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Glücks-Produktion

Was ist Glück? Keine Termine und leicht einen sitzen, meinte Entertainer Harald Juhnke. Prost! Für heutige Zeitgenossen sind es eher möglichst viele Likes für ihre Posts. Für fast alle Menschen aber bleiben Bäume Symbole des Glücks. Am besten vor dem Fenster, in der Straße, im Park. Auf alle Fälle mitten in der Stadt. Denn: Wir zerstören, was wir lieben: Wälder, Wiesen und wilde Rückzugsorte. Digitale Konzerne versuchen mittlerweile künstliche Oasen zu schaffen. Grün ist gut für das Marketing. Greenwashing nennt sich das.

Internetriese Amazon baut in Arlington am Rande der US-Hauptstadt Washington sein neues HQ2, Headquarter 2. Hier entsteht ein 22-stöckiges „Baumhaus“ in Form einer Doppelhelix. Der zweite Firmensitz des Megakonzerns soll zu 100 Prozent mit Sonnenenergie beheizt und gekühlt werden. Das Baumhaus wird von Parks mit einheimischen Pflanzen umgeben, so das Versprechen. Das Design sei »von der Natur durchzogen« und soll so „Wohlbefinden und Kreativität“ fördern. Der Lieferriese im neuen, zeitgemäß grünen Blättergewande.

 

 

Der Doppelhelix des Architekturbüros NBBJ soll von außen begehbar sein, auf »zwei landschaftlich gestalteten Pfaden, die spiralförmig nach oben klimmen, mit Pflanzen, die auf einer Wanderung in den Blue-Ridge-Bergen von Virginia zu finden sind«. Den Beschäftigten verspricht Amazon eine »Vielzahl« verschiedener Arbeitsplätze – »inmitten üppiger Gärten und blühender Bäume«. Die Öffentlichkeit soll keineswegs ausgesperrt bleiben. Für 2025 ist die Fertigstellung des neuen Amazon-Hauptquartiers angekündigt.

Amazon als Landschaftsgärtner? Eine schicke Öko-Zentrale als Prestigeprojekt der Besserverdienenden? So könnten wohl Anflüge von schlechtem Gewissen besser besänftigt werden, um weiter rastlos um die Welt jetten zu können. Zudem soll das Baumhaus angenehm auf das Wohlbefinden der Belegschaft wirken. So brauchen die Amazoner weder über Betriebsräte nachzudenken und können das Zusammenbrechen ganzer Branchenzweige leichter verdrängen, wie zum Beispiel den kleinen Laden um die Ecke.

 

Die neue Amazon-Zentrale in Arlington bei Washington. 2025 soll sie fertig sein.

 

Amazon scheint erkannt zu haben: Bäume bringen Rendite. Bäume machen glücklich. Architekt und Vordenker Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) erklärte einmal, warum und wodurch Bäume so wertvoll sind: „Mit Sauerstoff, durch seine Staubschluckkapazität, als Anti-Lärmmaschine durch Erzeugung von Ruhe, durch Giftvertilgung, durch Reinigung des verseuchten Regenwassers, als Produzent des Glücks und der Gesundheit, als Schmetterlingsbringer und durch Schönheit und mit vielen anderen Valuten.“ Die einfache Erkenntnis: Ohne Bäume kein Leben. Kein Sauerstoff. Keine Zukunft. Eine einhundertjährige Buche gibt innerhalb von einer Stunde so viel Sauerstoff ab, wie fünfzig Menschen zum Atmen brauchen.

 

Vordenker einer „Baumpflicht“ und weit seiner Zeit voraus. Friedrich Stowasser alias Friedensreich Hundertwasser Regentag Dunkelbunt. (1928-2000)

 

Wer mehr über Baumhäuser und Green Building erfahren will, kann ein virtueller Rundgang empfohlen werden. Mehr geht ja gerade nicht. Einfach grün. Greening the city heißt eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Wieder zu begehen, sobald die grassierende Krankheit der Moderne, die Covid-Pandemie es zulässt. Merke: Wirklich reich ist nicht derjenige, der viel hat sondern der wenig braucht.

