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Görlitzer Blütenträume

Juni 1989. Der Bus rast durch die Straßen von Görlitz. Ein schwarz-weißer Streifen aus Gebäuden, Gassen und Plätzen huscht am Fenster vorbei. Hier abgestützte Balkone, dort ein gesperrter Straßenzug. Soll hier ein Kriegsfilm gedreht werden? Der Fahrer drückt auf die Tube. Das Ziel des Reisebusses mit seiner Ladung Journalisten an Bord ist die Stadthalle von Görlitz. Wie ein schwarzer Riese wartet der Jugendstilpalast am Ufer der Neiße. Ich bin Teil einer PR-Fahrt der DDR-Regierung, die stolz ihre „einseitigen Abrüstungsschritte“ in Görlitz verkünden will.

Um nichts Geringeres als den Weltfrieden geht es an diesem warmen Frühsommernachmittag. Die Medienmeute wird aus dem Bus komplimentiert. „Links rum, keine Sperenzchen, keine Extrawurst“, ruft der Aufpasser vom Internationalen Pressezentrum der DDR. Im Gänsemarsch eilen wir zu dem großen grauen Klotz. Wir, das sind ungefähr zwanzig westliche Korrespondenten von Presse, Funk und Fernsehen, die aus der DDR berichten. Internet übrigens konnten wir damals noch nicht einmal buchstabieren.

 

 

Im Innern des Saals sind große Transparente angebracht. „Friedensstaat DDR“ ist zu lesen. Dazu Blumenschmuck und ein Rednerpult. Wir werden eingewiesen. Nicht zu unterdrücken ist eine aufsteigende strenge Duftnote aus Schweiß und Gülle. Ein DDR-Offizier in schmucker Uniform erklärt, mehrere hundert Panzersoldaten der NVA seien in die Reserve entlassen und erste Kampftechnik abtransportiert worden. Ein anderer Redner betont, diese „Maßnahme“ beweise die Überlegenheit des Sozialismus. Man sei gespannt wie der Imperialismus auf die Friedensoffensive reagiere. Im Saal verteilt sich ein penetranter Geruch wie in der Bedürfnisanstalt .

Als ich mich nach Ansprachen und Militärmusik zu den Toiletten in die Katakomben begebe, schlägt mir die Quelle der Duftwolken entgegen. Bereits auf dem Weg zu den Toiletten stinkt es zum Himmel. Hier hat die DDR noch eine wichtige Zukunfts-Aufgabe vor sich, überlege ich bei der Rückfahrt im Bus, der mit überhöhter Geschwindigkeit die traditionsreiche sächsische Perle wieder verlässt. Uns sollte wohl der Anblick des Verfalls einer Stadt nicht zugemutet werden. Kein halbes Jahr später löst sich der „Friedensstaat“ selbst auf. Das Ende von potemkinschen Dörfern und Städten in den Farben der DDR.

Görlitzer Stadthalle. 1910 eingeweiht. Seit 2005 Leerstand.  Foto: Wikipedia

 

Und heute? Die einst prächtige Stadthalle, Ausdruck des Bürgerstolzes von Görlitz steht seit vielen Jahren leer. Der schwarze Kasten an der Neiße aus der Zeit des Kaiserreichs wirkt wie ein vergessenes Fossil. Görlitz kann sich zur Rettung des Konzerthauses aus dem Jahre 1910 nicht durchringen, heißt es. Zu groß, zu teuer, zu riskant. Droht das Ende eines traditionsreichen Hauses mit wechselvoller Geschichte und der weltweit einzigen Konzertorgel aus der Zeit des Jugendstils?

 

Stadthalle von Görlitz 1959. In der DDR ein „Kessel Buntes“ mit Boxkämpfen, Blumenschauen, Konzerten und Parteiveranstaltungen. Foto: Bundesarchiv

 

In diesem Saal für fast 2.000 Zuschauer traten weltbekannte Künstler wie Wilhelm Furtwängler mit seinen Philharmonikern auf. Hier verabschiedete die SPD ihr „Görlitzer Programm“ für die neue Weimarer Republik. Sie dauerte nur vierzehn Jahre. Hier predigte Anfang März 1945 Joseph Goebbels gegen den Untergang seines Systems an. Es sollte seine letzte öffentliche Rede werden. Eine gespenstische Veranstaltung. Goebbels peitscht die Menge auf. „Wir werden in diesen Kampf hineintreten wie in einen Gottesdienst.“ Die NS-Wochenschau vom März 1945 versucht in Nahaufnahmen entschlossene Volksgenossen einzufangen. Keine zwei Monate nach diesem bizarren Auftritt in Görlitz geht das Dritte Reich unter.

Was wird? Reifen neue Blütenträume?

Keiner weiß, ob es in Zukunft wieder Bälle, Boxkämpfe und Blumenschauen, Konzerte und Politinszenierungen geben wird, die vom Zukunfts-, Friedens- oder Durchhaltewillen künden. Damals beschlich mich in Görlitz ein merkwürdiges Unbehagen, diese krude Mischung aus lauter, dröhnender Propaganda und hartnäckigen Ausscheidungen aus dem Untergrund der Halle. Wenn Wände reden könnten, hätte der graue Jugendstilpalast viel zu erzählen.

