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Mit dem Kopf durch die Wand

Wozu sind Menschen fähig? Wann verweigern sie sich? Eine alte Formel sagt: Vierzig Jahre Machterhalt sind ein einigermaßen verlässlicher Richtwert. Vierzig Jahre brauchte es, bis Moses sein Volk ins Gelobte Land führen konnte. Vierzig Jahre hielt das DDR-Versprechen einer neuen Gesellschaft, bis sie zusammenbrach. Seit über dreißig Jahren regieren die neuen Masters of the Universe. Die gutverdienenden Piloten des Turbo-Kapitalismus. Die smarten Chefs von Amazon bis Google. Auch sie versprechen eine bessere Welt.

 

Letzte stumme Zeugen. Ein versteckter Wachturm in Berlin-Köpenick im Sommer 2020. Ort: eine ehem. Ausbildungsstätte der Grenztruppen, heute ein Schrottplatz.

 

Die DDR sicherte ihr „Paradies“-Versprechen mit Hilfe von Mauern und einem hoch gerüsteten Apparat. In vierzig Jahren Grenze standen über 500.000 Deutsche in der Uniform der DDR-Grenztruppen. Wer waren diese Menschen? Wie denken Sie heute? – Sie hatten mit der Waffe den Schutzwall gegen Imperialismus, Revanchismus und Faschismus zu verteidigen. So verklärte die SED-Propaganda bis zum letzten Tage ihr Monument der Abschottung. Viele Familien in der DDR hatten Angehörige, die „an die Grenze“ mussten. Sie wurden nach der Wende Unternehmer, Verleger, Bürgerrechtler, Immobilienmakler, SED-Opferbeauftragter oder Ministerpräsident. Das Schweigen über ihre Grenz-Erfahrungen ist das einigende unsichtbares Band, das sie verbindet.

 

Gescheiterte Flucht mit Citroen im Mai 1989 am Grenzübergang Stolpe zu West-Berlin. Der 27-jährige Fahrer überlebte schwerverletzt und wurde festgenommen. Ein halbes Jahr später wird der Weg für alle frei. Quelle: BSTU

 

Nach Jahren der Recherche konnte ich das Vertrauen von einigen Ex-Grenzern gewinnen. Mich interessierte, wie die damals 18- bis 20-jährigen mit der Last ihrer Verantwortung umgingen. Denn das System überließ am Ende jedem einzelnen Soldaten ein folgenschweres Dilemma. Was tun, wenn plötzlich im Abschnitt jemand flüchten will? Schießen oder laufen lassen? Ein irrer Konflikt, der meine Gesprächspartner bis heute belastet. Ich lernte, dass einige aus Idealismus, andere aus Überzeugung, die allermeisten jedoch ängstlich und total gestresst ihre Zeit an der Grenze absolvierten. Der innerdeutsche Todesstreifen war das Kainsmal der DDR. Bei „Grenzalarm“ war auf Flüchtlinge zu schießen war, um „Grenzverletzer“ wie es in der Vergatterung hieß, zu „vernichten“.

 

Lied der Grenzer, 1981

„Wir Grenzsoldaten halten Wacht, sind nicht zu überlisten. An unseren Grenzen bricht die Macht der Imperialisten. Es hat sich schon so mancher hier den Schädel eingerannt. In unser Haus geht´s durch die Tür und nicht durch die Wand.“

 

 

Die ganze Perfidie dieses Grenzregimes zeigte sich nach der Einheit. Für Kalte Krieger blieben DDR-Grenzer eine „Mördertruppe“. SED-Altkader sprachen hingegen von westlicher „Siegerjustiz“. Die Folge: Abertausende Menschen im einstigen Sperrgebiet zogen sich zurück, verhüllten sich mit einem dicken Mantel des Schweigens. Grenzer wurden nach der Stasi zum Sündenbock, zum Symbol des Scheitern eines Systems. Bloß nichts sagen! Vergessen jedoch wird, dass die Grenzsoldaten in der Stunde ihrer größten Niederlage ihren wichtigsten Erfolg errangen. Sie ignorierten in der Nacht der Maueröffnung bestehende Befehle und folgten dem gesunden Menschenverstand. Sie standen am 9. November 1989 an der Seite des Volkes. So machte die Nationale Volksarmee ihrem Namen als Armee des Volkes alle Ehre.

 

Pariser Platz und Brandenburger Tor. Das Symbol der deutschen Teilung. Aufnahme aus dem Sommer 1989. Quelle: BSTU

 

Im September 2020 ist meine 45-minütige ZDF-Dokumentation im ZDF-Hauptprogramm und auf ZDF-Info zu sehen. Hier bereits vorab online  „Am Todesstreifen – DDR-Grenzer erzählen“

„Halts Maul“

Unglaublich. Gleich drei hohe Richter sitzen auf der Anklagebank. Der König lässt die Kammergerichtsräte Ransleben, Friedel und Graun bei sich antreten, um ihnen im Berliner Schloß so richtig die Leviten zu lesen. Einer der Juristen verteidigt wortgewandt sein Tun. „Canaille, halts Maul!“, tobt der Herrscher, genannt der Alte Fritz oder auch Friedrich der Große. Wir schreiben den 11. Dezember 1779. An diesem Tag herrscht dicke Luft im Schoss. Preußen-König Friedrich II. beschuldigt die Herren Richter seinen Namen missbraucht zu haben. Er droht mit „Aufhängen lassen!“. Als Großkanzler von Fürst die Gerichtsräte verteidigen will, wirft ihn der König raus: „Marsch. Seine Stelle ist schon vergeben!“

 

Müller Arnold aus Pommerzig. Wurde ihm das Wasser abgegraben? War er Opfer von selbstherrlichen Richtern? Ein Fall von klassischer Willkür? Ja, sagte der König und handelte.

