie lebt in Oslo, New York und Berlin. Und singt in ihren Liedern: „Ich könnte eine Alge sein und du ein Pilz.“ Ihre Songs sind kleine Kurzgeschichten, ehrlich, überraschend und verstörend. Es geht um Hormoneinflüsse und Routine in der Therapie. „Ist der Sex mit mir nur mittelmäßig“, fragt sie. Sie kann über sich lachen und entdeckt die Fähigkeit sich selbst zu akzeptieren. Kaya Wilkins alias Okay Kaya ist eine junge Singer-Songwriterin, die etwas zu sagen hat. Weil sie zu ihrem Doppelleben steht.

 

 

Was die Dreißigjährige genau antreibt, ist nur schwer zu beschreiben. Sie hat viele Gesichter, führt mindestens zwei Leben. Vielleicht sogar einige mehr. Ihre Motivation – sie will den Dingen auf den Grund gehen. Eintauchen in neue Welten, das Geheimnis des Lebens entdecken. Geboren ist Kaya in New Jersey als Tochter einer Norwegerin und eines Amerikaners. Sie wächst in der Heimat ihrer Mutter auf. Es ist die eher ländliche Halbinsel Nesoddtangen im Oslofjord.

Mit achtzehn bricht sie nach London auf, lernt das Tanzen. Geld verdient sie „mit meinem Gesicht und meinem Körper“. Kaya wird rasch ein vielgefragtes Fashionmodel. Ein rastloses Leben. Immer auf Tour. Hotelzimmer. Flughafen. Modemessen. Täglich neu Scheinwerferlicht, Schminke, Umziehen und ein Lächeln auf Verlangen.

 

 

Kaya wird schnell klar. Das ist nicht ihr Leben. Modeln ist  nichts als Fassade, maximal ein Job. Ihr Herz findet zielsicher den Weg zur Musik. Schon als Teenie hatte sie in der Metall-Band ihres Bruders mitgejammt. Kaya zieht von London nach New York, steht 2017 in Thelma vor der Kamera. Seit drei Jahren geht sie nun musikalisch eigene Wege. Die taz verlieh ihr das Etikett „Radical Softness“. Eine Mischung aus nordischen Balladen und modernem Feminismus, aus schnellen Beats und sanftem Indierock.

Ihre Plattenfirma wollte sie lieber als singendes Model präsentieren, das mache sich gut. „Mit zwanzig wollte ich es allen recht machen“, erinnert sie sich. Doch Kaya Wilkins nennt sich fortan Okay Kaya und will so sein wie sie ist: Selbstbestimmt, lesbisch, euphorisch und dann wieder von Depressionen gebeutelt. Kaya kündigt beim Label und produziert ihr neuestes Album selbst. „Watch this Liquid pour itself“. „Was, wenn die Antidepressiva mich nicht mehr feucht werden lassen?“ singt sie. Ihren Zwilling wird sie einfach nicht mehr los.

 

 

Kaya schreibt schonungslos ehrliche Texte und mixt sie mit entschleunigten Songs im Sound der heutigen zwanziger Jahre. Eine Zeit der Krisen, Einsamkeit und seelischen Verwüstungen durch die Corona-Pandemie. „Alle sind überrascht über meinen Optimismus“, sagt die US-Norwegerin, „aber ich hebe mir den Nihilismus einfach für besondere Momente auf.“

post image

Das Volk der Bäume

Schon gehört: Walduntergang? In solchen Momenten wird gerne der Baumfreund Albert Schweitzer zitiert. „Der Mensch hat die Fähigkeit verloren, vorauszublicken und vorzusorgen. Er wird am Ende die Welt zerstören“. So Schweitzer vor fast einem Jahrhundert im Schicksalsjahr 1933 in „Ehrfurcht vor dem Leben“. Da praktizierte der äußerst populäre Arzt und Theologe im fernen Urwaldhospital in Gabun. NS-Propagandachef Joseph Goebbels schickte dem Vordenker eine Einladung mit Hitlergruß, er möge nach Deutschland zurückkehren. Menschenfreund und Bach-Liebhaber Schweitzer schickte aus Lambaréné eine höfliche Absage – „mit zentralafrikanischem Gruß“.