 

Hotel Therme Rogner Bad Blumau in der Steiermark, Österreich. Ein Hundertwasser-Haus. (1993-1997)

Kraft der Kunst

„Sie hörten genau hin. Sie waren voll dabei. Sie waren begeistert. Wunderschön“ Mit Glanz in den Augen erzählt Christoph Schlingensief, wie Rach 3 – das Klavierkonzert Nummer 3 von Sergej Rachmaninov – bei seinen Hauptdarstellern angekommen ist. Seine Helden sind die Insassen im Tiele-Winkler-Haus der Diakonie am Berliner Stadtrand. Wir befinden uns im Jahre 2002, vor knapp zwanzig Jahren. Es geht um die Stars der Freakshow 3000. Ein herrlich politisch unkorrektes, provokatives Projekt von Theatermacher Schlingensief. Geistig und körperlich Behinderte spielten in einer sechsteiligen TV-Hitparade mehr oder weniger bekannte Promis wie Moderator Michel Friedman oder Herzenstrompeter Stefan Mross. Eine lupenreine Fernsehparodie. Ein riskantes Wagnis, hart an der Kante zwischen Genialität und Peinlichkeit.

 

 

Kritiker warfen Schlingensief kindlichen Klamauk vor. Er sei ein selbstverliebter Theaterclown. Ich erlebte ihn in meiner aspekte-Zeit anders. Ernsthaft, an Erkenntnis und Ergebnissen interessiert. In seiner Freak Star 3000 ließ er im Sommer 2002 einen geistig Behinderten den vom RAF-Vordenker zum Hitlergläubigen mutierten Horst Mahler spielen. Ein Körperbehinderter übernahm die Rolle des allwissenden Moderators Michel Friedman. Schlingensiefs Antwort auf das alltägliche mediale Polit-Theater. Moralisten mäkelten, er betreibe Missbrauch mit Abhängigen. Ich kann mich gut erinnern. Die Darsteller liebten Schlingensief und das Stück. Ich brachte als Dankeschön ins abgelegene Heim von Berlin-Lichtenrade eine DVD unseres Beitrags für das ZDF. Musikalisch unterlegt mit dem Beginn aus Rach 3.

 

 

In einem Land, in dem nahezu alles korrekt geregelt werden soll, mit Beauftragten für alles und jedes, was sperrig oder anders ist, war Christoph Schlingensief ein Meister der Provokation. Immer wieder hielt er der Gesellschaft den Spiegel vor. Chance 2000. U 3000. Scheitern als Chance. Das deutsche Kettensägenmassaker. 1000 Jahre Adolf Hitler. Tötet Helmut Kohl.

Unsere heutigen Zeiten mit Empörungswellen, gewürzt mit Shit Storms, Cancel Culture und Gender-Correctness, wäre für den Apothekersohn aus Oberhausen eine echte Herausforderung. Was für ein Stoff. Im kurzatmigen Twitter-Gewitter überholt die Wirklichkeit jede Phantasie und Vorstellungskraft selbst eines kreativen Provokateurs. Der Mitmensch als Feind. Die andere Position, die es auszuschalten gilt. Unsere Covid-19-Gegenwart sorgt für eine aktuelle Pointe: Eine Pandemie, die alles Kreative an die Kette legt und in der Isolation des Lockdowns noch verrücktere Verschwörungsobsessionen und Provokationen blühen lässt. Schlingensief fehlt.

 

 

Bei Christoph Schlingensief standen Außenseiter im Mittelpunkt. Sie durften sich selbst als Stars erfinden, wurden jedoch nicht vorgeführt. Die hohe Kunst der Vermischung von Parodie, Show, Lebensfreude, Behinderung, Stolz und Eigensinn. Im Garten des Heims hörten wir Rach 3. Opus 30 in D-Moll. Das ganze Konzert. Gut 40 Minuten lang. Niemand ging. Am Ende klatschten alle vor Freude. Wie die Augen leuchteten.

Ziemlich gute Freunde

Gibt es das noch? Die vielbeschworene Männerfreundschaft? Freunde, die durch dick und dünn gehen. Sich austauschen, streiten, versöhnen, am Ende des Tages aber stets blind vertrauen können. Diese zwei Freunde von Law and Order waren sich ziemlich nah. Brüder im Geiste, Bewunderer von Macht und Stärke: Mister Donald John Trump, „durch Diebstahl abgewählter“ Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der „Geliebte Oberste Führer“ Kim Jong-un, Präsident der Demokratischen Volksrepublik Korea. Der Nordkoreaner ist weiter im Amt. Herrscher eines Landes, in dem es offiziell keine Corona-Pandemie gibt. In dem Menschen fröhlich und zufrieden ihrer Arbeit nachgehen. In dem Medien nicht „Feinde des Volkes“ sind, sondern das Land in seiner wahren Schönheit zeigen. Wie hier zum Jahresanfang 2021 in Pjöngjang.

