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Ten years after

Ein Samstagnachmittag. Mitte Juni 2008. Zeit für Experimente. Plötzlich eine Unachtsamkeit. Ein kurzer Moment der Irritation. Es wurde ein Schicksalsschlag. Esbjörn Svensson starb vor genau zehn Jahren bei einem Tauchunfall im Hafen seiner Heimatstadt Stockholm. Die Umstände konnten nie geklärt werden. Besonders tragisch: sein fünfzehnjähriger Sohn Ruben wartete am Hafenbecken, war beim Unglück dabei.

Aus und vorbei. Esbjörn, der begnadete Virtuose, war einfach nicht mehr da. Der Mann, der mit seinem innovativen Spiel Jazz und Rock neu erfand. Dessen Energie bei seinen Live-Auftritten legendär war. Esbjörn Svensson wurde 44 Jahre alt. Nun erinnert ein bisher unveröffentlichtes Live-Album, mitgeschnitten bei einem Konzert in London an den großen Jazz-Pianisten. Es heißt: „Mingle In A Mincing Machine“.

 

 

Frei übersetzt bedeutet das ungefähr in einen Fleischwolf geraten. Björn Svensson liebte Herausforderungen. Grenzüberschreitungen. Experimente. So spielte er sich in die Herzen seiner Fans und entwickelte sich zu einem der ganz großen Jazz-Pianisten des 21. Jahrhunderts. Cool, improvisationsstark, voller Gefühl und Leidenschaft. Mit seinem e.s.t.-Trio – am Bass Dan Berglund und am Schlagzeug Gründungsmitglied Magnus Öström – setzte der Schwede Maßstäbe.

Den besten Einstieg in Svenssons Welt findet man über die beiden Stücke „Seven Days Of Falling“ und „Elevation of Love“. Längst ist dieser Live-Mitschnitt ein Klassiker, in der Version vom Mai 2004, aufgenommen bei den Jazz-Tagen im bayrischen Burghausen.

 

 

Aus Anlass seines zehnten Todestages präsentiert das deutsche Jazz-Label act zudem im Berliner Jazzclub a-trane zum ersten Mal den schwedischen Dokumentarfilm „A Portrait of Esbjörn Svensson“ (OmU, 2016). 12. Juni 2018. Beginn: 21 Uhr. Weitere Abende mit dem Dokumentarfilm gibt es am 14. Juni in München und Erlangen.

Esbjörn Svensson starb am 14. Juni 2008 in Stockholm. Seine Musik aber bleibt unsterblich. Was für ein tröstlicher Gedanke…

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Der König von Korsika

Einmal König sein. Wenn auch nur für eine kurze Zeit? Auf der französischen Ferieninsel Korsika hatte sich der westfälische Baron Theodor von Neuhoff diesen Traum erfüllt.  Seine Herrschaft währte nur kurz. Sie dauerte nicht einmal sieben Monate. Aber der Baron, der sich bereits Lord von England oder Grande von Spanien nannte, hatte einen Plan. Er wollte den Korsen die Unabhängigkeit bringen, versprach die verfluchte Fremdherrschaft der Genuesen abzuschaffen. Das kam gut an.

Wir schreiben das Jahr 1736. Theodor von Neuhoff landet in einem Phantasiekostüm an der korsischen Küste. Von Bord seines Schiffes lässt er einige Kanonen, 400 Gewehre  und Munition entladen. Dazu als weitere, nichtmilitärische Argumentationshilfe Gold, Geld und Getreide. Der umtriebige Theodor erklärt den überraschten Korsen, dies sei nur der Anfang.  Korsika werde frei. Endlich! Er stellt ein Heer auf und befördert einheimische Clan-Chefs in den Adelsstand. Kein schlechter Plan. Aus Dankbarkeit ändert die korsische  Volksversammlung die republikanische Verfassung. Nun ist der Weg frei für den ersten und einzigen König von Korsika. Der Glücksritter und selbsternannte Unabhängigkeitskämpfer besteigt als Theodor der I. den Thron.

 

Theodor von Neuhoff. Erster und einziger König von Korsika. Kupferstich von 1737.