 

Was war geschehen? Der einfache Müller Arnold aus dem östlichen Oderbruch hat längere Zeit seinen Erbzins nicht bezahlt. Daraufhin verklagt ihn der Gläubiger Graf Schmettau. Der Gutsherr gewinnt. Müller Arnold akzeptiert das Urteil nicht. Das Urteil sei pures Unrecht. In Eingaben erklärt der Müller aus Pommerzig, der Landrat von Gersdorf habe oberhalb seiner Mühle Karpfenteiche angelegt und ihm buchstäblich das zum Mahlen notwendige Wasser abgegraben. Die Richter bleiben stur. Der Müller verfasst Briefe an den König. Dieser ordnet postwendend eine Untersuchung der „Vorgänge“ an.

 

Post an den König. Das heutige Postamt in Pomorsko, Polen. Bis 1945 Pommerzig, Oderbruch, Neumark. Die Heimat von Müller Arnold.

 

Dann handelt Friedrich II. Er lässt sogleich die Kammergerichtsräte ins Gefängnis einsperren. Den Zivilprozess entscheidet er höchstpersönlich. Das Urteil des Königs: Der Müller erhält seine Mühle zurück und die „ungerechten“ Richter müssen den Schaden ersetzen. Ihre einjährige Haftstrafe haben sie in der Festung Spandau zu verbüßen. Gnadengesuche werden verworfen. Des Königs Prinzip: Ohne Gerechtigkeit keine Gnade. Die drei Kammergerichtsräte müssen ihre Strafe bis auf den letzten Tag absitzen.

Zudem veröffentlicht der König in der »Spenerschen Zeitung« am 14. Dezember 1779 einen Hinweis an alle Juristen „die strengste Unparteilichkeit aufs schärfste anempfehlen“ zu lassen. „Prinz und Bauer, Bettler und König“ seien „vor der Justiz gleich“. Hart, aber fair. Der Mythos vom strengen, aber gerechten König wird perfektioniert. Nur auf dieser Grundlage habe Justiz in Preußen zu funktionieren. Prozesse seien ohne Ansehen von Person, Herkunft oder Stand zu führen.

 

Hart aber fair? Sein Einschreiten im Fall des Müllers Arnold nährte den Mythos von Friedrich II. „Ohne Ansehen der Person. Gesetze gelten für alle. Ob für König oder Bettler.“

 

Die Geschichte vom Müller Arnold ist längst vergessen. Aber sie erzählt von Mühlen, die mahlen. Die ausnahmsweise sogar gerecht mahlen. Was für eine wunderbare königliche Schnurre! Zur Vollständigkeit jedoch muss ergänzt werden. Nach dem Tode des Alten Fritz wurden die drei Richter im Müller-Arnold-Fall rehabilitiert. Nachfolger Friedrich Wilhelm II. erklärte sie für unschuldig, das Verfahren sei „ungerecht gewesen“. Er stellte die Gerichtsräte wieder ein und entschädigte sie. Auch weil der brave Müller Arnold ein wenig gemogelt hatte. Tatsächlich hatte er trotz der Karpfenteiche noch weiter Wasser auf seinen Mühlen, angeblich oder vermutlich nur etwas weniger. Der Alte Fritz aber blieb zu Lebzeiten davon unbeeindruckt. Gegen die Großen, erklärte er, sei ab und an ein abschreckendes Beispiel vonnöten.

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Hellwach

Am 25. August 79 n.Chr. brach der Vesuv aus. Der Untergang von Pompeji war eine der großen Naturkatastrophen jener Epoche. Kurz zuvor hatte Plinius der Ältere die Legende vom wachsamen Kranich überliefert. Der Kern seiner Geschichte: Wenn der Wachkranich einschläft, während die anderen Kraniche vertrauensvoll ruhen, ruft ihn der fallende Stein zurück zur Pflicht. Die Menschen am Vesuv hörten den Stein nicht fallen. Plinius kam wie die allermeisten Bewohner von Pompeji ums Leben. Nur seine Geschichte vom Kranich hat überlebt.

Der hellwache Kranich steht für die Sehnsucht vieler Menschen nach einem fürsorglichen Verhaltensideal und einer verantwortlichen Instanz. Im Mittelalter diente der Kranich mit dem Stein als Symbol der Caritas. Im 19. Jahrhundert wählte die Berliner Bankiersfamilie Mendelssohn den majestätischen Vogel zu ihrem Siegelmotiv. Motto: Eine(r) wacht für alle anderen. So sollte ab 1839 der „Kranich mit den Stein“ das Prinzip der ökonomischen und sozialen Verantwortung verkörpern. Eine Botschaft im Sinne der Aufklärung. Die Nazis liquidierten ein Jahrhundert später das erfolgreiche jüdische Bankhaus. Der Stein fiel. Der Kranich wurde erschlagen.

