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„Jetzt kommen neue Zeiten“

Heils- und Hassprediger fahren in diesen Tagen Sonderschichten. Im Internet – unserer Neuen Heimat – verbreiten sich Spreader aller Farben, Formen und Fähigkeiten. Sie zeigen mit dem Finger auf andere ohne rot zu werden, Zynismus geht besonders gut. Entertaiment at it´s best. Wir amüsieren uns zu Tode. Der US-Medienwissenschaftler Neil Postman bemerkte: „Jeder Trottel kann ein Star werden, das ist das Grundprinzip. Es ergibt sich eine doppelte Perspektive. Der Zuschauer kann sich in das Geschehen hineinträumen, er wolle ein Star werden, und er nimmt am Selektionsprinzip teil. Ein gemachter Superstar, eine Schöpfung aus dem Nichts“. Postmans Zeilen sind 35 Jahre alt. Das Internet kannte er nicht, es steckte noch in den Kinderschuhen.

Mitten in unserer zweiten Lockdown-Isolations-Zeit habe ich eine bemerkenswerte Perle in den Tiefen des Internets gefunden. Die Geschichte hat mich so berührt, dass ich sie gerne teilen möchte.

Jetzt kommen neue Zeiten, schreibt Olga Tokarczuk aus Breslau, den Grenzen geht es gerade wieder sehr gut und die Schlacht um eine neue Wirklichkeit wird bald beginnen. Die scheue polnische Literaturnobelpreisträgerin veröffentlichte diesen Text im April 2020 während des ersten Stillstandes. Knapp zehn Minuten Lebenszeit sind vonnöten. Es lohnt sich. Versprochen.

 

 

„Aus meinem Fenster sehe ich eine Weiße Maulbeere, einen Baum, der mich fasziniert; er war einer der Gründe, warum ich hier eingezogen bin. Der Maulbeerbaum ist ein freigiebiges Gewächs: den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über ernährt er Dutzende Vogelfamilien mit seinen süßen, gesunden Früchten. Jetzt aber trägt der Baum keine Blätter; so sehe ich ein ruhiges Stück Straße, die nur selten jemand entlanggeht, um in den Park zu gelangen. Das Wetter ist in Breslau fast sommerlich, die Sonne blendet, der Himmel ist blau, und die Luft ist rein.

Heute sah ich, als ich mit meinem Hund spazieren ging, wie zwei Elstern eine Eule von ihrem Nest vertrieben. Die Eule und ich, wir sahen uns aus kaum einem Meter Entfernung in die Augen. Mir scheint, auch die Tiere warten auf das, was auf uns zukommt. Ich hatte schon seit längerem zu viel Welt um mich herum. Zu viel, zu schnell, zu laut. Daher habe ich jetzt kein „Trauma der Isolation“; ich leide nicht darunter, dass ich mich nicht mit Menschen treffe. Ich bedauere nicht, dass die Kinos geschlossen sind, es ist mir gleichgültig, dass die Shopping-Malls außer Betrieb sind. Es sei denn, ich denke an all jene, die dort jetzt ihren Arbeitsplatz verloren haben. Als ich von der präventiven Quarantäne hörte, verspürte ich eine Art von Erleichterung, und ich weiß, dass viele ähnlich empfinden, auch wenn sie sich dessen schämen. So hat meine Introversion, die lange unter dem Diktat hyperaktiver Extrovertierter gelitten hatte, ja fast erstickt worden war, den Staub abgeschüttelt und ist aus dem Keller hervorgekommen.

 

Berlin im November 2020.

 

Durch das Fenster sehe ich meinen Nachbarn, einen überarbeiteten Juristen. Bis vor kurzem sah ich ihn immer morgens, wie er mit der Robe über dem Arm ins Gericht fuhr. Jetzt steht er in einem sackförmigen Trainingsanzug im Garten und müht sich mit einem Ast; offenbar will er aufräumen. Ich sehe ein junges Paar, wie es seinen alten Hund ausführt, der kaum noch laufen kann. Der Hund schwankt hin und her, und die jungen Menschen begleiten ihn geduldig und gehen so langsam wie möglich. Derweil holt die Müllabfuhr mit großem Lärm den Müll ab.

Das Leben geht weiter, na klar doch, aber in einem ganz anderen Takt. Ich habe den Schrank aufgeräumt und die gelesenen Zeitungen zum Papiercontainer gebracht. Ich habe die Blumen umgetopft. Ich habe das Fahrrad von der Reparatur abgeholt. Freude bereitet mir das Kochen. Immer wieder tauchen Bilder aus der Kindheit in mir auf, als es viel mehr Zeit gab und man sie „verschwenden“ durfte, indem man stundenlang aus dem Fenster schaute, die Ameisen beobachtete, unter dem Tisch lag und sich vorstellte, er sei eine Arche. Oder indem man die Enzyklopädie las. Ist es nicht so, dass wir zum normalen
Lebensrhythmus zurückgekehrt sind? Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war? Schließlich hat der Virus uns ins Gedächtnis gerufen, was wir so leidenschaftlich verdrängt hatten: dass wir fragile Wesen sind, gebaut aus der zartesten Materie. Dass wir sterben, dass wir sterblich sind.

Dass wir von der Welt nicht durch unser „Menschentum“ und unsere Außergewöhnlichkeit geschieden sind, sondern dass die Welt eine Art großes Netz ist, in dem wir hängen, mit anderen Wesen durch unsichtbare Fäden von Abhängigkeit und Einfluss verknüpft. Dass wir voneinander abhängig sind und dass wir ganz gleich, aus wie fernen Ländern wir stammen‘, welche Sprache wir sprechen und welches unsere Hautfarbe ist -genauso krank werden, genauso Angst haben und genauso sterben. Es hat uns klargemacht, dass – ganz gleich, wie schwach und wehrlos wir uns angesichts der Gefahr fühlen – Menschen um uns herum sind, die noch schwächer sind und die Hilfe brauchen. Es hat uns in Erinnerung gerufen, wie zart unsere alten Eltern und Großeltern sind und wie sehr sie unsere Fürsorge verdient haben. Das Virus hat uns gezeigt, dass unsere fieberhafte Mobilität die Welt bedroht. Und es hat die Frage aufgerufen, die wir uns nur selten zu stellen wagten:
Was suchen wir eigentlich?