 

Diese Geschichte klingt wie eine Operette. Das Beste daran: Sie ist es auch und bleibt dennoch eine wahre europäische Episode lange vor EU, Brexit und Autonomie-Bewegungen. Wie es damals weiterging? Natürlich  wehrte sich die mächtige Seemacht Genua. Zugleich nahmen die Franzosen die Insel vor ihrer Küste ins Visier. Nach drei erfolglosen Anläufen scheiterten am Ende Theodors Korsika-Pläne. Der Operetten-König musste als Priester verkleidet von der Insel flüchten. Jahre später endete der Luftschloss-Regent im Schuldturm von London. Völlig verarmt starb der einzige deutsche König von Korsika 1756 in der britischen Hauptstadt. Die Republik Genua schließlich verkaufte Korsika 1768 für zwei Millionen Franc an Frankreich.

 

Seit kurzem steht Theodor I. sogar auf einem hohen Sockel in Cervione. Das neue Denkmal ist im Zentrum in der Nähe des kleinen Museums zu finden.

 

Voltaire setzte dem König für sieben Monate ein angemessenes literarisches Denkmal. In Candide lässt er den Baron von Neuhoff aus dem sauerländischen Pungelscheid mit diesen Worten auftreten: „Ich bin Theodor, man hat mich in Korsika zum König gewählt; man nannte mich ‚Eure Majestät‘, und jetzt nennt man mich mit Müh und Not ‚Herr‘. Ich habe Münzen schlagen lassen und besitze nicht einen Heller, ich saß auf einem Thron und habe lange Zeit in London im Gefängnis gelegen, auf einem Strohlager.“

 

Der schwarze Mann mit dem weißen Stirnband – das offizielle Symbol Korsikas seit 1762.

 

 

Der begabte Hochstapler Theodor I. beflaggte sein Landungsschiff übrigens mit dem korsischen Symbol. Der Kurzzeitkönig popularisierte während seiner Regentschaft den mit Stirnband geschmückten Mohrenkopf. Sinnbild für den Kampf gegen Sklaverei und Fremdherrschaft. Das Motiv stammt eigentlich von den Königen von Aragon, die im 15. Jahrhundert mit Genua um Korsika stritten. Theodor hatte also durchaus Weitblick, als er sich mit fremden Federn schmückte. Der korsische Volksheld Pasquale de Paoli bestimmte schließlich 1762 das Symbol zum Staatswappen. Der Kopf mit dem weißen Stirnband ist das Freiheitssymbol Korsikas. Bis heute.

 

 

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Der letzte Vorhang

Vorhang zu. Aus und vorbei. In wenigen Tagen ist Schluss mit zwei Traditionsbühnen auf dem Kudamm. Die Komödie und das Theater am Kurfürstendamm müssen schließen. Sie weichen einem neuen Shoppingcenter. Das Ende einer hundertjährigen Theatergeschichte. Ein russischer Investor an der Spitze eines verschachtelten Anlegerimperiums errichtet eine Luxusmeile. Einziger Kompromiss nach Protesten und zähen Verhandlungen: Im Keller entsteht ein kleines Ausweichquartier. Der Deal: Die Kosten für die künftig teure Miete soll am Ende der Senat, sprich der Steuerzahler übernehmen.

 

Theater am Kurfürstendamm. Im Mai 2018 ist Finale. Das Haus wird geschlossen.

 

In der Hauptstadt wird derzeit gekauft, verkauft, abgerissen und neugebaut als müsse in wenigen Jahren das neue Rom entstehen. Eine Stadt im Gründerrausch. Besonders die Vorzeigemeile Kurfürstendamm ist im Visier. Alteingesessene Theater, Cafés, kleine Läden und Kinos müssen weichen. Sie können einfach nicht mithalten. Politik und Kulturmanager erklären, sie hätten alles versucht, könnten aber das Theatersterben nicht verhindern. Viele befürchten, jetzt verliert die Stadt ihre Seele.

Rolf Hochhuth, der alte zornige Mann des deutschen Theaters, ist wütend. Über die Abzocke der Investoren aber auch über die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen. Er ist den Bühnen am Kudamm eng verbunden. Sein Werk „Stellvertreter“ über das Schweigen des Vatikans in der NS-Zeit feierte genau hier im Februar 1963 Premiere. Erwin Piscator übernahm Regie und das Risiko den jungen Autor Rolf Hochhuth zu präsentieren. Die Inszenierung wurde ein Skandal – und ein Welterfolg.

 

Rolf Hochhuth. Am 20. Februar 1963 feierte sein Stück „Stellvertreter“ in der Inszenierung von Erwin Piscator am Theater am Kurfürstendamm seine Weltpremiere.