 

Kranich mit dem Stein. Symboltier des Bankhauses Mendelssohn in Berlin.

 

Die modernen Kraniche von Blackrock, Wirecard, Google und Facebook etc. folgen einem anderen Leitstern.

Ihr Leitbild ist das – Be First. Sei Erster, nimm alles mit, jeden Stein.

  • Dieser Zeitgeist liebt die Wertung, die Klassifizierung, die Einteilung in Top und Flop, in Ranglisten und das Verkäufliche.
  • Für diesen Zeitgeist muss alles sofort Bedeutung und Sinn haben. Es muss nützlich sein. Was keine Funktion, was nicht funktioniert, taugt nichts, wird missachtet.
  • Dieser Zeitgeist bedeutet ständige Kommunikation, ununterbrochenes Geplapper, mediale Berieselung und dauernde Erreichbarkeit.
  • Der Zeitgeist setzt bei allem Kult um das Schrille und scheinbar Überraschende doch auf das Bekannte, auf Sicherheit und Wiederholung.
  • Dieser Zeitgeist ist vernarrt in das Große, das Bombastische, in Superlative, Rekorde, in Geschwindigkeit und Raserei.

 

Selbstverständlich ist das nur meine bescheidene Sicht der Dinge. Selbstverständlich hat unsere Welt viel mehr Farben, Schattierungen und Zwischentöne. Gott sei Dank. Meine Beobachtung bezieht sich auf Leitbilder in etablierten und sozialen Medien, in der 24/7- Welt von Facebook, Instagram, Twitter und wie sie alle heißen. Zu wünschen wären viele Kraniche, die den Stein fallen hören. Die hellwach bleiben und sich doch nicht völlig einlullen lassen.

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Esbjörns Elevation

Wir leben in einer Welt, „in der ein falscher Tweet, ein falsches Wort sofort sanktioniert wird. Das führt bei vielen zu angstvollem Schweigen und gereinigter Sprache“. Das notiert die Schriftstellerin Eva Menasse. Ist das die Lage? Die einen fürchten sich vor Flüchtlingen, andere vor Corona, wiederum andere vor dem Internet. Der populäre Pranger. Unser Marktplatz für virtuelle Inquisition, Einschüchterung, Drohungen. Früher wurden Abweichler ans Kreuz genagelt oder verbrannt. Jesus, Jeanne d´Arc, Galileo Galilei… die Liste ließe sich beliebig verlängern. Natürlich alles im Namen der Moral und Reinheit der Lehre.

Ich widerrufe. Anklage und Unterwerfung. Eine unheilige Tradition. Die Menschheitshoffnung des letzten Jahrhunderts – angetreten als Sozialismus – hat besonders bizarre Blüten hervorgebracht. „Falls nötig, kann das Geständnis noch ausführlichere, detailliertere und präzisere Formen annehmen.“ So Nikolai Iwanowitsch Bucharin vor seinen Richtern im Moskauer Schauprozess. Unter der Anklage der Spionage wusste sich Bucharin, ein kluger Philosoph und Wirtschaftstheoretiker, nicht anders zu rechtfertigen. Sein Vergehen? Er kam vom rechten Weg ab. Das war in Stalins Reich zu viel.

 

Eine Kunst. Den richtigen Ton zu finden.

 

Genosse Vordenker Bucharin galt lange als „Liebling der Partei“ (Lenin) und „Gehirn des Kommunismus“ (Ruth Fischer). Er wurde am 13. März 1938 im Alter von fünfzig Jahren erschossen. Hingerichtet mit dem früheren Geheimdienstchef Genrich Jagoda und weiteren ehemaligen Spitzenfunktionären. NKWD-Chef Nikolai Jeschow beaufsichtigte persönlich die Exekution. Er ließ Bucharin zusehen, wie die anderen Verurteilten vor ihm erschossen wurden. Auch den Genossen Geheimdienstchef Jeschow ereilte das Schicksal der „Säuberung“. Er wurde am 4. Februar 1940 erschossen. Die Revolution fraß ihre Kinder.

Wollen wir im gegenwärtigen Empörungsmodus wieder zurück auf solche Wege? Facebook, Twitter und Telegram als Stalinorgeln des 21. Jahrhunderts? Andersdenkende, Abweichler, Politisch Unkorrekte am Ende an die Wand stellen?

 

 

Das Netz fasziniert mich. Das Internet, gut 25 Jahre alt, ist längst unser tägliches Brot. Das Salz in der Suppe des Lebens. Mir hilft eine Sache zuverlässig, wenn ich mal wieder keine Antworten auf meine Fragen finde. Musik. Für mich die beste aller Möglichkeiten. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Wie wäre es mit Esbjörn Svensson? Ein Tastenvirtuose der Extraklasse. Ein Schwede, der das gewisse Etwas in den Fingern hatte. Leider hatte. Denn er ertrank beim Tauchen. Sein Sohn wartete am Ufer auf ihn. Elevation of love hat er uns geschenkt. Eines seiner vielen wunderbaren Stücke. Eine wohltemperierte Alternative zu den dauerempörten Anklägern im Netz – ob mit dem Gender* oder ohne *.