 

 

Die Angst vor der Krankheit hat uns also von unserem verschlungenen Weg zurückgeführt und uns daran erinnert, dass es Nester gibt, aus denen wir stammen und in denen wir uns sicher fühlen. Und selbst wenn wir die größten Weltreisenden wären – in einer Lage wie dieser werden wir immer zu einer Art von Zuhause streben. Damit haben sich uns auch traurige Wahrheiten offenbart: dass im Augenblick der Gefahr das Denken in abschließenden und ausgrenzenden Kategorien zurückkehrt, in den Kategorien von Völkern und Grenzen.

In diesem schwierigen Augenblick zeigte sich, wie schwach die Idee einer europäischen Gemeinschaft in der Praxis ist. Die EU hat im Grunde kapituliert und es den Nationalstaaten überlassen, in dieser Krisenzeit Entscheidungen zu fällen. Die Schließung der Grenzen halte ich für die größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten; zurückgekehrt sind die alten Egoismen und die Kategorien „eigen“ und „fremd“, jenes also, was wir in der Hoffnung bekämpft hatten, dass es nie wieder unser Denken formatieren würde. Die Angst vor dem Virus hat automatisch die einfachste, atavistische Überzeugung wachgerufen, ,,Fremde“ seien schuld und sie würden immer Gefahren mitbringen. Nach Europa kam das Virus „von außen“, es ist nicht unser, es ist fremd. In Polen gerieten alle in Verdacht, die aus dem Ausland heimkehrten.

Die vielen Grenzen, die zugeknallt wurden, und die riesigen Schlangen an den Grenzübergängen waren sicher für viele junge Menschen ein Schock. Das Virus erinnert uns: Die Grenzen existieren weiter, es geht ihnen gut. Ich fürchte, das Virus wird uns noch eine andere alte Wahrheit in Erinnerung rufen: wie sehr wir einander nicht gleich sind. Die einen unter uns werden mit ihrem Privatflugzeug in ihr Haus auf der Insel fliegen oder in der Einsamkeit des Waldes sein können. Andere werden in den Städten bleiben, um Elektrizitätswerke und Wasserleitungen am Laufen zu halten. Wieder andere werden bei der Arbeit in Läden und Krankenhäusern ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Die einen werden an der Epidemie verdienen, die anderen werden ihre Ersparnisse verlieren. Die nahende Krise wird wahrscheinlich die Spielregeln, die uns so stabil erschienen, außer Kraft setzen; viele Staaten werden mit der Krise nicht fertig werden, und aufgrund ihrer Auflösung wird eine neue Ordnung zum Leben erwachen, wie es nach Krisen oft der Fall ist.

 

 

Wir sitzen zu Hause, lesen Bücher und schauen Serien, aber in Wirklichkeit bereiten wir uns auf die Schlacht um eine neue Wirklichkeit vor, die wir uns noch nicht einmal vorstellen ‚können; nur beginnen wir langsam zu begreifen, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Die Zwangsquarantäne und die Kasernierung der Familie im Haus kann uns bewusst machen, was wir nur ungern zugeben würden: dass die Familie uns auf die Nerven geht, dass das Band der Ehe längst zerbröselt ist. Unsere Kinder werden die Quarantäne als Internet-Abhängige verlassen, und vielen von uns wird die Sinn- und Nutzlosigkeit der
Lage klar werden, in der sie rein mechanisch, aufgrund der Trägheit der Masse, stecken. Und was wird mit uns sein, wenn die Zahl der Morde, Selbstmorde und psychischen Krankheiten zunimmt?

Vor unseren Augen verfliegt, verraucht in Paradigma der Zivilisation, das uns über die letzten zweihundert Jahre geformt hat. Es lautete: Wir sind die Herren der Schöpfung, wir können alles, und die Welt gehört uns. Jetzt kommen neue Zeiten.“

Olga Tokarczuk. Nobelpreisträgerin für Literatur. „Die Jakobsbücher“. „Ein geniales literatisch-philosophisches Großwerk.“ Iris Radisch, Die ZEIT.

Born in the USA

„They are very good people“, twitterte der Präsident der Vereinigten Staaten, als im Frühjahr hochgerüstete „Proud Boys“ das Capitol von Michigan stürmten. Anfang Oktober 2020 zerschlug das FBI eine Verschwörergruppe und nahm dreizehn selbsternannte Kämpfer fest. Die Michigan-Milizien wollten Gretchen Widmer, die demokratische Gouverneurin von Michigan, entführen, um die Macht zu übernehmen. Der Vorwurf: Widmer begehe „Verrat an den USA“, weil sie einen harten Kurs in der Corona-Pandemie fährt. Präsident Trump schürt auch nach deren Verhaftung das Feuer weiter. „Ihr müsst eure Gouverneurin dazu bringen Euren Staat zu öffnen“. Seine Anhänger antworteten mit einem Trump-Slogan aus dem Wahlkampf 2016: „Sperrt sie ein!“ Trump ergänzte die Sprechchöre mit einem: „Sperrt sie alle ein!“

 

 

Die USA im Herbst 2020. Ist Trump die Stimme des wahren Amerikas? Um Gottes willen, antwortet Bruce Springsteen, er ist „ein krimineller Clown, der den Thron gestohlen hat“. Das bleibe er trotz seiner 63 Millionen Wähler, von denen viele Trump bis heute wie einen Heiland verehren. Der US-Präsident füttert in seinem Dauerfeuer von mittlerweile über 50.000 Tweets das Amerika der kleinen Leute, die von „Eliten“ und „Feinden des Volkes“ – den Medien – verraten worden seien. Dieses Heer der Hoffnungslosen besingt seit Jahrzehnten keiner erfolgreicher als Bruce Springsteen. In diesen aufgeputschten Tagen hat er mit seinem neuen Album Letter to you ein leises, nachdenkliches Statement abgegeben.