Für 2025 ist die Wiedereröffnung geplant. Oder später. Aber vielleicht auch nie. In der Stadthalle von Görlitz sind schon viele Blütenträume geplatzt.

Halleluja

„Es ist ein guter Song, aber er wird von zu vielen Leuten gesungen“, sagte einmal Leonard Cohen. Allerdings verspüre er ein gewisses Gefühl von Genugtuung, weil er sich genau daran erinnern könne, dass seine US-Plattenfirma den Song nicht veröffentlichen wollte. „Sie dachten, er sei nicht gut genug.“ Nachdem der kanadische Singer-Songwriter Leonard Cohen (1934-2016) seinen Jahrhundertsong 1984 veröffentlichte, sind viele hundert Cover- oder Instrumentalversionen erschienen.

Die bekanntesten Halleluja-Covers kommen von Jeff Buckley, Rufus Wainwright und der A-Capella-Formation Pentatonix. Zu den zahllosen Musikern, die Halleluja in ihr Repertoire aufnahmen, gehören Annie Lennox, Sheryl Crow, Willie Nelson, Bon Jovi, Wir sind Helden, Paramore, Bono, Popa Chubby, Amy Macdonald, Lindi Ortega, Kinderstar Nora Foss Al-Jabri, Opernsängerin Renée Fleming, Danii Minogue, Pain of Salvation und – logisch – auch die deutsche Schlager-Königin Helene Fischer. Da darf natürlich eine Version auf Kölsch nicht fehlen. Zum Einstimmen eine funkige Interpretation von Judith Hill.

 

 

Auf Hochzeiten gehört Halleluja angeblich zu den meist gespielten Liedern. Vermutlich hat der Blockbuster „Shrek“ (2001) die Halleluja-Hymne im Soundtrack bis in die letzte Dorfkirche gespült. Ob Cohens Halleluja gespickt mit Fragen und Zweifel glückliche Ehen stiften kann, wird ein Geheimnis bleiben. Eher ist anzunehmen, dass nur wenige den eigentlichen Text kennen. Wer sich heutzutage traut, nimmt ein mögliches Scheitern „der Ehe bis an das Ende ihrer Tage“ wahrscheinlich sowieso stillschweigend in Kauf. Halleluja heißt übrigens  aus dem Hebräischen übersetzt „Lobet den Herrn“.

Cohens Urtext beschäftigt sich mit König David aus dem Alten Testament. Die äußerst eingängige Melodie mit Subdominante, Dominante wird „runter auf Moll und hoch zu Dur“ für einen „verwirrten König“ gespielt. Leonard Cohen hat seinen Text vielfach verändert und umgeschrieben. In den Neunzigern ließ er Bibelverweise einfach weg. „Vielleicht gibt`s ja einen Gott da oben“, fragt der Kanadier mit wachsendem Zweifel. Am Ende bleibt ein typischer Cohen Song – „ein kaltes und ein gebrochenes Halleluja“. Was für ein Sänger, was für ein großartiges Lied.

 

 

„Ich hörte, es gab einen geheimen Akkord,

den David spielte und der Gott gefiel.

Aber du scherst dich nicht wirklich um Musik – oder?

Also, es geht so: die Subdominante, die Dominante,

runter auf Moll und hoch zu Dur,

der verwirrte König komponiert Halleluja.

 

Dein Glaube war stark, aber du brauchtest einen Beweis.

Du hast gesehen, wie sie auf dem Dach ein Bad nahm.

Ihre Schönheit im Mondlicht überwältigte dich.

Sie hat dich an den Küchenstuhl gefesselt,

hat deinen Thron zertrümmert,

Deine Haare abgeschnitten.

Und deinen Lippen entlockte sie das Halleluja.“ (…)

 

 

Vielleicht gibt’s ja einen Gott da oben.

aber alles, was ich je von der Liebe gelernt habe, war,

wie ich jemanden erschieße, der schneller die Waffe zieht..

Und es ist kein Rufen, das du des Nachts hörst.

Es ist nicht jemand, der das Licht sah,

es ist ein kaltes und ein gebrochenes Halleluja.“

 

Originaltext Leonard Cohen.

Deutsche Übersetzung  Christian Bruns

Pulverfass Beirut

Rumms machte es, als 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat Anfang August 2020 in Beirut in die Luft flogen. Die Detonationswolke erinnerte viele an die erste Nuklearexplosion von Hiroshima, fast auf den Tag genau vor 75 Jahren. Apokalypse Beirut. Die Detonation war ein wirtschaftlicher, politischer und moralischer Super-GAU. Nach wie vor sind rund 300.000 Menschen obdachlos – in einem Staat, der längst dem Abgrund entgegentaumelt.  Warlords und räuberische Kaufleute regieren mit eiserner Hand das einst blühende Land im Nahen Osten. Jahrzehntelanger Bürgerkrieg, Korruption und Wirtschaftskrisen nehmen dem  Libanon jede Luft zum Atmen. Als „Krönung“ nun die apokalyptische Explosion in Halle 12, wahrscheinlich Folge unglaublicher Schlamperei. Der Hafen von Beirut ist der „Ground Zero“ auf dem Pulverfass Beirut.