 

https://youtu.be/MjZLHrYWZyE

 

Die beiden Freunde (auf Zeit) Trump und Kim trafen sich genau dreimal. Sie entwickelten eine Art Brieffreundschaft. Insgesamt 27 Botschaften tauschten der Ex- Präsident der USA und der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un aus. Kim schrieb 2018 nach dem ersten Treffen von Singapur: „Selbst jetzt noch kann ich den historischen Moment nicht vergessen, als ich die Hand Ihrer Exzellenz gehalten habe.“ Donald erklärte öffentlich vor seinen Fans: „Er hat mir wunderschöne Briefe geschickt, es sind großartige Briefe. Wir haben uns verliebt.“ Kim: „Die tiefe und besondere Freundschaft zwischen uns wird wie eine magische Kraft wirken.“

Beide Männer hatten einen gemeinsamen Feind. Barack Obama. „Ein Arschloch“, soll Trump zu US-Enthüllungsjournalist Bob Woodward gesagt haben. Den Diktator in Pjöngjang habe er aber in höchsten Tönen gelobt: „Er ist weit mehr als nur klug.“ So soll der Nordkoreaner dem US-Präsidenten nach dessen eigener Aussage mitgeteilt haben, wie er seinen eigenen Onkel hatte hinrichten lassen. „Er erzählt mir alles“, so Trump. Kim muss offenbar Song Thaek, die graue Eminenz in seinem Regime gemeint haben. Im Dezember 2013 hatte er seinen eigenen Onkel abgesetzt. Kim ließ ihn hinrichten. Das imponierte Trump.

 

 

Der scheidende US-Präsident stellte zum Ende seiner Amtszeit am 20. Januar 2021 nahezu unbemerkt einen „Rekord für die Ewigkeit“ auf. Er ließ seit dem vergangenen Sommer 13 verurteilte Menschen hinrichten, in einigen Fällen sogar gegen den Willen der Opferfamilien. So konnte er sich selbst nach der Wahlniederlage seinen Anhängern als „Henker in Chief“ präsentieren. Ein Mann, der durchgreift, der keine Gnade kennt. Einer, der für Law and Order steht – wie sein nordkoreanischer Freund.

 

Das offizielle Foto vom letzten Gipfeltreffen in Vietnam am 27./28. Februar 2019. Vorzeitig und ergebnislos abgebrochen. Quelle Wikipedia

 

Am 10. September 2020 twitterte Donald Trump: „Kim Jong Un is in good health. Never underestimate him!“ Diese „Unterschätzt ihn nicht“-Botschaft ist eine von rund 56.500 Giftpfeilen, die er per Twitter während seiner vierjährigen Amtszeit in die Welt schickte. Sein Spezi Kim wird dieses Kompliment freuen. Der 37-jährige ist mittlerweile im zehnten Jahr im Amt. Als Enkel und Thronfolger in der dritten Generation seiner Familien-Dynastie. Unabwählbar seit 1948. Von solchen Verhältnissen scheint Trump zu träumen.

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Nach Hause – Teil 2

Er war gerade einmal 21, als er von Weltschmerz und Heimweh schrieb. Es ist das Trinkerlied von einem, der nicht mehr weiter weiß. Einer, der vom Thron des Selbstmitleids steigen soll, aber den Weg nicht nach Hause finden kann. „Herrlich!“ schrieb 1969 das Fachblatt Rolling Stone. Can´t find my way home stammt aus der Feder von Steve Winwood aus Birmingham. Sein Lied ist längst ein Klassiker – vor über vierzig Jahre in die Umlaufbahn gebracht. Winwoods zeitlose Ballade vom einsamen Trinker wird auch heute noch auf vielen Bühnen gespielt. Von den ganz Großen wie Eric Clapton oder in der überfüllten Schulaula, unter dem Beifall stolzer Eltern, die ihrem Nachwuchs applaudieren.