Als wolle der 71-jährige die Zeit zurückdrehen, beschwört der Mann aus New Jersey die gute alte Zeit der siebziger und achtziger Jahre. Er gräbt sich in die Seele seiner verunsicherten Landsleute und beschwört den Mythos von ehrlichen, fleißigen Frauen und Männern, die hart schuften aber mehr nicht länger betrogen werden wollen. Wie ein Pfarrer am Sonntagmorgen zelebriert er die Messe vom Lonesome Rider, der den Halunken und Gaunern trotzt. Bruce: „Alles, was ich aus schweren Zeiten und guten gelernt habe, habe ich mit Tinte und Blut niedergeschrieben – und es als Brief an euch geschickt.“

 

Letter to you erzählt von Jugend und Rebellion, Verlust und Vergänglichkeit. In der kleinen Episode in The Last Man Standing geht es um seine Schulband Castiles, die auf verlorenem Posten steht aber nie aufgibt. Die Beschwörung des amerikanischen Traums. Der nette Kerl von nebenan, der es am Ende schafft. Bruce selbst staunt über seinen phänomenalen Aufstieg zur Stimme des anderen Amerikas. „Vor euch steht ein Mann, der irren und absurden Erfolg damit hatte, über Sachen zu schreiben, von denen er absolut keine Ahnung hat. Ich habe alles erfunden … so gut bin ich.“

 

 

Letter to you ist der aktuelle Soundtrack des besseren Amerikas. Eine Hymne an vergangene Zeiten, als das Land für Freiheit, Fortschritt und Demokratie stand. Wird es jemals wieder so werden? Das Album ist wohltuend in Zeiten, in denen Demagogen rund um die Uhr ihr Hexengebräu aus Hass und Lügen als Allheilmittel verabreichen. Bruce tells the truth. Ob ihm mehr zugehört wird als den Scharfmachern im Weißen Haus oder anderswo in den Verfeindeten Staaten von Amerika?

Lachen über A.

New York. Große Kino-Premiere in Manhattan an einem Herbstabend Mitte Oktober 1940. Auf der Leinwand erscheint „Der große Diktator“. Charlie Chaplins erster Tonfilm überhaupt. Die Hitler-Parodie wird ein Kassenmagnet. Zwar mäkeln einige Kritiker, der Zweistundenfilm sei an manchen Stellen zu kitschig geraten. Doch die Verwechslungskomödie vom kleinen Friseur Anton Hinkel und dem großen Diktator A.H. trifft den Nerv in einer Zeit, in der Hitler in Europa von Sieg zu Sieg eilt. Chaplins Meisterwerk spielt im Tomanischen Reich. Mit dabei sind Gorbitsch-Goebbels und der dicke Hering-Göring. Diktator Hinkel benutzt am liebsten sein Schimpfwort „Schtonk“. Demokratie ist Schtonk! Liberty ist Schtonk! Free Sprecken ist Schtonk!

 

Der Große Diktator wird 80. Original Filmplakat von 1940.

 

Perfektionist Chaplin sagte über seinen Film für den er viele Klinken putzen musste und vor dem konservative Kreise warnten: „Das Lustigste auf der Welt kann für mich sein, Angeber und Wichtigtuer in hohen Stellungen lächerlich zu machen. Je größer der Angeber ist, an dem man arbeitet, desto besser stehen die Chancen für einen lustigen Film – und es wäre schwierig, einen anderen Angeber vom Kaliber Hitlers zu finden.“

Die bewegende Schlussrede im Film hält folglich der falsche Hitler, der kleine jüdische Friseur Hinkel aus Wien. „Nur wer nicht geliebt wird, hasst“, setzt er vor verdutzten Parteigenossen an und steigert sich zu einem flammenden Plädoyer für Demokratie und Menschenrechte. Friseur Hinkel bedeutet Menschlichkeit einfach entscheidend mehr als Macht. So erobert er – natürlich – das Herz seiner geliebten Hannah. Coldplay hat übrigens Chaplins Rede für den Song A Head Full of Dreams neu interpretiert.

 

 

Hitler und Chaplin sind beide im April 1889 geboren. Hitler trug seinen Schnauzer ähnlich wie Chaplins Filmfigur des Tramps. Das mag Zufall gewesen sein, diese Manneszierde war in den Zwanzigern modischer Zeitgeist. Das war es aber auch mit den Gemeinsamkeiten. Hitlers Kampfblatt „Stürmer“ hetzte bereits 1926 gegen den britischen Komiker und behauptete Chaplin sei Jude. „Seine Handlungen sind die eines Tagediebes, der immer wieder mit den Gesetzen in Konflikt kommt.“ Eine reine Propagandalüge. Chaplin war nie Jude. Als der Weltstar im März 1931 Berlin besuchte, organisierten Nazis  Anti-Chaplin-Demonstrationen.

 

Charlie Chaplin vor dem Reichstag in Berlin. März 1931

 

Hitler soll den Film angeblich zweimal angefordert haben. Belegt ist das nicht, aber eine andere Anekdote. Titos Partisanen tauschten im besetzten Jugoslawien einen deutschen Propaganda-Film in einem Wehrmachtskino gegen eine Chaplin-Kopie aus. Offiziere stoppten nach der Hälfte den Großen Diktator und drohten, den Filmvorführer zu erschießen. Im Nachkriegs-Deutschland kam „Der große Diktator“ erst 1958, dreizehn Jahre nach Kriegsende,  in die Kinos. Charlie Chaplin musste sich zeitlebens gegen Vorwürfe wehren, er habe Hitlers Verbrechen verharmlost: „Hätte ich von dem Grauen in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte ‚Der große Diktator‘ nicht machen können.“

 

 

Mehr in „Das Charlie Chaplin Archiv“. Herausgegeben von Paul Duncan.