 

Rasha Salti. Autorin, Kuratorin aus Beirut. Jahrgang 1969. Quelle: Twitter

 

„Wir Opfer, Zeuginnen und Alltagsmenschen werden ausnahmslos als Kollateralschaden angesehen“, schreibt Rasha Salti. Die 51-jährige Autorin mit Wohnsitz in Beirut und Berlin weiter: „Für unsere gewählten und ernannten Amtsträger, für unsere Sicherheitsbehörden, für feindliche Armeen und Führer, für Diplomaten, Bankenkonglomerate und globale Wirtschaftsführer sind wir ein Kollateralschaden ihres Strebens nach Macht und Kontrolle“. Opfer der Katastrophe forderten in ersten Fernsehinterviews voller Wut und Verzweiflung, „alle politischen Führer auf der Mülldeponie Normandy zu entsorgen“.

Autorin Salti setzt weiter auf die Zivilgesellschaft. Ihr Prinzip Hoffnung gegen Anarchie und Chaos: „Wir sind kein wehrloses, dumpfes Objekt von Verachtung, Zerstörung und Enteignung“. Salti ist nicht allein. Die Jugend begehrt auf. Mit dabei die libanesische Kultband Mashrou’ Leila. Die fünf Jungs, deren Bandname ungefähr „nächtliches Projekt“ bedeutet, sind unglaublich erfolgreich. In einigen arabischen Ländern verboten, sind deren Konzerte innerhalb kürzester Zeit auch ohne Werbung ausverkauft. „Kul mamnou’a marghoub“ heißt ein arabisches Sprichwort – „alles Verbotene ist begehrt“. Frontmann Hamed Sinno gilt als der„Freddy Mercury des Nahen Ostens“. Der Sänger ist offen schwul, ein absolutes Tabu-Thema in der arabischen Gesellschaft.

 

 

Ihre Lieder sind keineswegs hochpolitisch, aber es reicht schon auf offener Bühne von der Sehnsucht nach Liebe und Freiheit zu singen. Jede Anspielung wird verstanden. Gegründet hat sich die Band 2008 an der Amerikanischen Universität von Beirut: Hamed Sinno, Haig Papazian, Carl Gerges, Ibrahim Badr und Firas Abou Fakher jammten auf nächtlichen Sessions. Mitbegründer Firas Abou Fakher: «Es gab wenig arabische Musik, mit der wir uns als junge Erwachsene identifizieren konnten. Wir wollten innovative arabische Musik machen. Mit Texten über Dinge, die wir erleben und erfahren, aber über die man hier nicht spricht.»

Die Musiker sind nicht nur in ihrer Heimat Superstars. Weltweit haben Mashrou’ Leila allein auf Facebook weit über eine halbe Million Fans. Zu ihren Songs singt und tanzt eine junge, multi-nationale Fangemeinde, die in der Regel gar kein Arabisch versteht. Die Themen von Mashrou’ Leila sind universell. Sie streiten für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Für Toleranz und Menschenrechte, gegen Diffamierung und religiösen Fanatismus. Auch Autorin Rasha Salti gibt sich trotz der jüngsten Katastrophe von Beirut zuversichtlich. „Wir schreiben Geschichte, und wir werden unsere Zukunft schreiben.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“

Luft zum Atmen. Das ist wichtig für jeden einzelnen von uns. Egal wann, egal wo. Ob für die Kassiererin bei Lidl oder den Pfleger im Heim. Ob für den Zuwanderer aus Damaskus oder die Künstlerin in ihrer Kreativwerkstatt. Frei zu denken, frei zu reden, frei zu handeln. Frische Luft ist besonders wichtig in aufgeladenen Corona-Zeiten wie diesen. Wer will schon künstlich beatmet werden? Ein neues Phänomen zieht derzeit Kreise, das freiem Denken die Luft zum Atmen nimmt. Der Zeitgeist taufte es Cancel Culture. Was ist das? Wohin führt das?

„Cancel Culture“ ist ein Internet-Phänomen. Problematische oder missliebige Äußerungen werden via Twitter oder Facebook – oder was auch immer – kritisiert und die betreffende Person, besonders gerne Prominente im Netz „gecancelled“. Quasi von der Liste gestrichen, wie eine Zugverbindung. Die Person kommt an den digitalen Pranger, wird moralisch verurteilt und zum medialen Abschuss freigegeben. Ziel der Eskalation: Absage von Veranstaltungen und/oder abweichende Positionen verstummen zu lassen. Ist das nun Zensur oder politische Korrektheit? In letzter Konsequenz geschieht schleichend etwas noch perfideres. Selbst-Zensur. Sie ist viel effektiver als Zensur. Damit erstickt die politische Korrektheit am Ende jede Kreativität. Das ist die faustische Kraft, die das Gute will, aber das Böse schafft.

 

 

Der australische Sänger Nick Cave gilt als großer Grübler, Melancholiker und Untergangsprophet. Der in England lebende Kult-Musiker hat sich in die Cancel-Debatte aktiv eingeschaltet. Auf seiner Website beantwortet er Fragen seiner Fans. Er schreibt: „Barmherzigkeit ist ein Wert, der im Zentrum jeder funktionierenden und toleranten Gesellschaft stehen sollte. Barmherzigkeit erkennt letztendlich an, dass wir alle unvollkommen sind und ermöglicht uns so den Sauerstoff zu atmen – und uns durch unsere gegenseitigen Fehler in einer Gesellschaft geschützt zu fühlen. Ohne Gnade verliert eine Gesellschaft ihre Seele und verschlingt sich selbst.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“.  Die Original-Ausgabe. Nick Cave schrieb in den Achtzigern seinen ersten Roman in Berlin. Es geht darum, dass Menschen fürchten, was sie nicht verstehen.