 

 

Steve Winwood wuchs in der Arbeiterstadt Birmingham auf. Mutter Lillian und Vater Lawrence liebten Musik, um sich aus der grauen Vorstadt hinaus zu träumen. Lawrence Winwood beherrschte Klarinette, Saxophon, Mandoline, Geige und Bass. Am Wochenende spielte er auf Hochzeiten und Tanzvergnügen. Sohn Steve war mit dabei, der früh klassische Gitarre und Klavier in der Schule lernte. Bereits im Alter von 15 Jahren war Winwood 1963 Kopf der Spencer Davis Group, als Leadsänger, Leadgitarrist und Pianist auf seiner geliebten Hammond-Orgel.

 

Steve Winwood. 2009. Quelle: Wikipedia

 

Die wilden Sixties. Die Zeit der Pop-Revolution. Trotz ganz früher Superhits wie Keep on running blieb Steve zeitlebens der bescheidene Junge aus Birmingham. Ein Mann ohne Allüren und Affären. So lernte ich ihn bei einem Interview in London kennen. Als im engen Hotelzimmer eine Sitzgelegenheit für den Tonassistenten fehlte, zog er einfach los, um einen Stuhl zu organisieren.

 

 

Die Premiere seiner Ballade Can´t find my way home war am 7. Juni 1969 bei einem kostenlosen Open-Air-Konzert im Hyde Park vor über 100.000 Zuschauern. Nur wenig später erschien das Album Blind Faith, das exakt nur sechs Titel enthält, aber bis heute als ein Meilenstein des neuen britischen Blues-Rock gilt. Steve meinte im Interview, es sei wichtig, dass Menschen ein Dach über dem Kopf hätten, einen Ort, an dem der Schlüssel ins Schloss passt. So viele Heimatlose, Obdachlose und Entwurzelte seien in der Welt unterwegs. „Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat! Weh dem, der keine Heimat hat!“ Das meinte auch der große Skeptiker Friedrich Nietzsche.

 

 

„Steig herunter von deinem Thron. Jemand muss sich ändern. Du bist der Grund, warum ich so lange gewartet habe. Jemand hält den Schlüssel. Ich bin fast am Ende und habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin betrunken und kann meinen Heimweg nicht finden.“ Heute gibt es vier neue Versionen. Mal von Steve jung und live auf großer Bühne, mal gereift vor knisterndem Kamin, mal hochprofessionell von Steves Weggefährten Eric Clapton oder wackelnd mit Windgeräuschen und dem Smartphone aufgenommen. Ganz einfach: Finde deinen Weg nach Hause.

 

 

Fortsetzung folgt.

Der Standhafte

Am zweiten Tag des Jahres 2021 klingelt in Atlanta im Büro von Brad Raffensberger das Telefon. Es ist ein Samstag. Am anderen Ende ist das Weiße Haus. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bittet um ein Gespräch. Donald Trump hatte im Bundesstaat Georgia mit exakt 11.779 Stimmen gegen seinen Herausforderer Joe Biden verloren. Raffensperger ist Innenminister von Georgia und ein treuer Republikaner, zugleich oberster Wahlleiter. Raffensberger war bereits mehrfach von Parteifreunden bedrängt worden, das Ergebnis zu korrigieren. Bereits zwei Mal war daher nachgezählt worden. Biden blieb der Gewinner. Nun meldet sich der mächtige Trump höchstpersönlich. Raffensberger ist aufgeregt. Er startet ein Mittschnittgerät. Ein Anwalt seines Vertrauens hört mit.

Donald Trump fordert: „Also, ich will nur eins, ich will nur 11.780 Stimmen finden.“ Trump will erreichen, dass Raffensperger vor der Zertifizierung der Präsidentschaftswahl am 6. Januar im Kongress öffentlich erklärt, es lägen neue Beweise vor, die das Wahlergebnis infrage stellen. Der Mann aus Georgia betont immer wieder, die Wahl sei fair verlaufen und es sei korrekt ausgezählt worden. Trump behauptet weiter, unter den Wählern seien doch 5.000 Tote gewesen, während Raffensperger uneingeschüchtert erwidert: „Zwei. Die korrekte Zahl ist zwei.“ Trump bedrängt seinen Parteifreund: „Es ist nichts Schlimmes dabei, wenn du sagst, du hast – ähm – rekalkuliert“. Raffensberger, der als ein ruhiger, unauffälliger 65-jähriger Republikaner geschildert wird, bleibt standhaft. Er lehnt das Ansinnen des Präsidenten ab.