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„Mein Herz ist ein Automat aus Blech“

Eine junge Frau wartet auf den Zug. Am Bahnsteig lockt sie ein Snackautomat. Sie sucht nach Münzen. Plötzlich springt ihr Zwillingsbruder vor den einfahrenden Zug. Das Einstiegsszenario für Olivia Wenzels Debut 1000 Serpentinen Angst. Mit Vollgas und Wumms legt sich die Autorin in die Kurven, rast um die Welt. Von ihrer Heimat Thüringen über Berlin, Vietnam bis nach New York. Ihr Road Movie erzählt von der wilden Reise einer jungen Ostdeutschen auf der Suche nach dem kleinen und großen Glück. „Ich komme aus einer Familie, in der die Idee, sich so weit wie möglich von sich selbst zu entfernen, übertrieben romantisiert wurde“.

Die junge Glücksucherin ist Kind einer DDR-Punkerin und eines Angolaners. Die Mutter wird in den Achtzigern nach der Geburt ihrer Zwillinge verhaftet. Warum? Um „ihre Bürger paranoid zu machen. Wasserzelle, Einzelhaft, Gruppenisolierung im lichtlosen Keller, langes Stehen bei Schnee im Hof, gezielte Mangelernährung … wegen ein paar Flugblättern. Oder wegen einem Punkkonzert in einer Kirche“.

 

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020. Nicht in die Endrunde geschafft. Egal. Das Buch hat Wumms.

 

Der Vater verkrümelt sich, meldet sich maximal ein bis zweimal im Jahr. Als Kind wünscht sich die Tochter nichts sehnlicher als eine Creme, die „mich über Nacht weiß machen würde“. In der Heimat ihres Vaters heißt sie „Kokosnuss“. Außen braun, innen weiß. Ein Halt bleibt Oma Rita aus dem kleinen thüringischen Heimatdorf, deren Leben aus Arztbesuchen und Fernsehsendungen besteht.

 

 

Olivia Wenzel erzählt von Ängsten und Sehnsüchten der Generation Smartphone. „Alle dreißig Minuten schalte ich mein Handy ein, um nachzusehen, ob mich irgendjemand nicht erreicht hat, streame Kinderserien und Romcoms, harmloser Input für den verhärmten Körper“. Einziger kleiner, feiner Unterschied. Ihre Heldin ist schwarz – wie sie. Anders sein ist Alltag, ständig Blicken ausgeliefert zu sein. Manchmal erlebt sie Gewalt und Diskriminierung. Let´s talk about race. Was wäre wenn … überlegt Olivia einmal … wenn weiße Frauen in Büros putzen müssten, in denen gutverdienende, schwarze Hipster über neueste Netflix-Serien plaudern.

1000 Serpentinen Angst erzählt souverän und witzig über das Erwachsenwerden. Olivia Wenzel ist jung, schwarz und ostdeutsch. Der Stoff, aus dem sie schöpft. Auch ihre Motivation, da sie es leid ist, Sprüche wie – hat es bei dir letztens gebrannt?- kommentarlos stehen zu lassen. Im Buch träumt sie einmal von einem „völlig unambitionierten Miteinander“. Was wäre, wenn … „vielleicht eines Tages mein Kind, meine Großmutter, meine Mutter und ich auch so zusammensitzen würden“. Ohne Angst, ohne Vorurteile, ohne Mobbing. Auch wenn die Thüringen-Oma wieder das letzte Wort hätte: Kindchen, was hast Du jetzt schon wieder zu meckern?

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„Weltaugenblick“

Berlin in einer kalten Januarnacht 1919: „Abends in einem Kabarett in der Bellevue Straße. Rassige spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuss hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das großstädtische Leben“. Schüsse und Straßenschlachten betrachten die feierwütigen Bohemiens allenfalls als lästige Störung, „wie wenn ein Elefant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt“, notiert der Gesellschaftsbeobachter Harry Graf Kessler Anfang der zwanziger Jahre.

Exakt vor hundert Jahren am 1. Oktober 1920 lernt Groß-Berlin – wie wir es heute kennen – das Laufen. Acht selbständige Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke sind per Gesetz zusammengeschlossen worden. Über Nacht katapultiert sich diese Ansammlung von märkischen Dörfern zur drittgrößten Metropole der Welt nach New York und London. Für den neuen Einheitstarif von 20 Pfennige geht es nun durch die neue Riesenstadt, von Spandau bis nach Köpenick. Von Elendsquartieren im Wedding bis hinaus zu den Luxusvillen im Grunewald. So viel Neuanfang in Berlin. Der Tanz auf dem Vulkan beginnt trotz Kriegsniederlage, Inflation, Streiks, Massenarmut und einer wütenden Spanischen Grippe, die in der Stadt Hunderttausende wegrafft.

 

Berlin 1920. Unter der Reichskriegsflagge versammeln sich Gegner der neuen Republik.

 

Der Kaiser hat abgedankt. Die Hauptstadt der neuen Republik gleicht einem brodelnden Kessel. „Babylon Berlin“ produziert täglich einen Overkill an Kunst, Kultur, Vergnügen, Demos und Druck. Tempo, Tempo, aus dem Weg, heißt die Devise. Wer sich durchsetzen will, braucht Einfallsreichtum und das Glücksmoment des richtigen Augenblicks. Die Zwanziger werden das „Jahrzehnt Berlins“. Im Kessel ist Dampf und wie ein Chronist notiert: „Wer den Kessel heizte, sah man nicht; man sah ihn nur lustig brodeln und fühlte die immer stärker werdende Hitze. An allen Ecken standen Redner. Überall erschollen Hassgesänge. Alle wurden gehasst: die Juden, die Kapitalisten, die Junker, die Kommunisten, das Militär, die Hausbesitzer, die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Schwarze Reichswehr, die Kontrollkommissionen, die Politiker, die Warenhäuser und nochmals die Juden. Es war eine Orgie der Verhetzung, und die Republik war schwach, kaum wahrnehmbar.“

 

Otto Dix. Salon. 1927

 

Anfang der Zwanziger Jahre zeigen in der Stadt 328 Kinos neueste Filme. 23 Theater mit über 1.000 Plätzen konkurrieren um das amüsierfreudige Publikum. 1925 zählt die Hauptstadt 928 Verlage und 1.879 Buchhandlungen. Was bedeutet das? Auffallen um jeden Preis. Ob Theater, Tanz, Film, Revue oder Swing, Hauptsache es ist modern, „glänzt und spritzt“, wie es Alfred Döblin („Berlin-Alexanderplatz“) so schön ausdrückt. Sein Schriftstellerkollege Canetti, der spätere Nobelpreisträger legt in seiner Fackel im Ohr noch eins drauf: „Jeder einzelne, der etwas war, und viele waren etwas, schlug mit sich auf die anderen los.“

 

George Grosz. Prostituierte und Pleitegeier.