Heute hätte der Urwald-Doktor viel zu tun. Welt, Wald und Klima sind krank. Dabei lieben die Deutschen ihren Wald mit Herz und Seele. Die Alten schätzen Gedichte von Eichendorff und Klopstocks Oden an die deutsche Eiche. Bilder von Caspar David Friedrich und Grimms Märchen. Die mittlere Generation kauft Förster Peter Wohllebens Waldbücher und Internetkids entdecken Shinrin Yoku, das „Waldbaden“ für 39 Euro die Stunde. Natürlich wissen die meisten, dass eine grüne Idylle in dem Augenblick gefährdet ist, in dem sie entdeckt wird. Dann hilft nur noch Greenwashing. Wir wollen uns ja wohlfühlen. Beispiel „Landlust“. Das Hochglanzblatt zeigt das Leben in der Natur etwa so realitätsnah wie einst der untergegangenen „Playboy“ Frauen.

 

 

Der deutsche Wald ist krank. Das sagt der neue Waldzustandsbericht. Es ist die schlimmste Bilanz seit 36 Jahren, seitdem es diesen Jahresbericht gibt. Nur noch jeder fünfte Baum ist gesund. Egal ob Eiche, Kiefer oder Buche. „Die anhaltende Dürre in den Vegetationszeiten 2018 – 2020 hat verbreitet dazu geführt, dass die Blätter vorzeitig abgefallen sind. Bei der Fichte begünstigte sie, dass sich Borkenkäfer weiter massenhaft vermehren. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Absterberate nochmals gestiegen. Vor allem unsere alten Wälder (>60 Jahre) sind betroffen.“ Ausführlich nachzulesen im Waldzustandsbericht 2020.

Das Waldsterben sei ein „ökologisches Hiroshima“, titelte vor dreißig Jahren der SPIEGEL. Was geschah? – Nichts. Es war möglicherweise in den letzten Jahren einfach zu viel los. Deutsche Einheit, Ost-West-Gezänk, Gentechnik, Dioxin, Ozonloch, Allergien, Abgasskandal, Verkehrsinfarkt, Treibhauseffekt, Vogelgrippe, Schweinepest, Rinderwahnsinn, Bankencrash, Terrorismus, Migration, Wutbürger, Pegida, Pandemie, Korruption, jetzt Gender- und Rassismus-Debatte. Unsere Angstlustgesellschaft hat Heißhunger nach neuem Futter. Welche Krise, welcher Schadstoff darf der Nächste sein?

 

 

Währenddessen leidet der Wald und schweigt. Eine Wende tut not. Statt kranker Fichte oder Kiefer müssen resistente Bäume her. Klimataugliche Weggefährten, die Hitze, Dürre, Stürme und Borkenkäfer überleben. Migranten aus Amerika und Afrika sollen den kranken Wald retten. Als Bäume der Zukunft gelten sogenannte Neophyten.  Einwanderer wie Douglasie, Robinie oder die Libanon-Zeder. Besonders Zedern wachsen besser als Kiefer oder Fichte, hat die Uni Bayreuth in jahrelangen Tests herausgefunden. Sie liefern wertvolleres Holz und seien „robust gegenüber Klimaextremen“.

Der deutsche Wald wird sich radikal ändern, soll er bleiben. Er muss vielfältiger und artenreicher, neudeutsch: diverser werden. Eine Jahrhundertaufgabe, so Waldexperten. Na, darauf ein Likörchen.

post image

„Wir kümmern uns“

Ingeborg M. * ist Intensivschwester. Sie liebt ihren Beruf. Im Laufe der Pandemie sammelte sie mehr als 200 Überstunden. Corona kennt keinen Feierabend. Sie freute sich im stressigen Katastrophenjahr über Anerkennung und Beifall. Ein dankbarer Blick von Patienten und Angehörigen ist viel wert, wenn Ingeborg mal wieder geholfen hatte ein Menschenleben zu retten. Großartig! Als sie ihre Überstunden einreichte, hörte sie nichts mehr. Sie rackerte weiter, vertrat Schichten bis zur völligen Erschöpfung. Als sie wiederholt nach dem Lohn für ihre Überstunden fragte, bat die Verwaltung um Geduld. Bis zum Jahresende 2020 wurde keine einzige Überstunde bezahlt.