 

Nick Cave weiß, wenn das Schicksal plötzlich mit voller Härte zuschlägt. Der Sänger verlor seinen Sohn Arthur. Der Junge stürzte mit fünfzehn Jahren von der britischen Steilküste, nachdem er mit einem Freund einen LSD-Trip ausprobiert hatte. Der Tod seines Sohnes hat ihn geprägt. Cave zitiert Bob Dylan. „Death is not the end“. Immer wieder testet Cave die Grenzen des Sagbaren aus. Auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Kern unserer Existenz. Seinen Roman „Und die Eselin sah den Engel“ schrieb er in den Achtzigern in Kreuzberg. Cave forschte nach den Gründen für die Unmenschlichkeit des Menschen zum Menschen. Dass sie fürchten, was sie nicht verstehen.

Über die neuen Internet-Kämpfe sagt Cave: „Die Weigerung der Cancel-Culture, sich auf unangenehme Ideen einzulassen, erstickt die kreative Seele einer Gesellschaft. Politische Korrektheit hat sich zur unglücklichsten Religion der Welt entwickelt. Ihr einst ehrenhafter Versuch, unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten, verkörpert nun all die schlimmsten Aspekte, die eine Religion zu bieten hat, und nichts von ihrer Schönheit, – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, die selbst der Fähigkeit zur Erlösung beraubt ist.“

 

 

Luft zum Atmen ist überlebenswichtig. Man braucht sie auch zum Denken.

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Mit dem Kopf durch die Wand

Wozu sind Menschen fähig? Wann verweigern sie sich? Eine alte Formel sagt: Vierzig Jahre Machterhalt sind ein einigermaßen verlässlicher Richtwert. Vierzig Jahre brauchte es, bis Moses sein Volk ins Gelobte Land führen konnte. Vierzig Jahre hielt das DDR-Versprechen einer neuen Gesellschaft, bis sie zusammenbrach. Seit über dreißig Jahren regieren die neuen Masters of the Universe. Die gutverdienenden Piloten des Turbo-Kapitalismus. Die smarten Chefs von Amazon bis Google. Auch sie versprechen eine bessere Welt.

 

Letzte stumme Zeugen. Ein versteckter Wachturm in Berlin-Köpenick im Sommer 2020. Ort: eine ehem. Ausbildungsstätte der Grenztruppen, heute ein Schrottplatz.

 

Die DDR sicherte ihr „Paradies“-Versprechen mit Hilfe von Mauern und einem hoch gerüsteten Apparat. In vierzig Jahren Grenze standen über 500.000 Deutsche in der Uniform der DDR-Grenztruppen. Wer waren diese Menschen? Wie denken Sie heute? – Sie hatten mit der Waffe den Schutzwall gegen Imperialismus, Revanchismus und Faschismus zu verteidigen. So verklärte die SED-Propaganda bis zum letzten Tage ihr Monument der Abschottung. Viele Familien in der DDR hatten Angehörige, die „an die Grenze“ mussten. Sie wurden nach der Wende Unternehmer, Verleger, Bürgerrechtler, Immobilienmakler, SED-Opferbeauftragter oder Ministerpräsident. Das Schweigen über ihre Grenz-Erfahrungen ist das einigende unsichtbares Band, das sie verbindet.

 

Gescheiterte Flucht mit Citroen im Mai 1989 am Grenzübergang Stolpe zu West-Berlin. Der 27-jährige Fahrer überlebte schwerverletzt und wurde festgenommen. Ein halbes Jahr später wird der Weg für alle frei. Quelle: BSTU

 

Nach Jahren der Recherche konnte ich das Vertrauen von einigen Ex-Grenzern gewinnen. Mich interessierte, wie die damals 18- bis 20-jährigen mit der Last ihrer Verantwortung umgingen. Denn das System überließ am Ende jedem einzelnen Soldaten ein folgenschweres Dilemma. Was tun, wenn plötzlich im Abschnitt jemand flüchten will? Schießen oder laufen lassen? Ein irrer Konflikt, der meine Gesprächspartner bis heute belastet. Ich lernte, dass einige aus Idealismus, andere aus Überzeugung, die allermeisten jedoch ängstlich und total gestresst ihre Zeit an der Grenze absolvierten. Der innerdeutsche Todesstreifen war das Kainsmal der DDR. Bei „Grenzalarm“ war auf Flüchtlinge zu schießen war, um „Grenzverletzer“ wie es in der Vergatterung hieß, zu „vernichten“.