 

Für Hochhuth ist das Abräumen eines hundertjährigen Theaterstandorts das Werk von „Barbaren“. Hochhuth wörtlich: „Vor allem wusste auch jeder von der Tradition dieses Hauses. Zwei Juden hatten die Bühnen gebaut und aus eigener Tasche bezahlt. Max Reinhardt und der berühmte Oskar Kaufmann. Es ist genau wie Theodor Fontane es gesagt hat: Die Juden finanzieren die deutsche Kultur, und wir Arier finanzieren den Antisemitismus. Es ist eine Kulturschande ohne Beispiel.“

Über den Deal von Investor und Berliner Senat das „86. Einkaufszentrum in Berlin“ zu genehmigen und als Feigenblatt ein unterirdisches Theater als Erfolg zu verkaufen schüttelt der 87-jährige Hochhuth den Kopf. „Muss Berlin ein Theater in den Keller verlegen? In der prominentesten Straße? Bismarck hat über den Kudamm gesagt: Diesen herrlichen Corso den blöden Berliner Behörden aufzuzwingen, war der härteste Kampf meines Lebens.“

 

Nun schließen zwei traditionsreiche Häuser mit einem treuen Publikum. Kultur weicht Kommerz. Hochhuth schimpft in einem Interview der Berliner Zeitung über „die hündische Unterwürfigkeit der Politik gegenüber dem Großkapital“. Einziger Lichtblick: Der Altmeister des Dramas gewinnt mit dem Kudamm-Plot explosiven Stoff für sein neues Werk. Titel: „Germany, 52. US-Bundesstaat.“ Die Geschichte vom Theatertod soll ein eigenes Kapitel werden. Wir dürfen gespannt sein, wenn es heißt: „Vorhang zu und alle Fragen offen.“

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Is your fire still burning?

Er ist ein echter 68er. Jedenfalls den Lebensjahren nach. Im Herbst wird er 69. Bruce Frederic Joseph Springsteen. Ist nun Zeit für die verdiente Rocker-Rente? Oder hat die Zitrone noch Saft? Für seine Fans ist die Frage überflüssig wie ein Kropf. In dem Dokumentarstreifen „Springsteen and I“ erzählen Verehrer aus aller Welt in selbstgemachten Videos von ihrer  Beziehung zum „Boss“. Herausgekommen ist ein einziges Bewunderungswerk. Aber die Doku des Briten Baillie Walsh offenbart eine ganze Menge über unsere eigenen Sehnsüchte.

Eine Truckerin betont, seine Songs vermittelten ihr, nicht die Reichen, sondern sie sei die Stütze des Landes. Eine ältere Dänin verfasst flammende Liebesschwüre. Bruce hätte ihr das Gefühl gegeben, er spiele einzig und allein für sie. Ein Malocher aus Manchester bemerkt, seine viel zu langen Live-Konzerte verursachten ein Problem. Er verpasse jedes Mal den Nachtzug nach Hause.

 

 

Der Film zeigt: Bruce Springsteen aus Fairhold, New Jersey ist mehr als ein Musiker. Er ist einer dieser wenigen amerikanischen Legenden, die es noch gibt. Bis heute verkörpert er den hilfsbereiten Nachbarn von nebenan. Einer dieser traurigen Verlierer aus der Vorstadt, der allen Anfechtungen zum Trotz anständig bleibt. So trifft er den Nerv der schweigenden Mehrheit in den USA. Die ist viel zu konservativ um wirklich aufzubegehren, aber geprägt von einer Wut auf die Ungerechtigkeiten dieser Welt. Nicht wenige davon haben Trump gewählt. Obwohl Bruce keinen Zweifel lässt, dass er diesen Präsidenten für ein Unglück hält.

Springsteen liefert den Sound einer ganzen Generation. „Born in the USA“ wurde einst zum Wahlkampfschlager der Republikaner bis Springsteen jede Werbung mit seinem Song unterband. Er unterstützte Barack Obama und widmete vor einigen Jahren dem erschossenen Teenager Trayvon Martin den Song „American Skin“. Trayvon war farbig und siebzehn. Der weiße Schütze wurde in Florida freigesprochen.