Ingeborg M. kündigte. Nach 14 Jahren auf der Intensivstation in einer süddeutschen Kleinstadt. Die aus Mecklenburg-Vorpommern stammende Fachkraft hat mittlerweile einen „ruhigeren“ Job in einer Reha-Einrichtung. Es gibt viele Ingeborgs. Ganze Teams denken laut einer  Studie mehrmals pro Woche darüber nach auszusteigen. Die erfahrene Ingeborg fragt, wie künftig Pflege in Krankenhäusern und Heimen noch funktionieren soll. Sie kenne so viele Kolleginnen und Kollegen vom Kreißsaal bis zur Palliativstation, denen es ähnlich ergehe. Durchschnittlich bleibt eine Pflegkraft acht Jahre im Beruf. Viele der 1.7 Millionen „Helden der Arbeit“ (Ingeborg) sind ausgebrannt, frustriert oder werden um Überstunden und Zulagen gebracht. Darüber offen zu reden trauen sich die wenigsten. Auch Ingeborg nicht.

 

 

Vielleicht sollte Ingeborg im Herbst Bundestagsabgeordnete werden? Vielleicht würde dann der angekündigte Corona-Bonus endlich an alle ausgezahlt werden. Wichtiger noch: Wie wäre es, die bekannten Missstände im Gesundheitswesen wie Personalmangel, Fallpauschale oder Überstunden abzustellen. Oder die Perspektive, den Schlüssel von einer Pflegeperson pro 13 Patienten (Bundesdurchschnitt) auf ein menschenwürdiges und medizinisch angemessenes Level zu senken. Keine verkehrte Idee in einem reichen Land.

Währenddessen kümmerten sich im ersten Corona-Jahr „bis zu zwei Dutzend Bundestagsabgeordnete“ um das lukrative Maskengeschäft. Einige MdBs waren mit ihren Überstunden äußerst erfolgreich. Vizefraktionschef Georg Nüßlein (CSU) verdiente 2020 an der Corona-Not 660.000 Euro Vermittlungsgebühren. Er werde „seine Ämter ruhen lassen“, ließ er verkünden. Der Mannheimer CDU-Abgeordnete Nikolas Nübel nahm 250.000 Euro . Eine „marktgerechte“ Provision, so der 34-jährige Hinterbänkler. Der Unternehmensberater bot Schutzmasken einer baden-württembergischen Firma feil. „Ich hätte sensibler handeln sollen“, ließ Maskenlobbyist Nübel mitteilen. Er bedaure den Fehler und ziehe sich daher aus dem Auswärtigen Ausschuss zurück.

 

 

Zum Schluss ein einfaches Rechenexempel. Wie viele Überstunden im Gesundheitswesen könnten mit Hilfe der Masken–Boni (derzeit 910.000 Euro; ohne Dunkelziffer) der Abgeordneten beglichen werden? Der Stundenlohn einer Krankenschwester beträgt 11,63 brutto. Bei vorsichtiger Schätzung könnten bundesweit mehr als 80.000 Überstunden ausgezahlt werden. Mit dabei wären auch die 200 Stunden von Ingeborg M., auf deren Überweisung sie bis heute wartet.

 

* Richtiger Name bekannt.

post image

Kleiner Fabio, was nun?

„Wie kann man lachen, richtig lachen, in solcher Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die stets ihr Bestes taten?“ Niemand konnte die Sorgen der kleinen Leute genauer beschreiben als Hans Fallada. Vor gut einhundert Jahren landete er mit „Kleiner Mann, was nun?“ einen Riesenerfolg. Heute versucht ein einfacher Abgeordneter der Linken die großen Wirtschaftsführer herauszufordern. Mit Hartnäckigkeit, Herz und Kompetenz. Sein Name: Fabio de Masi. 39 Jahre alt, gebürtiger Hesse, italienische Wurzeln, katholisch, Hamburger aus St. Pauli, Wahlheimat Südafrika. Diplom-Volkswirt, Bundestagsabgeordneter und „überzeugter Linker“.