Jagende, die im Namen der Reinheit der Lehre alles Menschliche säubern wollen. Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, ihren kleinen und großen Dummheiten.

 

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Zugführer 1.Klasse

Vorsicht an der Bahnsteigkante! Martin Dibobe beherrschte diese Ansage aus dem Effeff. Zurückbleiben! Dann beschleunigte er seine Elektrische und fegte mit dem hochmodernen Zug über die Hochbahn zwischen Schlesischem Tor und Zoologischer Garten. U-Bahn-Linie 1. Etwas Neues, etwas Besonderes in Berlin. Zur News aber brachte es Martin Dibobe als „Neger-Zugführer“. So porträtierte ihn im Juli 1902 die Berliner Illustrierte Zeitung. Eine Sensation: Der erste Schwarzafrikaner als Zugführer 1. Klasse und Beamter auf Lebenszeit. Verheiratet mit der Tochter des Vermieters vom Prenzlauer Berg. Zwei Kinder.

 

„Dunkle Lebensgrundlagen“. Porträt über Martin Dibobe in der Berliner Illustrierten Zeitung. 15. Juli 1902

 

„Durch Fleiß und einwandfreies Betragen habe ich mir eine Vertrauensstellung erworben“, sagte Martin Dibobe. Das kam im preußischen Kaiserreich bestens an. In einer aufregenden Zeit als die aufstrebenden Hohenzollern ihren „Platz an der Sonne“ ergattern wollten. Um jeden Preis. Also unterwarfen deutsche Truppen ferne Länder. Rohstoffe, Einfluss und Weltgeltung als Ziel. Dieser Wettlauf endete im „Großen Krieg“, im I. Weltkrieg. Deutschland verlor seinen Platz an der Sonne und alle Kolonien. Tansania, Namibia, Ruanda.

1876 als Quane a Dibobe in eine Häuptlingsfamilie in Kamerun hineingeboren besuchte er eine Missionarsschule. Als bestauntes Exponat gelang er als Zwanzigjähriger auf abenteuerliche Weise nach Berlin. Er wurde im Rahmen der „Völkerschau“ im Treptower Park ausgestellt. Das war 1896, als er als „Naturneger“ in einem kolonialen Menschenzoo als Attraktion vorgeführt wurde. Dibobe blieb in Berlin und machte einen fulminanten Aufstieg. Er lernte Schlosser bei Siemens, stieg rasch vom einfachen Schaffner zum Zugführer der Linie 1 auf. Im Alltag beobachtete er genau sein Umfeld. Er sah den Kampf der Arbeitermassen für ihre Rechte. Sollte das nicht auch für Afrikaner gelten?

 

Martin Dibobe in schmucker Uniform der Berliner Hochbahngesellschaft. Zu finden ist dieses Bild am Durchgang im U-Bahnhof Halleschen Tor.

 

Nach dem Ende des I. Weltkrieges reichte Zugführer Dibobe im Juni 1919 eine Petition an den neuen Reichspräsidenten Ebert ein. Im Namen der 17 Unterzeichner versicherte Dibobe seiner Heimat Deutschland „unverbrüchliche, feste Treue“ und verurteilte „den Raub der Kolonien“. Dann kam er auf seinen zentralen Punkt: „Die Eingeborenen verlangen Selbstständigkeit und Gleichberechtigung.“ Ferner forderte die Eingabe „das Ende von Prügelstrafen und Zwangsarbeit, von Misshandlungen und Beschimpfungen. Außerdem gerechte Löhne, die Schulpflicht, das Recht zum Studium sowie zur Ehe zwischen Eingeborenen und Weißen“. Ein wahres Zeitdokument vom Streben nach Gleichberechtigung

Dibobe bekam nie eine Antwort. Nicht vom Reichspräsidenten, nicht von der Nationalversammlung, schon gar nicht vom Reichskolonialamt. 1922 kehrte Dibobe nach Kamerun zurück. In seiner alten Heimat wurde er  als „deutscher Spion“ und „Aufrührer“ von den französischen Kononial-Behörden abgewiesen. Er starb vermutlich in Liberia. Dibobe hinterließ eine großartige Geschichte vom exotischen Schauobjekt bis zum Zugführer 1. Klasse und Vorkämpfer für Menschenrechte.

 

 

Genau einhundert Jahre ist seine Resolution alt. Was hat sich geändert? Antworten kann jede(r) selbst suchen und finden. Berlin streitet in diesen Tagen um einen neuen Namen für den U-Bahnhof Mohrenstraße. Wie wäre es mit Martin Dibobe, diesem schmucken Mann von der Linie 1 und längst vergessenen Pionier? Er hätte es verdient.