 

Lied der Grenzer, 1981

„Wir Grenzsoldaten halten Wacht, sind nicht zu überlisten. An unseren Grenzen bricht die Macht der Imperialisten. Es hat sich schon so mancher hier den Schädel eingerannt. In unser Haus geht´s durch die Tür und nicht durch die Wand.“

 

 

Die ganze Perfidie dieses Grenzregimes zeigte sich nach der Einheit. Für Kalte Krieger blieben DDR-Grenzer eine „Mördertruppe“. SED-Altkader sprachen hingegen von westlicher „Siegerjustiz“. Die Folge: Abertausende Menschen im einstigen Sperrgebiet zogen sich zurück, verhüllten sich mit einem dicken Mantel des Schweigens. Grenzer wurden nach der Stasi zum Sündenbock, zum Symbol des Scheitern eines Systems. Bloß nichts sagen! Vergessen jedoch wird, dass die Grenzsoldaten in der Stunde ihrer größten Niederlage ihren wichtigsten Erfolg errangen. Sie ignorierten in der Nacht der Maueröffnung bestehende Befehle und folgten dem gesunden Menschenverstand. Sie standen am 9. November 1989 an der Seite des Volkes. So machte die Nationale Volksarmee ihrem Namen als Armee des Volkes alle Ehre.

 

Pariser Platz und Brandenburger Tor. Das Symbol der deutschen Teilung. Aufnahme aus dem Sommer 1989. Quelle: BSTU

 

Im September 2020 ist meine 45-minütige ZDF-Dokumentation im ZDF-Hauptprogramm und auf ZDF-Info zu sehen. Hier bereits vorab online  „Am Todesstreifen – DDR-Grenzer erzählen“

„Halts Maul“

Unglaublich. Gleich drei hohe Richter sitzen auf der Anklagebank. Der König lässt die Kammergerichtsräte Ransleben, Friedel und Graun bei sich antreten, um ihnen im Berliner Schloß so richtig die Leviten zu lesen. Einer der Juristen verteidigt wortgewandt sein Tun. „Canaille, halts Maul!“, tobt der Herrscher, genannt der Alte Fritz oder auch Friedrich der Große. Wir schreiben den 11. Dezember 1779. An diesem Tag herrscht dicke Luft im Schoss. Preußen-König Friedrich II. beschuldigt die Herren Richter seinen Namen missbraucht zu haben. Er droht mit „Aufhängen lassen!“. Als Großkanzler von Fürst die Gerichtsräte verteidigen will, wirft ihn der König raus: „Marsch. Seine Stelle ist schon vergeben!“

 

Müller Arnold aus Pommerzig. Wurde ihm das Wasser abgegraben? War er Opfer von selbstherrlichen Richtern? Ein Fall von klassischer Willkür? Ja, sagte der König und handelte.

 

Was war geschehen? Der einfache Müller Arnold aus dem östlichen Oderbruch hat längere Zeit seinen Erbzins nicht bezahlt. Daraufhin verklagt ihn der Gläubiger Graf Schmettau. Der Gutsherr gewinnt. Müller Arnold akzeptiert das Urteil nicht. Das Urteil sei pures Unrecht. In Eingaben erklärt der Müller aus Pommerzig, der Landrat von Gersdorf habe oberhalb seiner Mühle Karpfenteiche angelegt und ihm buchstäblich das zum Mahlen notwendige Wasser abgegraben. Die Richter bleiben stur. Der Müller verfasst Briefe an den König. Dieser ordnet postwendend eine Untersuchung der „Vorgänge“ an.

 

Post an den König. Das heutige Postamt in Pomorsko, Polen. Bis 1945 Pommerzig, Oderbruch, Neumark. Die Heimat von Müller Arnold.

 

Dann handelt Friedrich II. Er lässt sogleich die Kammergerichtsräte ins Gefängnis einsperren. Den Zivilprozess entscheidet er höchstpersönlich. Das Urteil des Königs: Der Müller erhält seine Mühle zurück und die „ungerechten“ Richter müssen den Schaden ersetzen. Ihre einjährige Haftstrafe haben sie in der Festung Spandau zu verbüßen. Gnadengesuche werden verworfen. Des Königs Prinzip: Ohne Gerechtigkeit keine Gnade. Die drei Kammergerichtsräte müssen ihre Strafe bis auf den letzten Tag absitzen.

Zudem veröffentlicht der König in der »Spenerschen Zeitung« am 14. Dezember 1779 einen Hinweis an alle Juristen „die strengste Unparteilichkeit aufs schärfste anempfehlen“ zu lassen. „Prinz und Bauer, Bettler und König“ seien „vor der Justiz gleich“. Hart, aber fair. Der Mythos vom strengen, aber gerechten König wird perfektioniert. Nur auf dieser Grundlage habe Justiz in Preußen zu funktionieren. Prozesse seien ohne Ansehen von Person, Herkunft oder Stand zu führen.

 

Hart aber fair? Sein Einschreiten im Fall des Müllers Arnold nährte den Mythos von Friedrich II. „Ohne Ansehen der Person. Gesetze gelten für alle. Ob für König oder Bettler.“

 

Die Geschichte vom Müller Arnold ist längst vergessen. Aber sie erzählt von Mühlen, die mahlen. Die ausnahmsweise sogar gerecht mahlen. Was für eine wunderbare königliche Schnurre! Zur Vollständigkeit jedoch muss ergänzt werden. Nach dem Tode des Alten Fritz wurden die drei Richter im Müller-Arnold-Fall rehabilitiert. Nachfolger Friedrich Wilhelm II. erklärte sie für unschuldig, das Verfahren sei „ungerecht gewesen“. Er stellte die Gerichtsräte wieder ein und entschädigte sie. Auch weil der brave Müller Arnold ein wenig gemogelt hatte. Tatsächlich hatte er trotz der Karpfenteiche noch weiter Wasser auf seinen Mühlen, angeblich oder vermutlich nur etwas weniger. Der Alte Fritz aber blieb zu Lebzeiten davon unbeeindruckt. Gegen die Großen, erklärte er, sei ab und an ein abschreckendes Beispiel vonnöten.