 

 

Der letzte lebende große Rockstar der USA ist längst Religion. Entweder man liebt ihn abgöttisch oder man hasst ihn abgrundtief. Musikalisch betrachtet ist Bruce Springsteen eher ein Mann der Vergangenheit. Aber nach wie vor kann er das Feuer entfachen. Er verkörpert das Gewissen der Nation. Er versöhnt viele mit den Schattenseiten des amerikanischen Traums.  Mit Gewalt, Willkür und schreiender Ungerechtigkeit. The fire is still burning. Die Zitrone ist noch nicht ausgepresst.

Flieg mit

„Wenn es dir mies geht, wenn du Hoffnung brauchst, folge diesem Lied“. Olivia Trummer sitzt am Flügel. Zierlich. Konzentriert. Dann legt sie los. Schwingt sich auf. Kontrabass und Schlagzeug steigen ein, geben dem Song Halt und Linie. Sinn und Form. Olivia Trummer präsentiert Lieder aus ihrem Album „Fly now“. Sie gilt als Geheimtipp und großes Talent des Jazz. Jung, neugierig, unaufgeregt. Cool im allerbesten Sinne.

Die 31-jährige Pianistin, die viel jünger aussieht, stammt aus einer Stuttgarter Musikerfamilie. Insgesamt fünf Mal gewann sie den Wettbewerb „Jugend musiziert“. Sie studierte klassisches Klavier an der Musikhochschule Stuttgart, wechselte über den großen Teich nach New York. Sie lernte an der Manhattan School of Music. Ihren Zugang zur Musik charakterisiert sie so: „Meine Beziehung zum Klavier ist nicht einseitig. Von den Tasten kommt etwas zurück. Ich spiele auch deshalb nicht so laut, weil der innere Klang wichtig ist, Ich höre den Ton schon, wenn ich meine Finger auf die Taste lege“.

 

 

In New York verfeinerte sie ihre Lieder. Aus Manhattan brachte sie dieses ganz spezielle Großstadtgefühl mit. Das nervöse Pulsieren zwischen aufkeimender Hoffnung, heller Erwartung und bedrückender Einsamkeit. „Don´t ask love“, suche dein Glück, vielleicht findest du die große Liebe. Am Ende bleibt das ewige Versprechen „All is well“. Es sind diese magischen Momente in Live-Konzerten, in denen das Geheimnis der Musik aus dem Nichts aufblitzt. Ein Blick, ein Ton, ein Akkord, der uns trägt. Manchmal sogar über den Abend hinaus.

Fly Now. Ihr jüngstes Album. Ein Flug mit der Pianistin Olivia Trummer kann zu neuen Ufern führen. Einfach nicht anschnallen. Nur loslassen. Den Alltag vergessen. Dann kann es gelingen.

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Verweile doch

„Das ist absolut cool“, ruft die junge Ausstellungmacherin ihrer Gruppe zu. Sie weist auf einen Grabstein für Graffiti-Kunst hin. Entworfen von einem Vertreter der sprühenden Branche. Ruhe sanft! Von wegen. Aus den Boxen in der Werkstatthalle dröhnen die Bässe. Der Rapper textet kraft seiner Verstärkung: „Baby, deine Augen sind es, die machen mich verrückt!“ Das Publikum wiegt im Rhythmus. Das Wegbier in der Hand. „Welcome to Wandelism“, willkommen zur schnellen Kunst mit Verfallsdatum. In einer stillgelegten Werkstatt ist der Wandel Berlins aus erster Hand zu besichtigen.

 

 

Die Hauptstadt wächst rasant. Überall neuer Beton, Glas und Stein. Wohnpaläste ragen in den Himmel. Die Freiflächen für Kunst und Kreativität schwinden. In einem Autohaus im Westen der Stadt feiert die Pop-Art-Szene ihr Fest. Für wenige Tage. Dann wird der Autohandel abgerissen, macht Platz für exklusives Wohnen im gehobenen Eigentumssegment, wie es heißt. „Den Wandel feiern“ wollen die Künstler. Und der Stadt die Seele erhalten, nach der die Touristen an jedem Wochenende neu suchen.

 

 

„Verweile doch, du bist so schön.“ Kunst als Antwort auf Wandel. Und Angst. Angst vor Verdrängung und steigende Mieten. Es ist der Kampf um die letzten Freiräume für eine Szene, die mit dem rasenden Tempo der Veränderung mithalten will. Mit der Spraydose gegen Gentrifizierung. Hier ist es erlaubt. Erwünscht. Wird gefördert und geduldet. Künstler und Immobilienmacher gehen ein Bündnis ein – auf Zeit.