 

„Hure Babylon“ zetern verwirrte Konservative und entsetzte Nationalisten. Und doch gehen viele abends in Kaschemmen und Tingeltangel-Theater. Legendär ist die Figur des Professors Unrat, der sich im „Blauen Engel“ an der feschen Lola Marlene Dietrich gehörig die Finger verbrennt. Nie zuvor und nie danach ist die Stadt so wichtig für die Künste. Zwischen 1919 und 1932 erlebt Berlin „ihren Weltaugenblick als Stadt der Künstler und Zentrum der ästhetischen Moderne“, notiert Jens Bisky in seiner wunderbaren Berlin-Biografie.

 

 

In diesen Tagen könnte „Groß-Berlin“ seinen hundertsten Geburtstag feiern. Könnte. Mit Staatsakt und Feuerwerk. Doch Corona vermasselt die Party. Was bleibt? Der schillernde Babylon-Mythos überlebte Kriege, Nazi-Katastrophe, Trümmer, Mauer und neue Blüte als Start-up-Hipster-Hotspot. Berlin bleibt ein Sehnsuchtsort für alle, die ihr Leben selbst definieren. Der Preis? Jede und jeder braucht ein dickes Fell in einer Stadt, in der eine überforderte Verwaltung und gestresstes Führungspersonal Normalzustand waren und sind.

Nichts funktioniert richtig und doch wollen so viele nach Berlin.

Die Hauptmänner von Köpenick

Die Stufen zum imposanten Rathaus Köpenick hinauf. „Wo wollen Sie hin?“ schnarrt es aus der Pförtnerloge. „Zum Hauptmann.“ – „Dann tragen Sie sich mal ein. Name, Adresse. Beginn und Ende des Besuchs!“ hallt es preußisch-knapp durch die Lobby. Ohne Formular geht nichts. Nicht in Corona-Zeiten, nicht in Köpenick. Wenn die Formalitäten erledigt sind, darf der Besucher – „den Gang rein, dann rechts rum!“ – zwei kleine Ausstellungsräume besuchen. Es lohnt sich.

Über den Schuhmachergesellen und „Berufsverbrecher“ Wilhelm Voigt ist Spannendes zu erfahren. Über seinen „Geniestreich“ vom Herbst 1906. Als er das kaiserlich-militärische Berlin vorführte, mit seinem Uniformtick, dem Prinzip „Befehl ist Befehl“ und Kadavergehorsam bis in die Haarspitze. So eroberte der falsche Hauptmann die Stadtkasse.

Die erste Kinoverfilmung von 1931.

 

 

Wilhelm Voigt aus Tilsit war der geborene Verlierer. Die Hälfte seines Lebens saß er wegen kleiner Betrügereien hinter Gittern. „Ick hab im Knast Fußmatten hergestellt, auf der alle rumtrampeln“, sagte er einmal. Als er 1906 mal wieder entlassen wird, bekommt er keinen Ausweis. „Ohne Pass keine Arbeit, keine Arbeit ohne Pass! Das Leben ist wie eine Kaffeemühle. Du wirst ständig im Kreise durchgemahlen“, verzweifelt Voigt. Was bleibt ihm? Er braucht einen Pass. Er organisiert eine Offiziersuniform, schnappt sich in der Jungfernheide eine Handvoll Rekruten. Mit denen fährt er raus nach „Cöpenick“, damals noch mit C geschrieben.

 

Das Objekt der Begierde des Schusters Voigt. Die Stadtkasse von Köpenick.

Die Truppe besetzt das Rathaus. Einen Pass gibt es nicht. Also beschlagnahmt Voigt die Stadtkasse mit 4.000 Reichsmark. Er quittiert den Betrag, bemängelt jedoch, dass „37 Pfennige nicht ordnungsgemäß“ verbucht seien. Er setzt Bürgermeister und Stadtkämmerer fest, genießt im Ratskeller „Süsskotelett mit Molle“, beschlagnahmt sechs Zigarren à 30 Pfennige. Der Coup gelingt ohne schriftlichen Befehl. Die Uniform reicht. „Jawoll, Herr Hauptmann!“ Natürlich fällt die Eulenspiegelei bald auf. Da Schadenfreude wohl die schönste aller Freuden ist, lacht die ganze Welt über die „Köpenickiade“. Eine Legende wird geboren.

 

Die Akte „Wilhelm Voigt“. Selbsternannter „Hauptmann von Köpenick“.

 

Seit vielen Jahren mimt der Schauspieler Jürgen Hilbrecht den „Hauptmann von Köpenick“. Über 7.500 Mal hat der 77-jährige den Schuster Voigt mittlerweile zum Leben erweckt. Jeden Sonnabend um 11 Uhr im Rathaus-Innenhof. Eine Touristenattraktion. Jetzt pausiert er. Denn der Schauspieler hatte in seinem Leben eine weitere Rolle übernommen. Viele Jahre diente er am Theater in Brandenburg/Havel als IM, als Informant der DDR-Staatsmacht. Er berichtete unter seinem Spitznamen „Hilli“ von einer „zehnköpfigen Oppositionsgruppe mit sozialismusfeindlichen Ansichten “. Von diesem Kollegenkreis fühlte er sich gemobbt. Hilbrecht spielte damals den Faust. Nach der Wende fand er im Hauptmann von Köpenick seine Paraderolle. Dafür erhielt er sogar einen Orden. Wann spielt er wieder?