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Hellwach

Am 25. August 79 n.Chr. brach der Vesuv aus. Der Untergang von Pompeji war eine der großen Naturkatastrophen jener Epoche. Kurz zuvor hatte Plinius der Ältere die Legende vom wachsamen Kranich überliefert. Der Kern seiner Geschichte: Wenn der Wachkranich einschläft, während die anderen Kraniche vertrauensvoll ruhen, ruft ihn der fallende Stein zurück zur Pflicht. Die Menschen am Vesuv hörten den Stein nicht fallen. Plinius kam wie die allermeisten Bewohner von Pompeji ums Leben. Nur seine Geschichte vom Kranich hat überlebt.

Der hellwache Kranich steht für die Sehnsucht vieler Menschen nach einem fürsorglichen Verhaltensideal und einer verantwortlichen Instanz. Im Mittelalter diente der Kranich mit dem Stein als Symbol der Caritas. Im 19. Jahrhundert wählte die Berliner Bankiersfamilie Mendelssohn den majestätischen Vogel zu ihrem Siegelmotiv. Motto: Eine(r) wacht für alle anderen. So sollte ab 1839 der „Kranich mit den Stein“ das Prinzip der ökonomischen und sozialen Verantwortung verkörpern. Eine Botschaft im Sinne der Aufklärung. Die Nazis liquidierten ein Jahrhundert später das erfolgreiche jüdische Bankhaus. Der Stein fiel. Der Kranich wurde erschlagen.

 

Kranich mit dem Stein. Symboltier des Bankhauses Mendelssohn in Berlin.

 

Die modernen Kraniche von Blackrock, Wirecard, Google und Facebook etc. folgen einem anderen Leitstern.

Ihr Leitbild ist das – Be First. Sei Erster, nimm alles mit, jeden Stein.

  • Dieser Zeitgeist liebt die Wertung, die Klassifizierung, die Einteilung in Top und Flop, in Ranglisten und das Verkäufliche.
  • Für diesen Zeitgeist muss alles sofort Bedeutung und Sinn haben. Es muss nützlich sein. Was keine Funktion, was nicht funktioniert, taugt nichts, wird missachtet.
  • Dieser Zeitgeist bedeutet ständige Kommunikation, ununterbrochenes Geplapper, mediale Berieselung und dauernde Erreichbarkeit.
  • Der Zeitgeist setzt bei allem Kult um das Schrille und scheinbar Überraschende doch auf das Bekannte, auf Sicherheit und Wiederholung.
  • Dieser Zeitgeist ist vernarrt in das Große, das Bombastische, in Superlative, Rekorde, in Geschwindigkeit und Raserei.

 

Selbstverständlich ist das nur meine bescheidene Sicht der Dinge. Selbstverständlich hat unsere Welt viel mehr Farben, Schattierungen und Zwischentöne. Gott sei Dank. Meine Beobachtung bezieht sich auf Leitbilder in etablierten und sozialen Medien, in der 24/7- Welt von Facebook, Instagram, Twitter und wie sie alle heißen. Zu wünschen wären viele Kraniche, die den Stein fallen hören. Die hellwach bleiben und sich doch nicht völlig einlullen lassen.

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Esbjörns Elevation

Wir leben in einer Welt, „in der ein falscher Tweet, ein falsches Wort sofort sanktioniert wird. Das führt bei vielen zu angstvollem Schweigen und gereinigter Sprache“. Das notiert die Schriftstellerin Eva Menasse. Ist das die Lage? Die einen fürchten sich vor Flüchtlingen, andere vor Corona, wiederum andere vor dem Internet. Der populäre Pranger. Unser Marktplatz für virtuelle Inquisition, Einschüchterung, Drohungen. Früher wurden Abweichler ans Kreuz genagelt oder verbrannt. Jesus, Jeanne d´Arc, Galileo Galilei… die Liste ließe sich beliebig verlängern. Natürlich alles im Namen der Moral und Reinheit der Lehre.

Ich widerrufe. Anklage und Unterwerfung. Eine unheilige Tradition. Die Menschheitshoffnung des letzten Jahrhunderts – angetreten als Sozialismus – hat besonders bizarre Blüten hervorgebracht. „Falls nötig, kann das Geständnis noch ausführlichere, detailliertere und präzisere Formen annehmen.“ So Nikolai Iwanowitsch Bucharin vor seinen Richtern im Moskauer Schauprozess. Unter der Anklage der Spionage wusste sich Bucharin, ein kluger Philosoph und Wirtschaftstheoretiker, nicht anders zu rechtfertigen. Sein Vergehen? Er kam vom rechten Weg ab. Das war in Stalins Reich zu viel.

 

Eine Kunst. Den richtigen Ton zu finden.