Marley auf Malta

Die Sonne knallt unerbittlich auf die kleine Felseninsel. Die Mauern glühen. Mittagszeit. Siesta. Niemand ist unterwegs in den Gassen von Valletta. Aus der Bar an der Ecke dröhnt der Meister. Bob Marley auf Malta. Could you be loved. Verdammt lang her. Sommer 1980. Als das Fernweh das Laufen lernte. Jedenfalls für mich. Mein erster Flug. Mit einer Linienmaschine von Air Malta direkt auf die winzige Insel umgeben vom Glitzern des blauen Mittelmeers. Sonne, Felsen, Meer. Wuchtige Kathedralen und stille Gassen. Linksverkehr und bunte Linienbusse. Fish and chips und der King of Reggae.

 

 

Und heute? Fern-Reisen ist nicht mehr. Oder noch nicht. Verreisen geht am besten im Kopf oder mit dem Finger auf der Karte, wie früher. Reisen wir also coronafrei in unsere Erinnerungen. Damals durfte ich bei maltesischen Freunden wohnen. Sie führten mich ihren Freunden wie eine Trophäe vor. „Look, Chris from Germany“. Außer ein paar deutschen Sprachurlaubern war Malta weitgehend unbefleckt vom Pauschaltourismus. 1980 feierten die Malteser mit viel Wumms und bunten Feuerwerken ihre katholischen Maria-Feste. Demonstrierten mit grünen Fahnen vor der mächtigen lybischen Botschaft, um die Freundschaft mit al-Gaddafi zu untermauern. Scheidungen waren verboten, während meine Gastgeber vom Auswandern nach Australien oder wenigstens nach London träumten.

 

 

Es waren drei herrliche Wochen. Bob Marley erklang aus jeder Musikbox, wurde auf jeder Party gespielt. Could you be loved? Ich kritzelte ein abgeschriebenes Liebesgedicht auf die Postkarte, um die Zeilen nach Berlin zu schicken.

 

“Ich will schlafen ohne ein Kissen.

Ich will essen ohne einen Tisch.

Ich ohne Dich, Du ohne mich,

das will ich nicht.

Du bist die Türklinke zu meiner Tür.“

 

Die knallbunte Malta-Karte mit meinen geborgten Liebesgedicht war viele Wochen lang unterwegs. Sie musste den beschwerlichen Weg über den Eisernen Vorhang antreten, bis sie schließlich in der Hauptstadt der DDR irgendwann bei meiner Liebsten eintraf. Eine Kopie habe ich in meiner Akte gefunden. Daher weiß ich noch von den Zeilen hinter die Mauer. Mein Dank an die aufmerksamen Genossen vom Sammelverein MfS.

Bob Marley war in diesen Malta-Wochen mein Gott. Der Mann mit den Rastalocken, dessen Vater ein weißer sechzigjähriger Plantagenaufseher in Jamaica war, der eine Affäre mit einer Achtzehnjährigen hatte. White Boy war Bob Marleys Spitzname in Jugendzeiten. Mit 21 jobbte er beim Autokonzern Chrysler am Fließband im US-amerikanischen Städtchen Wilmington/Delaware. Bevor er zur Ikone aufstieg, als Musiker, als Messias für viele Unterdrückte und King of Reggae. No woman, no cry. Stir it up. One Love, Don´t give up…

 

Bob Marley wäre in diesem Jahr 75 geworden. Er verstarb am 11. Mai 1981 auf dem Rückflug von Deutschland, wo er zur Behandlung weilte. Bei der Zwischenlandung in Miami brach er 36-jährig zusammen. Der Krebs besiegte ihn. Den Vater von zwölf Kindern, elf leiblichen und einem Adoptivkind. Doch seine Musik ließ ihn unsterblich werden. Sohn Ziggy (*1968) trat in die Fußstapfen seines Vaters und besingt nach wie vor den Buffalo Soldier oder interpretiert genial den Malta-Song von 1980 Could you be loved. Als käme der Marley-Hit gerade in der Mittagshitze aus der Musikbox von der Bar an der Ecke.

 

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Die Hundertjährige hat Fieber

Seit Monaten darben Berlins Nachtschwärmer. Sie verzagen vor verschlossenen Clubtüren. Was völkische Nazis, sittenstrenge DDR-Funktionäre und selbst der Bombenhagel im letzten Krieg nicht schafften, gelingt diesem kleinen, fiesen Covid-19-Virus. Seit Monaten fallen die legendären Kreuzberger Nächte aus oder tummeln sich maximal virtuell im Netz. Abgesehen vielleicht von einigen heimlichen Treffs in illegalen Kaschemmen oder versteckten Hinterhöfen. Manche Clubs flüchten sich in sogenannte Watchparties. Sie heißen zum Beispiel YWO. Das Kürzel steht für Yes, we`re open. Trotz aller Verheißungen von interaktiven, digitalen Dancefloors: Anfassen ist nicht. Knutschen schon gar nicht.