Wenn der Besucher die lehrreiche Ausstellung verlässt, ist die „korrekte Zeit des Verlassens“ beim Pförtner mitzuteilen. Dabei kann ein Fahndungsplakat der Polizei nicht übersehen werden. Gesucht wird der flüchtige Jan Marsalek, wegen „gewerbsmäßigen Bandenbetruges in Milliardenhöhe“. Marsalek war Vorstandsmitglied des Betrugsunternehmens Wirecard AG. Einer der vielen modernen Hauptmänner von Köpenick.

 

Gesucht! Internet-Betrüger Jan Marsalek. Vorstandsmitglied Wirecard AG.

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Görlitzer Blütenträume

Juni 1989. Der Bus rast durch die Straßen von Görlitz. Ein schwarz-weißer Streifen aus Gebäuden, Gassen und Plätzen huscht am Fenster vorbei. Hier abgestützte Balkone, dort ein gesperrter Straßenzug. Soll hier ein Kriegsfilm gedreht werden? Der Fahrer drückt auf die Tube. Das Ziel des Reisebusses mit seiner Ladung Journalisten an Bord ist die Stadthalle von Görlitz. Wie ein schwarzer Riese wartet der Jugendstilpalast am Ufer der Neiße. Ich bin Teil einer PR-Fahrt der DDR-Regierung, die stolz ihre „einseitigen Abrüstungsschritte“ in Görlitz verkünden will.

Um nichts Geringeres als den Weltfrieden geht es an diesem warmen Frühsommernachmittag. Die Medienmeute wird aus dem Bus komplimentiert. „Links rum, keine Sperenzchen, keine Extrawurst“, ruft der Aufpasser vom Internationalen Pressezentrum der DDR. Im Gänsemarsch eilen wir zu dem großen grauen Klotz. Wir, das sind ungefähr zwanzig westliche Korrespondenten von Presse, Funk und Fernsehen, die aus der DDR berichten. Internet übrigens konnten wir damals noch nicht einmal buchstabieren.

 

 

Im Innern des Saals sind große Transparente angebracht. „Friedensstaat DDR“ ist zu lesen. Dazu Blumenschmuck und ein Rednerpult. Wir werden eingewiesen. Nicht zu unterdrücken ist eine aufsteigende strenge Duftnote aus Schweiß und Gülle. Ein DDR-Offizier in schmucker Uniform erklärt, mehrere hundert Panzersoldaten der NVA seien in die Reserve entlassen und erste Kampftechnik abtransportiert worden. Ein anderer Redner betont, diese „Maßnahme“ beweise die Überlegenheit des Sozialismus. Man sei gespannt wie der Imperialismus auf die Friedensoffensive reagiere. Im Saal verteilt sich ein penetranter Geruch wie in der Bedürfnisanstalt .

Als ich mich nach Ansprachen und Militärmusik zu den Toiletten in die Katakomben begebe, schlägt mir die Quelle der Duftwolken entgegen. Bereits auf dem Weg zu den Toiletten stinkt es zum Himmel. Hier hat die DDR noch eine wichtige Zukunfts-Aufgabe vor sich, überlege ich bei der Rückfahrt im Bus, der mit überhöhter Geschwindigkeit die traditionsreiche sächsische Perle wieder verlässt. Uns sollte wohl der Anblick des Verfalls einer Stadt nicht zugemutet werden. Kein halbes Jahr später löst sich der „Friedensstaat“ selbst auf. Das Ende von potemkinschen Dörfern und Städten in den Farben der DDR.

Görlitzer Stadthalle. 1910 eingeweiht. Seit 2005 Leerstand.  Foto: Wikipedia

 

Und heute? Die einst prächtige Stadthalle, Ausdruck des Bürgerstolzes von Görlitz steht seit vielen Jahren leer. Der schwarze Kasten an der Neiße aus der Zeit des Kaiserreichs wirkt wie ein vergessenes Fossil. Görlitz kann sich zur Rettung des Konzerthauses aus dem Jahre 1910 nicht durchringen, heißt es. Zu groß, zu teuer, zu riskant. Droht das Ende eines traditionsreichen Hauses mit wechselvoller Geschichte und der weltweit einzigen Konzertorgel aus der Zeit des Jugendstils?

 

Stadthalle von Görlitz 1959. In der DDR ein „Kessel Buntes“ mit Boxkämpfen, Blumenschauen, Konzerten und Parteiveranstaltungen. Foto: Bundesarchiv

 

In diesem Saal für fast 2.000 Zuschauer traten weltbekannte Künstler wie Wilhelm Furtwängler mit seinen Philharmonikern auf. Hier verabschiedete die SPD ihr „Görlitzer Programm“ für die neue Weimarer Republik. Sie dauerte nur vierzehn Jahre. Hier predigte Anfang März 1945 Joseph Goebbels gegen den Untergang seines Systems an. Es sollte seine letzte öffentliche Rede werden. Eine gespenstische Veranstaltung. Goebbels peitscht die Menge auf. „Wir werden in diesen Kampf hineintreten wie in einen Gottesdienst.“ Die NS-Wochenschau vom März 1945 versucht in Nahaufnahmen entschlossene Volksgenossen einzufangen. Keine zwei Monate nach diesem bizarren Auftritt in Görlitz geht das Dritte Reich unter.

Was wird? Reifen neue Blütenträume?

Keiner weiß, ob es in Zukunft wieder Bälle, Boxkämpfe und Blumenschauen, Konzerte und Politinszenierungen geben wird, die vom Zukunfts-, Friedens- oder Durchhaltewillen künden. Damals beschlich mich in Görlitz ein merkwürdiges Unbehagen, diese krude Mischung aus lauter, dröhnender Propaganda und hartnäckigen Ausscheidungen aus dem Untergrund der Halle. Wenn Wände reden könnten, hätte der graue Jugendstilpalast viel zu erzählen.

Für 2025 ist die Wiedereröffnung geplant. Oder später. Aber vielleicht auch nie. In der Stadthalle von Görlitz sind schon viele Blütenträume geplatzt.