 

 

Wie rebelliert man? Wie geht eine Revolution in der Kunst? Wenn alles schon gesagt, getan und ausprobiert worden ist? Fragen der blondierten Künstlerin. Sie muss weiter tapfer gegen die wummernden Beats aus den Boxen anschreien. Kunst kann und soll die Augen öffnen, fährt sie fort. Ob die Gruppe noch etwas versteht, geht im Lärm der Rapper unter. „Wir wollen ein Zeichen setzen.“ Also Augen auf: Die Arbeiten sind bunt, schräg, witzig und voller Energie.

 

 

Schaut her, wie wir auf den Wandel reagieren, sagen die Künstler. Nicht alles gefällt. Manches ist plakativ, billig, kopiert. Doch in der Gesamtwirkung überrascht der Ort. Es ist eine Zeitansage an Wände, Decken und in Kellergewölben. Die Austellungsführerin lächelt. Sie droht heiser zu werden. Unverzagt präsentiert sie die flüchtigen Arbeiten im Abrisshaus mit einer Leidenschaft, die ansteckt. Am Ende bleibt nur ein Gedanke: Schade, dass hier bald die Abrissbirne regiert.

 

 

Für nichtkommerzielle Kunst wird es eng. Aber beim nächsten Abriss- und Zwischennutzungsprojekt sind wir dabei, versprechen die Macher. So ist Berlin im Jahre 2018. Nichts ist ewig, alles vergänglich. Das nächste Event steht vor der Tür. Ganz bestimmt. Welcome to Wandelism. Der schnellen Kunst auf Zeit.

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Zuhören

Wäre es möglich ein oder zwei dieser Menschen kennenzulernen? Meine Bitte geht an die Leiterin eines Sprach-Netzwerkes, von dem ich nichts wusste. Roswitha Keicher lacht. Sie ist die Chefin von mehr als 400 Übersetzern und Dolmetschern aus 41 Nationen. Sie nennt sie Mittler. In Heilbronn haben mehr als die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund. Gebürtige Schwaben sind in der Minderheit. Heilbronn ist eine traditionsreiche und wohlhabende Stadt. In der Industriestadt im Südwesten leben heute 140 Nationen. Ein modernes Babylon.

 

Im Ratssaal von Heilbronn. Alle Fotos: Heinz Kerber.

 

Als wir im Heilbronner Rathaus eintreffen, ist die Überraschung perfekt. Dutzende Menschen versammeln sich. Von Minute zu Minute werden es mehr. Es sind überwiegend Frauen. Die Stimmung ist gelöst. Viele umarmen sich. Sie kommen aus Ägypten oder Togo, Albanien oder dem Iran. Rasch sind es mehr als siebzig Ehrenamtler innerhalb von wenigen Stunden mobilisiert. Sie sind Übersetzer, Welcome-Guides, Elternmultiplikatoren. Was sie verbindet? Sie halten Heilbronn am Laufen. Sie arbeiten in Ämtern, Schulen, Vereinen, Organisationen. Sie sind dort, wo Hilfe gebraucht wird. Ohne sie geht nichts.

 

Ein Teil der 400 Sprach-Mittler von Heilbronn.

 

Integrationsfrau Roswitha Keicher hat Wort gehalten. Heilbronn hat etwas zu bieten, ist Vorreiter. Mit der Ausdauer und dem Fleiß einer schwäbischen Hausfrau organisiert sie seit knapp zehn Jahren das Zusammenleben in ihrer Heimatstadt. Sie schafft es auch, die gute Stube, den großen Ratssaal für das Treffen zu öffnen. Mit so viel Zuspruch hatte niemand gerechnet. So versammeln wir uns vor dem Porträt des Heilbronner Ehrenbürgers und ersten Bundespräsidenten der Nachkriegszeit Theodor Heuss. Im Saal ist eine Stimmung wie auf einer UNO-Vollversammlung in New York. Die Welt ist zu Gast.