Tugendwächter mag diese Ruhe diebisch freuen. Berlins Clubleben liegt komplett darnieder. Online-Partys sind nun der letzte Notnagel im hauptstädtischen Nachtleben. Nächtliche Partys vor dem heimischen Laptop sind allerdings genau so verheißungsvoll wie eine Kanne Fencheltee. So lustvoll wie kalorienarmer Süßstoff. Oder verlockend wie ein Schlag Haferschleimsuppe. Das Entscheidende fehlt: Die Bühne. Die Arena zum Balzen, Flirten und Glitzern. Die kurzen Momente des Glücks, in denen Sehnsüchte wie Glühwürmchen umherschwirren, bis sie auf dem Heimweg im Morgengrauen verglühen.

 

Berliner Nachtleben vor einhundert Jahren. Erwartungsfrohe Gäste mit Masken in der „Weißen Maus“. Hier flog Anita Berber 1923 aus dem Laden und erhielt Hausverbot.

 

Der Vorhang zum echten, wilden Leben bleibt zu. Wie genau vor hundert Jahren, als die Spanische Grippe wütete. Damals raffte die Pandemie in Europa Millionen Menschen hinweg. Ohne Warn-App, Lock-Down oder besorgte Wutbürger, die an die Kraft kosmischer Strahlen glauben. Über diese Zeit ist wenig überliefert. Die Chronisten berichten lieber über den aufkommenden Berlin-Mythos der Zwanziger Jahre. Die Boheme berauschte sich an „Ausdruckstanz“, Cognac und Morphium.  Alles wurde kürzer: die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf. In jedem zweiten Nachtlokal verkaufte die Toilettenfrau den Stoff, so heißt es, der Künstler, Großbürger und Kleinkriminelle am Laufen hielt: Kokain. Klaus Mann notierte: „Früher mal hatten wir eine Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Das muss man gesehen haben!“ Die moderne Großstadt als „Hure Babylon“.

 

 

Der Tanz auf dem Vulkan. Die Ikone der wilden Nächte war Anita Berber. Sie trat im „Wintergarten“, in der „Rakete“ oder im „Toppkeller“ auf, meist vor gutsitierten Gaffern. Sie tanzte bis die letzten Kleidungsstücke und Hemmungen fielen. Es gibt unzählige Anekdoten über diese Königin der Berliner Nächte. Otto Dix verewigte sie als dämonische Diva. Angezogen, im knallroten hochgeschlossenen Kleid. Von Kopf bis Fuß Grand Dame. Geheimnisvoll, gealtert, unnahbar. Der Chef der „Weißen Maus“ soll Anita Berber 1923 vor die Tür gesetzt haben. Sie habe im Rausch einem aufdringlichen Gast eine Flasche Champagner über den Schädel gebraten.

 

So sah Otto Dix die 25-jährige Anita Berber. Er malte sie ganz in Rot und als deutlich ältere Dame. Die Nazis entfernten das Porträt von 1925 als „entartet“ aus dem Nürnberger Museum. Heute ist es im Kunstmuseum in Stuttgart zu sehen.

 

Was aus der Tänzerin des Lasters wurde? Sie starb 1928 an Tuberkulose, krank und vereinsamt im Alter von gerade einmal 29 Jahren. Das Ende der wilden Berliner Lasterjahre nur wenige Jahre später blieb ihr erspart. Ein Finale des Grauens, als in den Clubs „ohne Herzbeschwerden“ noch gelacht und getanzt wurde, so Harry Graf Kessler, während in den Straßen längst Menschen starben. Als die Nationalsozialisten nach der Macht griffen, um im „brodelnden Kessel“, im „Sündenbabel Berlin“ endlich „aufzuräumen“.

Das Sylt-Versprechen

Niemals Alltag, immer Überfluss. Wilde Natur. Frischer Wind. Unbeschwertheit. Sonnenuntergänge. Romantik. Das volle Programm. So soll, so muss Deutschlands schönste und teuerste Insel wohl sein. So lautet das Sylt-Versprechen. Der Name verpflichtet. Sylt ist Sehnsuchtsort. Ein friesisches Ferienparadies mit schicken Villen im weiß-cremigen Hampton-Style, reetgedeckt. Ein exklusives Reichen- und Investorenmekka. Was Long Island für die New Yorker, ist den Deutschen dieser dünne heftig umwehte Inselstrich in der Nordsee.

Für Susanne Matthiessen ist Sylt viel mehr: Kindheit, Jugend, Heimat und Fluchtpunkt. Sie zählt sich zum Inseladel. Geboren bei auflaufender Flut in der inseleigenen Nordseeklinik. Mittlerweile sterben die echten Insulaner aus. Im Januar 2014 wurde die Geburtsstation geschlossen. Matthiessen (Jahrgang 1963) hat die schrillen Boomjahre ihrer Insel hautnah miterlebt. In den wilden Siebzigern sei Sylt „wahrscheinlich gesellschaftlich der lebendigste Ort Deutschlands“ gewesen, schreibt sie in ihrem Roman Ozelot und Friesennerz“. Eigentlich handelt es sich bei ihrem Debüt eher um eine Familienchronik. Eine Innensicht auf eine Insel, deren Geschäftsmodell die Organisation von „Eskapaden“ für Begüterte war. Heute heißt das Events.