Halleluja

„Es ist ein guter Song, aber er wird von zu vielen Leuten gesungen“, sagte einmal Leonard Cohen. Allerdings verspüre er ein gewisses Gefühl von Genugtuung, weil er sich genau daran erinnern könne, dass seine US-Plattenfirma den Song nicht veröffentlichen wollte. „Sie dachten, er sei nicht gut genug.“ Nachdem der kanadische Singer-Songwriter Leonard Cohen (1934-2016) seinen Jahrhundertsong 1984 veröffentlichte, sind viele hundert Cover- oder Instrumentalversionen erschienen.

Die bekanntesten Halleluja-Covers kommen von Jeff Buckley, Rufus Wainwright und der A-Capella-Formation Pentatonix. Zu den zahllosen Musikern, die Halleluja in ihr Repertoire aufnahmen, gehören Annie Lennox, Sheryl Crow, Willie Nelson, Bon Jovi, Wir sind Helden, Paramore, Bono, Popa Chubby, Amy Macdonald, Lindi Ortega, Kinderstar Nora Foss Al-Jabri, Opernsängerin Renée Fleming, Danii Minogue, Pain of Salvation und – logisch – auch die deutsche Schlager-Königin Helene Fischer. Da darf natürlich eine Version auf Kölsch nicht fehlen. Zum Einstimmen eine funkige Interpretation von Judith Hill.

 

 

Auf Hochzeiten gehört Halleluja angeblich zu den meist gespielten Liedern. Vermutlich hat der Blockbuster „Shrek“ (2001) die Halleluja-Hymne im Soundtrack bis in die letzte Dorfkirche gespült. Ob Cohens Halleluja gespickt mit Fragen und Zweifel glückliche Ehen stiften kann, wird ein Geheimnis bleiben. Eher ist anzunehmen, dass nur wenige den eigentlichen Text kennen. Wer sich heutzutage traut, nimmt ein mögliches Scheitern „der Ehe bis an das Ende ihrer Tage“ wahrscheinlich sowieso stillschweigend in Kauf. Halleluja heißt übrigens  aus dem Hebräischen übersetzt „Lobet den Herrn“.

Cohens Urtext beschäftigt sich mit König David aus dem Alten Testament. Die äußerst eingängige Melodie mit Subdominante, Dominante wird „runter auf Moll und hoch zu Dur“ für einen „verwirrten König“ gespielt. Leonard Cohen hat seinen Text vielfach verändert und umgeschrieben. In den Neunzigern ließ er Bibelverweise einfach weg. „Vielleicht gibt`s ja einen Gott da oben“, fragt der Kanadier mit wachsendem Zweifel. Am Ende bleibt ein typischer Cohen Song – „ein kaltes und ein gebrochenes Halleluja“. Was für ein Sänger, was für ein großartiges Lied.

 

 

„Ich hörte, es gab einen geheimen Akkord,

den David spielte und der Gott gefiel.

Aber du scherst dich nicht wirklich um Musik – oder?

Also, es geht so: die Subdominante, die Dominante,

runter auf Moll und hoch zu Dur,

der verwirrte König komponiert Halleluja.

 

Dein Glaube war stark, aber du brauchtest einen Beweis.

Du hast gesehen, wie sie auf dem Dach ein Bad nahm.

Ihre Schönheit im Mondlicht überwältigte dich.

Sie hat dich an den Küchenstuhl gefesselt,

hat deinen Thron zertrümmert,

Deine Haare abgeschnitten.

Und deinen Lippen entlockte sie das Halleluja.“ (…)

 

 

Vielleicht gibt’s ja einen Gott da oben.

aber alles, was ich je von der Liebe gelernt habe, war,

wie ich jemanden erschieße, der schneller die Waffe zieht..

Und es ist kein Rufen, das du des Nachts hörst.

Es ist nicht jemand, der das Licht sah,

es ist ein kaltes und ein gebrochenes Halleluja.“

 

Originaltext Leonard Cohen.

Deutsche Übersetzung  Christian Bruns

Pulverfass Beirut

Rumms machte es, als 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat Anfang August 2020 in Beirut in die Luft flogen. Die Detonationswolke erinnerte viele an die erste Nuklearexplosion von Hiroshima, fast auf den Tag genau vor 75 Jahren. Apokalypse Beirut. Die Detonation war ein wirtschaftlicher, politischer und moralischer Super-GAU. Nach wie vor sind rund 300.000 Menschen obdachlos – in einem Staat, der längst dem Abgrund entgegentaumelt.  Warlords und räuberische Kaufleute regieren mit eiserner Hand das einst blühende Land im Nahen Osten. Jahrzehntelanger Bürgerkrieg, Korruption und Wirtschaftskrisen nehmen dem  Libanon jede Luft zum Atmen. Als „Krönung“ nun die apokalyptische Explosion in Halle 12, wahrscheinlich Folge unglaublicher Schlamperei. Der Hafen von Beirut ist der „Ground Zero“ auf dem Pulverfass Beirut.

 

Rasha Salti. Autorin, Kuratorin aus Beirut. Jahrgang 1969. Quelle: Twitter

 

„Wir Opfer, Zeuginnen und Alltagsmenschen werden ausnahmslos als Kollateralschaden angesehen“, schreibt Rasha Salti. Die 51-jährige Autorin mit Wohnsitz in Beirut und Berlin weiter: „Für unsere gewählten und ernannten Amtsträger, für unsere Sicherheitsbehörden, für feindliche Armeen und Führer, für Diplomaten, Bankenkonglomerate und globale Wirtschaftsführer sind wir ein Kollateralschaden ihres Strebens nach Macht und Kontrolle“. Opfer der Katastrophe forderten in ersten Fernsehinterviews voller Wut und Verzweiflung, „alle politischen Führer auf der Mülldeponie Normandy zu entsorgen“.