 

Genosse Vordenker Bucharin galt lange als „Liebling der Partei“ (Lenin) und „Gehirn des Kommunismus“ (Ruth Fischer). Er wurde am 13. März 1938 im Alter von fünfzig Jahren erschossen. Hingerichtet mit dem früheren Geheimdienstchef Genrich Jagoda und weiteren ehemaligen Spitzenfunktionären. NKWD-Chef Nikolai Jeschow beaufsichtigte persönlich die Exekution. Er ließ Bucharin zusehen, wie die anderen Verurteilten vor ihm erschossen wurden. Auch den Genossen Geheimdienstchef Jeschow ereilte das Schicksal der „Säuberung“. Er wurde am 4. Februar 1940 erschossen. Die Revolution fraß ihre Kinder.

Wollen wir im gegenwärtigen Empörungsmodus wieder zurück auf solche Wege? Facebook, Twitter und Telegram als Stalinorgeln des 21. Jahrhunderts? Andersdenkende, Abweichler, Politisch Unkorrekte am Ende an die Wand stellen?

 

 

Das Netz fasziniert mich. Das Internet, gut 25 Jahre alt, ist längst unser tägliches Brot. Das Salz in der Suppe des Lebens. Mir hilft eine Sache zuverlässig, wenn ich mal wieder keine Antworten auf meine Fragen finde. Musik. Für mich die beste aller Möglichkeiten. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Wie wäre es mit Esbjörn Svensson? Ein Tastenvirtuose der Extraklasse. Ein Schwede, der das gewisse Etwas in den Fingern hatte. Leider hatte. Denn er ertrank beim Tauchen. Sein Sohn wartete am Ufer auf ihn. Elevation of love hat er uns geschenkt. Eines seiner vielen wunderbaren Stücke. Eine wohltemperierte Alternative zu den dauerempörten Anklägern im Netz – ob mit dem Gender* oder ohne *.

Jagende, die im Namen der Reinheit der Lehre alles Menschliche säubern wollen. Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, ihren kleinen und großen Dummheiten.

 

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Zugführer 1.Klasse

Vorsicht an der Bahnsteigkante! Martin Dibobe beherrschte diese Ansage aus dem Effeff. Zurückbleiben! Dann beschleunigte er seine Elektrische und fegte mit dem hochmodernen Zug über die Hochbahn zwischen Schlesischem Tor und Zoologischer Garten. U-Bahn-Linie 1. Etwas Neues, etwas Besonderes in Berlin. Zur News aber brachte es Martin Dibobe als „Neger-Zugführer“. So porträtierte ihn im Juli 1902 die Berliner Illustrierte Zeitung. Eine Sensation: Der erste Schwarzafrikaner als Zugführer 1. Klasse und Beamter auf Lebenszeit. Verheiratet mit der Tochter des Vermieters vom Prenzlauer Berg. Zwei Kinder.

 

„Dunkle Lebensgrundlagen“. Porträt über Martin Dibobe in der Berliner Illustrierten Zeitung. 15. Juli 1902

 

„Durch Fleiß und einwandfreies Betragen habe ich mir eine Vertrauensstellung erworben“, sagte Martin Dibobe. Das kam im preußischen Kaiserreich bestens an. In einer aufregenden Zeit als die aufstrebenden Hohenzollern ihren „Platz an der Sonne“ ergattern wollten. Um jeden Preis. Also unterwarfen deutsche Truppen ferne Länder. Rohstoffe, Einfluss und Weltgeltung als Ziel. Dieser Wettlauf endete im „Großen Krieg“, im I. Weltkrieg. Deutschland verlor seinen Platz an der Sonne und alle Kolonien. Tansania, Namibia, Ruanda.

1876 als Quane a Dibobe in eine Häuptlingsfamilie in Kamerun hineingeboren besuchte er eine Missionarsschule. Als bestauntes Exponat gelang er als Zwanzigjähriger auf abenteuerliche Weise nach Berlin. Er wurde im Rahmen der „Völkerschau“ im Treptower Park ausgestellt. Das war 1896, als er als „Naturneger“ in einem kolonialen Menschenzoo als Attraktion vorgeführt wurde. Dibobe blieb in Berlin und machte einen fulminanten Aufstieg. Er lernte Schlosser bei Siemens, stieg rasch vom einfachen Schaffner zum Zugführer der Linie 1 auf. Im Alltag beobachtete er genau sein Umfeld. Er sah den Kampf der Arbeitermassen für ihre Rechte. Sollte das nicht auch für Afrikaner gelten?

 

Martin Dibobe in schmucker Uniform der Berliner Hochbahngesellschaft. Zu finden ist dieses Bild am Durchgang im U-Bahnhof Halleschen Tor.