 

Die „Goldenen Jahre“, in denen sich in Kampen an der „Buhne 16“ das „reichste, schamloseste und sündigste Strandparadies“ des Wirtschaftswunderslandes angesiedelt hatte. Ein Ort, an dem alles ging und erlaubt war. Hier trafen sich „Kampener Klunkerleute“. Eine Melange aus Geldadel, Alterben und Neureichen. In den Siebzigern kritzelte Vorzeige-Playboy Gunter Sachs Autogramme auf Geldscheine, tafelten die Vertreter von Verlegerdynastien wie Springer oder Augstein bei Fischfiete. Das Kult-Essen der Reichen und Schönen – „Langustinos à la Napoleon 63“. Alles nachzulesen im Sylt-Roman von Susanne Matthiessen.

Aus und vorbei. Heute geht es deutlich diskreter zu. Kampen ist längst eine geschlossene Gesellschaft für Wohlhabende. Mit privater Security aber ordentlich „Tinte auf dem Füller“. In Westerland hingegen versammeln sich Normalsterbliche. Die Durchschnittsurlauber im Friesennerz bilden die Zaungäste für das Treiben des Inseljetsets. Begehrt sind Sitzplätze im Café Orth an der Friedrichstraße. Dort flanieren unablässig „Schenkelschande bis Bauchblamage“ vorbei. Ein Platz zu ergattern sei wie eine Premierenkarte für die Bayreuther Festspiele.

Susanne Matthiessen entwirft fröhlich und frei ein Sittengemälde der Sehnsüchte der Deutschen, von den Siebzigern bis heute. Ihre Eltern führten in Westerland ein traditionsreiches Pelzgeschäft. Ihr Schicksal steht für die Nachkriegsgeneration. Einst galten Pelze als Statussymbol, heute stehen sie für Tierquälerei. Einst behängten aufstrebende Ehemänner ihre Gattinnen mit teurem Ozelot, Luchs oder dem „Oma-Persianer“. Der Husky-Look war übrigens der Renner bei Zahnarztfrauen. Dann klebte der neue Zeitgeist Blut an die Hände von Pelzhändlern. 2007 schloss Pelz Matthiessen für immer.

 

 

„Ozelot und Friesennerz“ ist ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch über die Trauminsel der Deutschen. Susanne Matthiessen schaut frech hinter die Kulissen und erzählt aus der Sicht einstiger Strandräuber, wie deren heutige Nachfahren die Insel wie einen Gaul tot reiten, bis er zusammenbricht. Ein Sylt-Buch, das ungeschminkt und doch voll Herzenswärme Glanz und Gegensätze beschreibt. Genau das Richtige für Menschen wie mich, die noch nie auf der Insel waren.

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Auf verlorenem Posten

In engen, scharfen Kurven schlängelt sich die Landstraße auf die Höhen des Thüringer Waldes. Geschafft. Zu sehen ist hier oben leider wenig. Es regnet aus Kübeln. Willkommen in Lichtenhain. Letzter Außenposten der einstigen DDR. Das Tor ist mit einem Schloss gesichert. Im Zaun sind Löcher. Durchs Unterholz klettert es sich kinderleicht in eine versunkene Welt. In das Reich der Grenztruppen der DDR. Grenzkompanie Lichtenhain. Gut zwanzig Kilometer entfernt von der einstigen Spielzeugstadt Sonneberg. Zwischen Birken und Kiefern verstecken sich eine Kaserne mit drei Etagen, Kfz-Garagen, eine ehemalige Hundezwingeranlage und ein Munitionsbunker. Regen prasselt auf die Dächer. Was sonst? Absolute Stille. So sieht wohl das Ende der Welt aus.

 

Nicthts bleibt ewig. Reste der 7. DDR-Grenzkompanie Lichtenhain im Juni 2020.

 

Auf der Höhe von Lichtenhain war die 7. Grenzkompanie des Grenzregiments 15 „Herbert Warnke“stationiert. Benannt nach einem verdienten Altkommunisten. Hier bewachten Soldaten einen hügeligen Abschnitt der 1.393 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Genannt „Staatsgrenze West“ oder „Todesstreifen“. Am Ende war dieses Monstrum ein tödlicher Irrtum der Führenden, die sich nicht anders zu helfen wussten, als ihre Macht durch Stolperdrähte, Stacheldraht und Minenfelder zu sichern. „Es gab Mauertote auf beiden Seiten, es sind auch Grenzsoldaten erschossen worden“, sagte vor kurzem Barbara Borchardt, die neue Verfassungsrichterin in Mecklenburg Vorpommern von den Linken. Dafür erntete sie einen Shitstorm.

Die Aussage ist faktisch zutreffend. Doch aus dem Mund einer ehemaligen SED-Genossin nur zynisch. Der Streit um die Notwendigkeit der Mauer ist Teil einer neu entfachten alten Debatte. Was waren die rund 500.000 DDR-Grenzer, die fast vierzig Jahre lang die Teilung bewachten? Heimatschützer oder Mördertruppe? Keiner musste zur Grenze und sich selbst zum KZ-Wächter machen, erklärte einmal SPD-Chef Willy Brandt. Auch diese Aussage ist ergänzungsbedürftig. Denn die meisten an der Grenze waren junge Wehrpflichtige. Konnten sie den Dienst verweigern? Vielleicht. Auf ihnen lastete jedoch die ganze Last der Verantwortung – mit allen Konsequenzen. Im Ernstfall: Schießen oder laufen lassen?