 

 

Ich will wissen, ob Integration in einer Multi-Kulti-Stadt wie Heilbronn funktioniert? Die Wünsche der Frauen – die wenigen Männer halten sich eher zurück – sind einfach und kommen aus dem Leben: Anerkennung von Schulabschlüssen, kommunales Wahlrecht oder schlicht weniger Bürokratie bei Aufenthaltsfragen. Das wäre schon eine Menge, sagt eine Russland-Deutsche. Unisono loben die Frauen Heilbronn und die Chancen, die sich bieten. Doch ein wenig mehr Anerkennung, so eine zugewanderte Italienerin, wäre schön. „Wir bereichern mit unserer Kultur ja auch die Stadt.“

 

Mit Roswitha Keicher (links) im Heilbronner Ratssaal.

 

Was ich zum Schluss noch erfahren will: Wer fühlt sich als echte Heilbronnerin oder Heilbronner? Alle Arme gehen hoch. Keine Frage: Diese Menschen wollen sich beteiligen und fühlen sich längst integriert. Roswitha Keicher nickt zufrieden. „Es geht doch, wenn man nur will. Hier ist ein riesiges Potential, welches das Land nutzen kann.“ Nach mehr als einer Stunde Zuhören gehen wir auseinander. Am Ausgang sprechen mich noch zwei Frauen an. Sie sagen, die entscheidende Frage hätte ich nicht gestellt. Ich stutze. „Ja, ob wir verheiratet sind oder nicht!“ – Sie lachen fröhlich und verschwinden im Getümmel ihrer Kollegenschar.

 

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Bezahlt wird nicht

Der Durchschnittspreis für eine reguläre Theaterkarte liegt in Deutschland derzeit zwischen 30 und 35 Euro. Die Häuser sind hochsubventioniert. Alles hat seinen Preis. Für Normalverdiener sind Tickets in der Regel bezahlbar. Für immer mehr Menschen jedoch nicht. Sie bleiben draußen vor der Tür. Für sie wird ein Konzert-, Opern- oder Theatererlebnis zum Luxus. Nun hilft eine Einrichtung, die größte Not zu lindern: Die Kultur-Tafel. Richtig gelesen. Auch Kultur kann ein Lebensmittel sein. Kultur kann verschenkt werden.

Kulturtafeln gibt es mittlerweile in über sechzig deutschen Städten. Marburg war 2010 der Vorreiter.  In der Uni-Stadt als Kulturloge gegründet, funktioniert die Vermittlung wie die Lebensmittelhilfe. Theater, Konzert- und Opernhäuser stellen kostenlos nicht verkaufte Karten zur Verfügung.  Die jeweilige Tafel vor Ort vermittelt sie an Menschen, die sich den Eintritt nicht leisten können. Ein einfaches Prinzip. Für einen immer größer werdenden Nutzerkreis bedeutet die Kulturtafel eine echte Chance, wieder am Leben teilnehmen zu können.

 

 

 

Die Lübecker Kultur-Tafel zum Beispiel ist seit knapp einem Jahr ehrenamtlich aktiv. Sie hat über dreitausend Tickets vermittelt und äußerst positive Erfahrungen gesammelt. Die Arbeit zeigt, dass von einer (kostenlosen) Tafelrunde der Kultur alle profitieren können. Ensembles, die sich über volle Vorstellungen freuen und ein Publikum, das selten gewordene Gaben verschenkt: Aufmerksamkeit und Dankbarkeit. Kultur kann Herzen wärmen. Mehr geht nicht.

 

 

Hier einige Lübecker Stimmen

 

„Der Abend hat mir so viel gegeben. Ich habe richtig wieder am Leben teilgenommen, davon zehre ich immer noch.“

 

„Es war das allererste Mal überhaupt, dass ich bei einer kulturellen Abendveranstaltung war, dank Ihrer Unterstützung!!!“

 

„Ich habe mich riesig gefreut und war sogar ziemlich aufgeregt, weil es für mich der erste Besuch einer Oper in meinem Leben überhaupt war. Bisher konnte ich mir eine Kulturveranstaltung dieser Kategorie nicht leisten.“

 

„Mein Partner und ich möchten uns herzlichst bei Ihnen bedanken, dass wir durch Ihren Anruf, gestern Abend einen sehr schönen Abend erleben durften. Das Theaterstück ist ein sehr schönes Stück, wobei man für 2 Stunden wirklich alle Sorgen, Ängste usw. vergessen kann. Dass uns, die wir jeden Cent mindestens einmal umdrehen müssen, diese Karten ermöglicht wurden, ist ganz toll.“

 

„Man schämt sich so. Ich möchte so gerne mal einen unbeschwerten Abend haben, aber ohne mich zu outen. Dass die Kultur-Tafel dies möglich macht, ist wirklich toll. Endlich komme ich mal wieder raus!“

 

Kultur-Tafeln gibt es mittlerweile in sechzig deutschen Städten. Eine einfache, aber geniale Idee. Auch Kultur ist ein Lebensmittel.