Sein Großvater war im II. Weltkrieg Partisan im Piemont. Seine Großmutter schmuggelte geheime Botschaften in der Salami. Und der Enkel? Fabio de Masi ist der brillanteste Aufklärer im Wirecard-Untersuchungsausschuss. Für den Abgeordneten der Linken ist Wirecard der größte Finanzskandal der jüngeren Geschichte. „Ein Fenster unserer Zeit“ in die Welt skrupelloser Abzocker getarnt als Finanzdienstleister. Die neuen Masters of the Universe seien mächtiger als Banken. 20 Milliarden Euro hat die „smarte Illusionsfabrik“ Wirecard in den Sand gesetzt. Unzählige Kleinanleger wurden um ihr Vermögen geprellt. Mit im Spiel laut de Masi: Eine unfähige Finanzaufsicht, die statt zu kontrollieren kritische Journalisten verfolgen ließ. Und Lobbyisten von „Kai Diekmann (Ex-BILD) über Karl-Theodor zu Guttenberg (Ex-Verteidigungsminister) bis zum ehemaligen Geheimdienst-Koordinator im Kanzleramt Klaus-Dieter Fritsche“.

 

 

Das Milliarden-Wirecard-Imperium war „ein Luftballon“, der auf den Philippinen platzte. Einer der Chefs sitzt hinter Gittern bzw. ab und zu vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss. Dort kann sich CEO Markus Braun nicht einmal mehr an seine Doktorarbeit erinnern. Der andere Chef, gleichfalls ein Österreicher ist seit Juni 2020 flüchtig. Der gelernte Programmierer Jan Marsalek mit Geheimdienst- und FPÖ-Nähe verschwand mit einer Cessna gen Weißrussland/Belarus. Wo sich der Hochstapler heute befindet, ist unbekannt. Fabio de Masi versucht wie kein anderer die Hintergründe aufzuklären. Der Experte fordert eine Finanz-Elite-Polizei, die Betrüger und deren Netzwerke jagt und nicht wegschaut. Das sei eine wichtige Lehre aus den Pleiten und Betrügereien der letzten Jahre, so der Hamburger de Masio. Die Liste ist lang. Von den Panama-Papers bis zum CumEx-Steuerbetrug.

 

Aktuelles Fahndungsplakat. Jan Marsalek. Ex-Chef con Wirecard.

 

„Es gibt die Weisheit der kleinen Leute“, sagt Fabio de Masi. Aufgabe einer guten Politik sei es, sie zu schützen und ihre Interessen zu vertreten. Doch der furchtlose Aufklärer will nicht mehr. Statt eines möglichen Parteivorsitzes will er im September 2021 als Abgeordneter aufhören. Folge: Das große Problem bleibt, der kleine Fabio geht. Für einen Posten als Parteichef brauche es einen „gemeinsamen Spirit“ in seiner Partei. Er wolle seine Energie nicht „in eingeübten Ritualen und Machtkämpfen verausgaben“. Lieber kümmere er sich um seinen Sohn. Die Begründung seines Rückzuges ist lesenswert. Hier Auszüge:

„Ich habe den politischen Meinungsstreit – gerade mit Konservativen und Liberalen – immer als eine Bereicherung empfunden. Denn Widerspruch schult die eigenen Argumente. Wir müssen lernen, respektvoll miteinander zu streiten – so wie in jedem Dorf, in jeder Familie, in jedem Sportverein und in jedem Freundeskreis.

Es gibt in verschiedenen politischen Spektren und vor allem in den sozialen Medien die Tendenz, Politik nur noch über Moral und Haltungen zu debattieren. Ich halte dies für einen Rückschritt. Werte und Moral sind das Fundament politischer Überzeugungen. Wer jedoch meint, dass alleine die „richtige Haltung“ über „richtig oder falsch“ entscheidet, versucht in Wahrheit den Streit mit rationalen Argumenten zu verhindern.

Identität ist wichtig im Leben. Sie darf aber nicht dazu führen, dass nur noch Unterschiede statt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen betont werden und sich nur noch „woke“ Akademiker in Innenstädten angesprochen fühlen. Eine Politik, die nur noch an das Ego und die individuelle Betroffenheit, aber nicht mehr an die Gemeinschaft appelliert, ist auch Donald Trump nicht fremd.“

 

Fabio de Masi. Stilgerecht im Fiat 500. Ob er mit den Ferraris der Finanzelite mithalten kann? Für ihn nicht eine Frage des Tempos, sondern der Hartnäckigkeit. Foto: privat

 

Fabio de Masi hofft bis zum Sommer 2021 vorzeigbare Resultate aus dem Wirecard-Ausschuss der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Alle kleinen und großen Leute dürfen gespannt sein.