 

 

Nach dem erfolglosen Telefonat am 2. Januar 2021 attackiert Trump per Twitter seinen Parteifreund in Georgia. Der Innenminister Raffensperger habe sich geweigert, seine Fragen zur Wahl zu beantworten. Daraufhin schickt der als Lügner beschuldigte Mann aus Georgia den kompletten Mitschnitt des Telefonats an zwei Zeitungen. Vier Tage später, am Tag der Zertifizierung der Präsidentschaftswahl, ruft Donald Trump seine Anhänger in Washington auf, „die Integrität der Wahl zu garantieren und die amerikanische Demokratie zu verteidigen“. Fanatische Trump-Fans stürmen daraufhin das Capitol. Sie brüllen „U.S.A.“ und „Stop the Steal“. Bei der gewaltsamen Attacke auf den Kongress sterben fünf Menschen, darunter eine 35-jährige Trump-Getreue und ein Polizist.

 

 

Der aufrechte Konservative Brad Raffensberger steht mittlerweile unter Polizeischutz. Der Grund: Der Innenminister von Georgia hatte sich auf geltende Gesetze berufen und sich standhaft geweigert die seit Wochen wiederholte Dolchstoßlegende des Präsidenten zu unterstützen. Seitdem hat der Mann zahlreiche Morddrohungen erhalten. In einer SMS an seine Frau heißt es: „Dein Mann verdient es, erschossen zu werden.“

Wenn uns der Wind trägt

Verlängern und verschärfen, heißt es ein weiteres Mal. Die Hängepartie geht weiter. Stillgestanden. Zuhause bleiben. Ohne „triftigen Grund“ kein Freigang. Der unsichtbare Feind SARS-CoV-2 feiert seinen ersten Geburtstag. Die Regierenden stochern halbherzig herum: im Wirrwarr von RKI-Zahlen, Prognosen und eigenen politischen Überlebensstrategien. „Ich bin Politiker, mein Sohn, kein Held, und die Politik schafft keine Wunder. Sie ist so schwach wie die Menschen selbst, nicht stärker, ein Bild nur ihrer Zerbrechlichkeit“. Das lässt der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt seinen Herkules im Stall des Augias sagen. Schützen und Handeln müssen wir selbst. Da hilft kein Gott, keine Kanzlerin, kein Christian Drosten.

Mag das Leben noch so kompliziert sein, noch so viele Irrwege parat haben, Verletzungen, und Wunden, und manchmal auch aussichtslos erscheinen, der Wind wird uns tragen. Das singt die Indie-Band Noir désir aus Bordeaux. Vor zwanzig Jahren veröffentlichten die Franzosen ihre wunderbare Ballade Le vent nous portera über Hoffnungen, Freiheit und Zärtlichkeit. Ihre Botschaft: bloß keine Angst vor dem Aufbruch haben. Stets unabhängig bleiben, den eigenen Kopf zum Denken nutzen. Denn der Wind wird uns tragen. Ein geradezu Reggae-geprägtes Sommerlied voll französischer Leichtigkeit und großem Tiefgang. An der Gitarre Manu Chao, verfilmt von Regisseur Alexandre Courtes, millionenfach geklickt.

 

 

Der Überraschungshit Le vent nous portera wurde in den letzten Jahren vielfach gecovert. 2010 von der Schweizerin Sophie Hunger oder auch von Element of Crime, diese natürlich mit der üblichen melancholischen Grundierung der Berliner Skeptiker und Kultband. Der Wind weht trotzdem. Désir Noir: „Ich hab keine Angst vor dem Weg. Muss ihn sehen, ihn fühlen
Seine Windungen tief im Innern, und alles wird gut werden. Der Wind wird uns tragen.“

 

 

Le Vent nous portera

„Wenn die Flut steigt
Und alle Rechnungen beglichen werden
Nehme ich deinen Staub in die Leere meines Schattens
Der Wind wird ihn verwehen
Alles wird vergehen, aber
der Wind wird uns tragen.“

 

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Lamento 2020

Remember me … klingt es leise klagend aus dem Autoradio. “Vergiss mich nicht!” Wir sind alle fasziniert. Was für eine Stimme, was für ein Song! Später zuhause ein Blick in Dr. Google´s Zauberkiste. Die Spuren führen zu Annie Lennox, einem Lied, das sie vor zehn Jahren schon einmal aufgenommen hat und nun im Pandemie-Winter 2020 mit einem Londoner Chor neu interpretiert hat. Die Wege führen weiter zu Henry Purcell, diesem hochbegabten britischen Komponisten. Didos Lament stammt aus seiner Feder, um 1689 erblickte die Oper Dido und Aeneas das Licht der Welt. Didos Klage ist die berührende Arie „Wenn ich in die Erde gelegt werde“, ein Meisterstrück aus seinem Werk. Henry Purcell starb auf dem Höhepunkt seines Schaffens 1695. Da war er gerade Mitte dreißig.