Autorin Salti setzt weiter auf die Zivilgesellschaft. Ihr Prinzip Hoffnung gegen Anarchie und Chaos: „Wir sind kein wehrloses, dumpfes Objekt von Verachtung, Zerstörung und Enteignung“. Salti ist nicht allein. Die Jugend begehrt auf. Mit dabei die libanesische Kultband Mashrou’ Leila. Die fünf Jungs, deren Bandname ungefähr „nächtliches Projekt“ bedeutet, sind unglaublich erfolgreich. In einigen arabischen Ländern verboten, sind deren Konzerte innerhalb kürzester Zeit auch ohne Werbung ausverkauft. „Kul mamnou’a marghoub“ heißt ein arabisches Sprichwort – „alles Verbotene ist begehrt“. Frontmann Hamed Sinno gilt als der„Freddy Mercury des Nahen Ostens“. Der Sänger ist offen schwul, ein absolutes Tabu-Thema in der arabischen Gesellschaft.

 

 

Ihre Lieder sind keineswegs hochpolitisch, aber es reicht schon auf offener Bühne von der Sehnsucht nach Liebe und Freiheit zu singen. Jede Anspielung wird verstanden. Gegründet hat sich die Band 2008 an der Amerikanischen Universität von Beirut: Hamed Sinno, Haig Papazian, Carl Gerges, Ibrahim Badr und Firas Abou Fakher jammten auf nächtlichen Sessions. Mitbegründer Firas Abou Fakher: «Es gab wenig arabische Musik, mit der wir uns als junge Erwachsene identifizieren konnten. Wir wollten innovative arabische Musik machen. Mit Texten über Dinge, die wir erleben und erfahren, aber über die man hier nicht spricht.»

Die Musiker sind nicht nur in ihrer Heimat Superstars. Weltweit haben Mashrou’ Leila allein auf Facebook weit über eine halbe Million Fans. Zu ihren Songs singt und tanzt eine junge, multi-nationale Fangemeinde, die in der Regel gar kein Arabisch versteht. Die Themen von Mashrou’ Leila sind universell. Sie streiten für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Für Toleranz und Menschenrechte, gegen Diffamierung und religiösen Fanatismus. Auch Autorin Rasha Salti gibt sich trotz der jüngsten Katastrophe von Beirut zuversichtlich. „Wir schreiben Geschichte, und wir werden unsere Zukunft schreiben.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“

Luft zum Atmen. Das ist wichtig für jeden einzelnen von uns. Egal wann, egal wo. Ob für die Kassiererin bei Lidl oder den Pfleger im Heim. Ob für den Zuwanderer aus Damaskus oder die Künstlerin in ihrer Kreativwerkstatt. Frei zu denken, frei zu reden, frei zu handeln. Frische Luft ist besonders wichtig in aufgeladenen Corona-Zeiten wie diesen. Wer will schon künstlich beatmet werden? Ein neues Phänomen zieht derzeit Kreise, das freiem Denken die Luft zum Atmen nimmt. Der Zeitgeist taufte es Cancel Culture. Was ist das? Wohin führt das?

„Cancel Culture“ ist ein Internet-Phänomen. Problematische oder missliebige Äußerungen werden via Twitter oder Facebook – oder was auch immer – kritisiert und die betreffende Person, besonders gerne Prominente im Netz „gecancelled“. Quasi von der Liste gestrichen, wie eine Zugverbindung. Die Person kommt an den digitalen Pranger, wird moralisch verurteilt und zum medialen Abschuss freigegeben. Ziel der Eskalation: Absage von Veranstaltungen und/oder abweichende Positionen verstummen zu lassen. Ist das nun Zensur oder politische Korrektheit? In letzter Konsequenz geschieht schleichend etwas noch perfideres. Selbst-Zensur. Sie ist viel effektiver als Zensur. Damit erstickt die politische Korrektheit am Ende jede Kreativität. Das ist die faustische Kraft, die das Gute will, aber das Böse schafft.

 

 

Der australische Sänger Nick Cave gilt als großer Grübler, Melancholiker und Untergangsprophet. Der in England lebende Kult-Musiker hat sich in die Cancel-Debatte aktiv eingeschaltet. Auf seiner Website beantwortet er Fragen seiner Fans. Er schreibt: „Barmherzigkeit ist ein Wert, der im Zentrum jeder funktionierenden und toleranten Gesellschaft stehen sollte. Barmherzigkeit erkennt letztendlich an, dass wir alle unvollkommen sind und ermöglicht uns so den Sauerstoff zu atmen – und uns durch unsere gegenseitigen Fehler in einer Gesellschaft geschützt zu fühlen. Ohne Gnade verliert eine Gesellschaft ihre Seele und verschlingt sich selbst.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“.  Die Original-Ausgabe. Nick Cave schrieb in den Achtzigern seinen ersten Roman in Berlin. Es geht darum, dass Menschen fürchten, was sie nicht verstehen.

 

Nick Cave weiß, wenn das Schicksal plötzlich mit voller Härte zuschlägt. Der Sänger verlor seinen Sohn Arthur. Der Junge stürzte mit fünfzehn Jahren von der britischen Steilküste, nachdem er mit einem Freund einen LSD-Trip ausprobiert hatte. Der Tod seines Sohnes hat ihn geprägt. Cave zitiert Bob Dylan. „Death is not the end“. Immer wieder testet Cave die Grenzen des Sagbaren aus. Auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Kern unserer Existenz. Seinen Roman „Und die Eselin sah den Engel“ schrieb er in den Achtzigern in Kreuzberg. Cave forschte nach den Gründen für die Unmenschlichkeit des Menschen zum Menschen. Dass sie fürchten, was sie nicht verstehen.

Über die neuen Internet-Kämpfe sagt Cave: „Die Weigerung der Cancel-Culture, sich auf unangenehme Ideen einzulassen, erstickt die kreative Seele einer Gesellschaft. Politische Korrektheit hat sich zur unglücklichsten Religion der Welt entwickelt. Ihr einst ehrenhafter Versuch, unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten, verkörpert nun all die schlimmsten Aspekte, die eine Religion zu bieten hat, und nichts von ihrer Schönheit, – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, die selbst der Fähigkeit zur Erlösung beraubt ist.“

 

 

Luft zum Atmen ist überlebenswichtig. Man braucht sie auch zum Denken.