 

post image

Oh, wie schön ist Janosch

Ein gewisser Herr Wondrak unterwegs ins Grüne: „Herr Janosch, welches ist die richtige Haltung beim Radfahren? »Luise sitzt vorbildlich aufrecht. Und Wondrak hält Ausschau nach hinten und achtet im Übrigen darauf, dass er nicht stört.« Typisch Janosch. Das Leben ist so schön. Der Meister des heiteren Müßiggangs und Wegbegleiter vieler Kinder-Generationen. Ein Mann der feinen Ironie. Berühmt geworden als Vater der Tigerente. Legendär sein Oh, wie schön ist Panama. Kaum zu glauben. Janosch wird bald Neunzig.

Als Horst Eckert erblickt er am 11. März 1931 in Hindenburg (das heutige polnische Zabre) in einer schlesischen Malochergegend das Licht der Welt. Janosch: „Aus Versehen geboren, und dann selig über die Erde getorkelt. Wie ein Bote, der hier etwas abzuliefern, aber den Empfänger vielleicht doch noch nicht gefunden hat, ihn auch gar nicht mehr sucht.“ Einer der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautoren aller Zeiten hatte von Anfang an eine schwierige Kindheit. Der Vater war ein prügelnder Nazi. Dann Krieg, Flucht, Vertreibung und Neuanfang in München. Dort wollte er Kunst studieren. Der Professor warf ihn raus, wegen „mangelnder Begabung“.

 

Janosch: „Ich hatte die Schnauze voll von Kinderbüchern. Keiner kaufte die. Und da wollte ich einen Racheakt an der Welt landen. Ich wollte ein Kitschbuch machen. Da gibt es so ein paar Regeln. Da muss ein Kuschelbär dabei sein und der Bär muss eine Reise machen und muss einen Freund haben und schon fangen die Weiber an zu heulen.“

Der Durchbruch kam mit Waldbär und Tigerente in seiner Panama-Geschichte. Da war er 47 Jahre alt. Der Erfolg machte ihn nicht glücklich. Im Gegenteil. Nach dem Welterfolg  ließ er sich von abgebrühten Werbeleuten über den Tisch ziehen. Die cleveren Vermarkter organisierten die Nutzungsrechte, packten die Tigerente auf Kaffeetassen oder auf die Putenbrust und verdienen fortan an Janosch prächtig.

 

Kinderfreund und Lebensphilosoph Janosch 2002. Foto: Wikipedia

 

Sein Glück fand Janosch in den Bergen von Teneriffa. In einer Hütte lebt er bescheiden und zurückgezogen mit seiner Frau. Vielleicht döst der begnadete Melancholiker gerade in seiner Hängematte. Motto: Wer fast nichts braucht, hat alles. Janosch: „Alle Leute suchen nach dem Glück. Das ist etwas zu viel verlangt. Ich würde nicht mal danach suchen. Die beschäftigen sich ein ganzes Leben damit, das Glück zu suchen. Wozu?“ Interviews hasst er. Kinder liebt er, nicht aber deren Eltern. Janosch bleibt ein schrullig-liebenswerter Anarchist und Aussteiger. Wie sein Herr Wondrak, der viele Jahre im Zeit-Magazin Mitmenschen ihre Sorgen vertrieb. Froh, heiter und gelassen. Und wenn es nur für einen kurzen Augenblick war, der ein Lächeln bescherte.

 

 

Mit seinen Helden, dem Umwelthäuptling Emil Grünbär, der klugen Graugans Dolli Einstein und dem gütigen Hund Rüdi von Lieberbaum versucht er auf seine Art Natur und Klima zu retten. Seit vielen Jahren setzt sich Janosch für Projekte gegen Armut ein. In seinem Geburtsort Zabrze (Polen) kauft er Wohnplätze für Waisenkinder, lässt seine Bilder für SOS Kinderdörfer, medizinische Hilfe in Afrika, die Krebshilfe und den Tierschutz versteigern.

 

 

Was bleibt mit Neunzig? Vor einiger Zeit sagte Janosch über das Älterwerden: „Das ist die beste Zeit meines Lebens das Alter. Es ist so was von schön. Das kann ich jedem nur empfehlen. – Was ist am Alter so schön? – Der Geschlechtstrieb ist abgestorben bzw. beseitigt. Man wird nicht mehr ernst genommen von den Leuten. Man kann machen, was man will.“