 

 

Diese über dreihundertjahre alte Purcell-Klage ist zeitlos aktuell. Die unglückliche, am Herzen gebrochene Dido weiß keinen anderen Ausweg als selbst Hand anzulegen. Das kurze Memento ist so eindringlich, so melancholisch, so unter die Haut gehend. Annie Lennox erinnert die Todessehnsucht und Verzweiflung aus Purcells Oper an den Zustand unserer heutigen Gesellschaft. Ist Annie zu moralisch? Zyniker werden jetzt einwerfen, dass die Menschheit schon so häufig totgesagt wurde, nach dem Motto “am 30. Mai ist Weltuntergang…”

 

Henry Purcell. 1659-1695.

 

Annie Lennox begründet die Botschaft Didos und ihre neue Aufnahme 2020 mit den Worten, dass Menschen wahre Verdrängungskünstler sind. “Ich sehe Didos Lamento als ein Lamento für unseren sterbenden Planeten.”

 

Annie Lennox: „It’s been such an honour and privilege to have been able to create this unique event in collaboration with the London City Voices Choir during this unprecedented time of the 2020 Covid 19 pandemic. I’m deeply touched and grateful to my friend and co producer Mike Stevens and choirmaster Richard Swan for making this possible. Also, to each choir member who took part from their homes through the medium of ‘Zoom’. As a long term supporter of Greenpeace I am deeply concerned by the Global Climate Crisis, which I feel is the most urgent challenge we all have to face, particularly with regard to sustainability for future generations. I very much hope to be able to make a contribution by drawing attention towards this vital issue. Additionally, I feel a tremendous sense of empathy and concern for everyone who has lost a dearly beloved friend or family member this year and hope this recording can offer a moment of shared collective mourning for those whose lives have been taken.“

 

Annie Lennox 2010 in Wien. Quelle: Wikipedia

 

Vielleicht vermittelt dieses Lamento einen Impuls über unsere Welt im neuen Jahr 2021 nachzudenken und nicht den Kopf in den Sand zu stecken.

Vielen Dank für das Vertrauen in 2020. Alles Gute für meine Web-Leserschaft. Gesundheit, Glück und Selbstvertrauen.

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Jeder Tag ist ein Geschenk

Klaus Stuttmann.

“2020 war ein schlimmes Jahr, übellaunig, ungesund, angstbesetzt, maßregelnd, erlebnisarm und hygienisch”. So Deutschlands Dauer-Zeit-Erklärer Harald Martenstein, der jede Woche neu die Welt mit seinen Erkenntnissen beglückt. War das Corono-Jahr wirklich so schlimm, so übellaunig und angstbesetzt? Keineswegs. Ich bewunderte im Frühjahr die Nachtschicht in unserem Krankenhaus, wie immer chronisch unterbesetzt dafür rund um die Uhr erlebnisreich. Schwestern und Pfleger, die müde aber dankbar lächeln, wenn sie ehrenamtlich unterstützt werden. Ich bewunderte im Sommer Freunde, die an vielen Wochenenden im Jahr am Bahnhof Zoo in der Mission praktisch mithelfen, ohne großes Brimborium darüber zu veranstalten.

 

 

Ich bewunderte im Spätherbst die Kassiererin hinter ihrer Plexiglasscheibe, die trotz der x-ten Anmache, warum die Schlange so lange sei, irgendwann cool konterte: „Sie können ja gerne mit mir tauschen“. Ich bewunderte im Dezember die Swing-Musiker von der Andrej Hermlin Band, die seit dem 15. März ununterbrochen jeden Abend live auftreten, ob bei Minusgraden vor dem Brandenburger Tor oder bei ihren gestreamten Hauskonzerten, ohne Publikum, ohne Beifall. nur für einen Bettellohn, unverdrossen weiterspielend „bis die Krise vorbei ist“. Und ich bewunderte den Pianisten Igor Levit, der mit klammen Fingern die Rodung von Buchenwäldern musikalisch kommentierte. Was aber noch viel schöner ist: ich freute mich unbändig über das fröhliche Glucksen unserer beiden Enkelinnen.