 

Lichtenhain. 2. Etage des Kompaniegebäudes. Erbaut 1968, geschlossen 1990.

 

Am Beispiel jeden einzelnen Grenzers lässt sich die Beziehung des Individuums zur Diktatur wie in einem Brennglas nachvollziehen. Die kleine Anpassung hatte große Folgen. Das System funktionierte. Bis zum Schluss. An den Wänden eines Schuppens in Lichtenhain lassen sich geheimnisvolle Spuren finden. Graffitis. Krakeleien mit Jahreszahlen, Namensinitialen und versteckten Botschaften. EKs, sogenannte Entlassungskandidaten hinterließen Strichlisten und Daten ihres herbeiersehnten Endes des Grenzdienstes. 1988, 1989, 1990. Jahre, in denen das kleine Land materiell und moralisch erschöpft war. Als der Westen leuchtete und jeder Ostler eine Alternative hatte. Als die große Unzufriedenheit im Sommer 1989 in eine Massenabwanderung mündete.

 

Ein beliebtes Ritual. Strichlisten bis zur Entlassung aus dem Grenzdienst markieren. Spuren in einem Schuppen am Eingangstor der Grenzkompanie Lichtenhain.

 

Am 9. November 1989 errangen die Grenzer in der Stunde der größten Niederlage ihren größten Triumph. Die Nationale Volksarmee schoss nicht auf das Volk. Sie ließ die Menschen selbst entscheiden und öffnete die Tore.

Der Regen will nicht aufhören. Ich erfahre, dass die 1968 errichtete Kaserne von Lichtenhain nach der Wende „Übergangsheim“ und auch mal Jugendherberge war. Seit über zehn Jahren steht der „Komplex“ leer. Der verlorene Außenposten liegt im Dornröschenschlaf mitten im 1.106 Kilometer langen Grünen Band quer durch Deutschland. Demnächst soll dieses Schutzgebiet UNESCO-Welterbe werden. Dreißig Jahre nach der Einheit. Der einstige Todesstreifen als grüne Oase. Nichts ist unmöglich…

 

EK 89 = Entlassungskandidat 1989. Inschrift eines Wehrpflichtigen in Lichtenhain. Manche Wände hüten heimliche Botschaften aus DDR-Tagen.

 

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Amazing Grace

Die Legende kennt jedes Kind in den USA. Kapitän John Newton geriet im Mai 1748 in schwere Seenot. In letzter Sekunde konnte er sich und sein Schiff retten. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Seine Fracht bestand aus Schwarzen, aus Sklaven. Ein einschneidendes Schlüsselerlebnis für den Sklavenhändler. Nach seiner wunderbaren Rettung schwor er, Sklaven als das zu behandeln, was sie sind: Menschen wie du und ich. Die Legende erzählt weiter, dass er später seinen Job an den Nagel hing und Pastor wurde. So schrieb er den Text zu Amazing Grace und bekämpfte fortan die Sklaverei.

 

 

Die Geschichte von diesem Wende-Wunder ist fast dreihundert Jahre alt. Sein Kirchenlied über die „wunderbare Gottes Gnade“ ist Hoffnungs-, Trauer- und Trostlied zugleich. Was hat sich seitdem geändert? Alles? Oder nichts? Im Lied des einstigen Sklavenschiffers John Newton heißt es:

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost, but now am found
Was blind but now I see.

Wer rettet die Schufte (wretch) von heute? Die blind sind zu sehen, was in dieser Welt geschieht. Die seit drei Jahrhunderten nichts verstanden, nichts gelernt und nichts begriffen haben. Welches Schlüsselerlebnis brauchen Weltenlenker heute? Welchen Sturm? Welche Seenot? Welchen SOS-Ruf? Dieser Song mag in manchen Ohren kitschig klingen. Wer aber einmal wie ich in Arusha (Tansania), Kapstadt oder New York Upper East Side diesen Gospelsong in überfüllten Kirchen hören durfte, dazu die Begeisterung erlebte, den Stolz, das Selbstbewusstsein gepaart mit der Hoffnung auf eine bessere Welt, der vertraut in die Kraft der Musik, die Mauern zum Einstürzen bringen kann. Manche Mauern sind sehr dick. Da kann es verdammt lange dauern.

Aretha Franklin, der Harlem Gospel Choir, Cory Henry und viele, viele andere singen von der Botschaft niemals aufzugeben, diese wankende Welt in Seenot aus schwerem Wasser zu retten. Amazing Grace. Was für eine wunderbare Antwort auf die Mächtigen in ihren Bunkern.

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost, but now am found
Was blind but now I see

Was Grace that taught my heart to fear
And Grace, my fears relieved
How precious did that Grace appear
The hour I first believed

Through many dangers, toils and snares
We have already come
T’was Grace that brought us safe thus far
And Grace will lead us home
And Grace will lead us home

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost but now am found
Was blind but now I see.