 

Nach dem Ende des I. Weltkrieges reichte Zugführer Dibobe im Juni 1919 eine Petition an den neuen Reichspräsidenten Ebert ein. Im Namen der 17 Unterzeichner versicherte Dibobe seiner Heimat Deutschland „unverbrüchliche, feste Treue“ und verurteilte „den Raub der Kolonien“. Dann kam er auf seinen zentralen Punkt: „Die Eingeborenen verlangen Selbstständigkeit und Gleichberechtigung.“ Ferner forderte die Eingabe „das Ende von Prügelstrafen und Zwangsarbeit, von Misshandlungen und Beschimpfungen. Außerdem gerechte Löhne, die Schulpflicht, das Recht zum Studium sowie zur Ehe zwischen Eingeborenen und Weißen“. Ein wahres Zeitdokument vom Streben nach Gleichberechtigung

Dibobe bekam nie eine Antwort. Nicht vom Reichspräsidenten, nicht von der Nationalversammlung, schon gar nicht vom Reichskolonialamt. 1922 kehrte Dibobe nach Kamerun zurück. In seiner alten Heimat wurde er  als „deutscher Spion“ und „Aufrührer“ von den französischen Kononial-Behörden abgewiesen. Er starb vermutlich in Liberia. Dibobe hinterließ eine großartige Geschichte vom exotischen Schauobjekt bis zum Zugführer 1. Klasse und Vorkämpfer für Menschenrechte.

 

 

Genau einhundert Jahre ist seine Resolution alt. Was hat sich geändert? Antworten kann jede(r) selbst suchen und finden. Berlin streitet in diesen Tagen um einen neuen Namen für den U-Bahnhof Mohrenstraße. Wie wäre es mit Martin Dibobe, diesem schmucken Mann von der Linie 1 und längst vergessenen Pionier? Er hätte es verdient.

Marley auf Malta

Die Sonne knallt unerbittlich auf die kleine Felseninsel. Die Mauern glühen. Mittagszeit. Siesta. Niemand ist unterwegs in den Gassen von Valletta. Aus der Bar an der Ecke dröhnt der Meister. Bob Marley auf Malta. Could you be loved. Verdammt lang her. Sommer 1980. Als das Fernweh das Laufen lernte. Jedenfalls für mich. Mein erster Flug. Mit einer Linienmaschine von Air Malta direkt auf die winzige Insel umgeben vom Glitzern des blauen Mittelmeers. Sonne, Felsen, Meer. Wuchtige Kathedralen und stille Gassen. Linksverkehr und bunte Linienbusse. Fish and chips und der King of Reggae.

 

 

Und heute? Fern-Reisen ist nicht mehr. Oder noch nicht. Verreisen geht am besten im Kopf oder mit dem Finger auf der Karte, wie früher. Reisen wir also coronafrei in unsere Erinnerungen. Damals durfte ich bei maltesischen Freunden wohnen. Sie führten mich ihren Freunden wie eine Trophäe vor. „Look, Chris from Germany“. Außer ein paar deutschen Sprachurlaubern war Malta weitgehend unbefleckt vom Pauschaltourismus. 1980 feierten die Malteser mit viel Wumms und bunten Feuerwerken ihre katholischen Maria-Feste. Demonstrierten mit grünen Fahnen vor der mächtigen lybischen Botschaft, um die Freundschaft mit al-Gaddafi zu untermauern. Scheidungen waren verboten, während meine Gastgeber vom Auswandern nach Australien oder wenigstens nach London träumten.

 

 

Es waren drei herrliche Wochen. Bob Marley erklang aus jeder Musikbox, wurde auf jeder Party gespielt. Could you be loved? Ich kritzelte ein abgeschriebenes Liebesgedicht auf die Postkarte, um die Zeilen nach Berlin zu schicken.

 

“Ich will schlafen ohne ein Kissen.

Ich will essen ohne einen Tisch.

Ich ohne Dich, Du ohne mich,

das will ich nicht.

Du bist die Türklinke zu meiner Tür.“

 

Die knallbunte Malta-Karte mit meinen geborgten Liebesgedicht war viele Wochen lang unterwegs. Sie musste den beschwerlichen Weg über den Eisernen Vorhang antreten, bis sie schließlich in der Hauptstadt der DDR irgendwann bei meiner Liebsten eintraf. Eine Kopie habe ich in meiner Akte gefunden. Daher weiß ich noch von den Zeilen hinter die Mauer. Mein Dank an die aufmerksamen Genossen vom Sammelverein MfS.

Bob Marley war in diesen Malta-Wochen mein Gott. Der Mann mit den Rastalocken, dessen Vater ein weißer sechzigjähriger Plantagenaufseher in Jamaica war, der eine Affäre mit einer Achtzehnjährigen hatte. White Boy war Bob Marleys Spitzname in Jugendzeiten. Mit 21 jobbte er beim Autokonzern Chrysler am Fließband im US-amerikanischen Städtchen Wilmington/Delaware. Bevor er zur Ikone aufstieg, als Musiker, als Messias für viele Unterdrückte und King of Reggae. No woman, no cry. Stir it up. One Love, Don´t give up…

 

Bob Marley wäre in diesem Jahr 75 geworden. Er verstarb am 11. Mai 1981 auf dem Rückflug von Deutschland, wo er zur Behandlung weilte. Bei der Zwischenlandung in Miami brach er 36-jährig zusammen. Der Krebs besiegte ihn. Den Vater von zwölf Kindern, elf leiblichen und einem Adoptivkind. Doch seine Musik ließ ihn unsterblich werden. Sohn Ziggy (*1968) trat in die Fußstapfen seines Vaters und besingt nach wie vor den Buffalo Soldier oder interpretiert genial den Malta-Song von 1980 Could you be loved. Als käme der Marley-Hit gerade in der Mittagshitze aus der Musikbox von der Bar an der Ecke.