 

 

„Ist´s auch grau und trübe – halt immer hoch die Rübe!“, konnte ich kurz vor der zweiten Schließung – im Neusprech: Lockdown II – auf einem Örtchen in Kreuzberg lesen, der zur Erleichterung dient. Natürlich nervt es mich maßlos, wenn ich erfahre, dass US-Milliardäre in diesem Jahr im Trump-Land Super-Gewinne eingefahren haben, dass allein bei uns die Zahl der Millionäre im Krisenjahr um sage und schreibe 58.000 Menschen gestiegen ist, während hunderttausende Familien und Rentner um jeden Cent kämpfen müssen oder im Flüchtlingslager auf Lesbos tausende Menschen in unwürdigen Verhältnissen gehalten werden.

Reich ist nicht derjenige, der viel hat sondern der wenig braucht, heißt es. Dieser Satz aus dem Repertoire der Nachhaltigkeitsbewegung soll keinesfalls zynisch klingen. Den überzeugendsten Spruch entdeckte ich in diesem Corona-Jahr jedoch bei der klugen, stillen und wunderbaren Dichterin Eva Strittmatter. „Die wirklich wichtigen Dinge sind kostenlos. Luft, Wasser, Liebe.“

Frohe Weihnachten und alles Gute für 2021.

Besuch beim alten Herrn

Es gibt Geschichten, die sind spannender als die fettesten Schlagzeilen. Diese geht so: Die Milliardärin Claire Zachanassian besucht hochbetagt das veramte Güllen. Die alte Dame beschenkt ihr Heimatstädtchen, aber nur unter einer Bedingung. Sie fordert den Kopf des Mannes, der sie in Jugendjahren schwängerte und seine Vaterschaft erfolgreich leugnete. „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. Gerechtigkeit für eine Milliarde.” Das Drama nimmt seinen Lauf. Der Plot stammt von Friedrich Dürrenmatt, dem Mann, der immer nach der „schlimmstmöglichen Wendung“ suchte. Vor dreißig Jahren ist der Schweizer Nationaldichter gestorben. Am 5. Januar 2021 können wir seinen 100. Geburtstag feiern. Der Dramatiker verstand sein Leben als Komödie. „Ich esse gerne, ich saufe gerne. Meine Zuckerkrankheit ist wahrscheinlich meine große notwendige Bremse. Wenn ich diese Bremse nicht hätte, wäre ich schon längst an meiner Gesundheit gestorben.“ Dürrenmatt wurde 69.

1956 erschien sein Welterfolg “Der Besuch der alten Dame”. Bis heute quält Dürrenmatt ganze Schülergenerationen mit seinen Werken, ob mit Der Besuch der alten Dame, Der Richter und sein Henker oder Die Physiker (1962). Vor seinem großen Durchbruch nagte Dürrenmatt jedoch am Hungertuch. Er war pleite. Vom Schreiben konnte der Anfang Dreißigjährige seine fünfköpfige Familie nicht mehr ernähren. Ehefrau Lotti: „Wir lebten von der Hand in den Mund.“ Doch Rettung nahte. 1952 rief der Schweizer Beobachter in der „Aktion Dürrenmatt“ seine Leserschaft zu Spenden auf. So könne trotz Kritik an seinen Frühwerken „ein dramatisches Talent allerersten Ranges“ gefördert werden.

 

Crowdfunding vor fast siebzig Jahren. 1952 suchte der Schweizer Beobachter „hundert geistig interessierte Menschen“, um das „Talent“ Friedrich Dürrenmatt zu unterstützen, der damals arm wie eine Kirchenmaus war.  Quelle: „Schweizer Beobachter“ v. 18.12.2020

 

Tatsächlich spendeten 170 Beobachter-Leserinnen und –Leser drei Jahre lang fleißig fünf Franken pro Monat. Eine frühe Form der Crowdfunding-Finanzierung, ohne Paypal aber mit dem Ergebnis von insgesamt 21.350 Franken (heutiger Wert knapp 100.000 Euro). Die Dürrenmatts brauchten das Geld dringend, obwohl sich Familienvater Friedrich anfangs lieber ein Segelboot kaufen wollte. Ehefrau und Freunde konnten ihn erfolgreich stoppen. Später sagte Dürrenmatt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes mit über 30 Millionen verkauften Büchern: „Ich lebe wie ein Millionär, aber ich kann nicht sparen.“

 

 

Kurz vor seinem Tod im Dezember 1990 bezeichnete sich Dürrenmatt selbst als einen „bankrotten, aus der Mode gekommen Komödienschreiber“. Was bleibt? Dürrenmatt-Gedanken wie diese: “Wer verzweifelt, verliert den Kopf. Wer Komödien schreibt, gebraucht ihn.” Wer mehr über den Schulschwänzer, Schweizer Hilfssoldaten, Fahndungsobjekt der Politischen Polizei von Zürich und Groß-Schriftsteller wissen will, kann demnächst das Centre Dürrenmatt Neuchâtel in seinem ehemaligen Wohnhaus in der Schweiz besuchen. Wiedereröffnet werden soll es am 24. Januar 2021 drei Wochen nach seinem 100. Geburtstag – wenn, ja wenn es die Corona-Pandemie zulässt.

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Im Hufschlag der Pferde

„Take Five“. Nimm den Fünfvierteltakt. Was für ein Geniestreich! 1959 bringt das weitgehend unbekannte Bruback-Quartett statt im üblich Vier-Vierteltakt ein Album im Fünfer-Rhythmus auf die Bühne. Eine kleine Revolution, ein großer Welterfolg. Was für ein Kontrast! Auf der Bühne sehen wir vier Herren in brav-biederen CIA-Anzügen, mit Kassenbrillen, schmalen Krawatten und in frisch geputzten Schuhen. Am Flügel David Bruback, als spießiger Mittelklasse-Mainstream-Musiker belächelt. Sein Jahrhunderthit „Take Five“ beschert ihm Weltruhm. Vor genau 100 Jahren wurde er als Sohn eines Cowboys in Kalifornien geboren. Bruback über seine Wurzeln: „Der Hufschlag des Pferdes ergab einen Rhythmus, und da kamen einige dieser polyrhythmischen Ideen her.“

 

 

David Bruback. Vater Vierzüchter. Mutter Klavierlehrerin. Drei der sechs Kinder widmen sich der Musik. Dave versucht sich an Strawinsky, spielt mit dreizehn aber lieber in einer Jazz-Band. Er perfektioniert sein Klavierspiel mit versetzten Blockakkorden. 1944 spielt er als Frontmusiker für verwundete US-Soldaten in Frankreich. 1951 gründete er sein Dave Bruback Quartet. Er ist der Motor eines neuen Quartetts, in dem das wunderbare Altsaxofon von Paul Desmond so verletzbar klingt. Dave: „Wenn zwei Musiker füreinander bestimmt waren, dann Desmond und ich.“  1959 schaffen die fantastischen Vier mit ihrem Album Time Out den Durchbruch. Die Auskopplung Take Five umrundet im Fünfviertel-Beat die ganze Welt.

 

 

Time Out wird das erfolgreichste Album der Jazzgeschichte. Take Five katapultiert den stillen Pianisten in die erste Liga der Jazz-Größen. Er tritt mit Größen wie Louis Armstrong oder George Gershwin auf. 1967 löst er seine Band jedoch wieder auf. Das war´s. Was ihn auszeichnet? Der Westcoast-Musiker engagierte sich zeitlebens gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Er verteidigte in den späten fünfziger Jahren seinen schwarzen Bassisten Eugene Wright gegen alle Anfeindungen. Für ihn zählte allein Musikalität, nicht die Hautfarbe. Ob in der Frontband in Frankreich oder in seinem Quartett.

 

Jazzlegende David Bruback (6.12.1920 – 5.12.2012) im Jahre 2008. Quelle: Wikipedia

 

Dave Brubeck starb im Dezember 2012 im gesegneten Alter von 92 Jahren. Sein neuer Fünferrhythmus hat alle Zeitgeistmoden und Kritiker überlebt. Sie schmähten ihn damals als Himbeerjazzer und seichten Unterhaltungsmusiker. Take Five lebt. Vieltausendfach variiert und immer wieder neu interpretiert. Bis heute.