Über richtiges Verhalten bei Weltuntergang

Atomschlag. Armageddon. Flüchtlingsströme. Börsenkrach. Schuldenkrise. Klimakollaps. Jüngstes Gericht. Egal, wie dickhäutig oder zartbesaitet der moderne Zeitgenosse ist: Der nächste Weltuntergang steht offenbar vor der Tür. Aber wann genau? Und wo? Wen trifft es? Welche Musik hört man dazu? Wie bereitet man sich vor? Kann man sich schützen? Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, abgekürzt BBK, empfiehlt offiziell und mit aller Dringlichkeit, Vorsorge zu treffen. Jetzt. Sofort. Ohne Ausreden.

Wie wäre es mit einem Notkoffer? Ein Journalist der seriösen Zeit hat sich seine Überlebens-Kiste für alle Fälle schon gepackt. Was kommt rein? Ein Radio, empfiehlt er, das mit Batterie, Kurbel oder Solarzelle betrieben werden kann. Natürlich Kerzen, Decken, Reservebatterien. Dazu Konserven und einen Gaskocher. Ferner Erster-Hilfe-Kasten, Schmerzmittel, Antibiotika, Brandsalbe und Desinfektionsmittel. Ganz wichtig ist Wasser in ausreichender Menge. Am besten bei Alarm sofort die Badewanne volllaufen lassen, rät das BBK. Das ergebe rund 120 Liter Reserve. Denn die Pumpen, die frisches Wasser aus der Leitung garantieren, fallen nach einem Stromausfall ziemlich schnell aus.

 

Ab in den Bunker?

 

Ein Krisenszenario für durchgeknallte Weltverschwörungsfreunde? Oder für Reichsbürger, die sich für den Endkampf wappnen wollen? Der Zeitreporter wehrt alle Einwände ab. Er sagt, er wisse, dass ein Atomschlag nicht zu überleben sei, aber unterhalb dieser Schwelle gebe es Szenarien, die weitaus wahrscheinlicher seien. Ein manipulierter Stromausfall beispielsweise reiche aus. Nichts funktioniere mehr. Kein Internet, kein Nahverkehr, kein Krankenhaus. Ein Leben ohne funktionierende Ampeln, Kühlschränke und Notrufsysteme sei alles – nur nicht sicher. Flucht sinnlos.

Das BBK, die Behörde der amtlichen Katastrophenschützer, geht im Krisenfall von neunzig Prozent gesetzestreuen Bürgern aus. Die restlichen zehn Prozent würden sich über alle Gesetze stellen und das Faustrecht bevorzugen. Das Leben auf Straßen, Plätzen und Bahnen würde folglich äußerst ungemütlich werden. Also zuhause bleiben. Im Keller. Mit Familie, Freunden, Nachbarn. In unserem Berliner Mietshaus existieren übrigens noch die Türen vom alten Luftschutzbunker von 1945. Sie ächzen und quietschen erbärmlich, wenn sie bewegt werden.

 

 

Solche verstörenden Gedanken will ich lieber abschütteln wie eine lästige Mücke an einem lauen Sommerabend. Krise ist ein produktiver Zustand, sagt Max Frisch. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen. Was tun? Notkoffer packen oder es besser sein lassen? Der Zeit-Reporter hält seine Vorsorge-Kiste nicht für ängstlich, sondern für vernünftig. Sind die Zeiten reif um Karl Kraus wieder aus dem Regal zu holen? Seine „Letzten Tage der Menschheit“ veröffentlichte er 1918, vor genau einhundert Jahren. Bei dem Wiener Satiriker Kraus heißt es dann: „Das Leben geht weiter! – Als es erlaubt ist.“

Bedingungsloses Höchsteinkommen?

Geld macht glücklich. Aber gibt es noch ein paar Dinge mehr im Leben? – Zum Beispiel die Carnegie-Hall in New York. Ein Konzertsaal der Extraklasse. Gestiftet von einem knorrigen Mitmenschen, der viel Geld und obendrein ein zündende Idee hatte. Er beschloss sein Vermögen mit anderen zu teilen. Sein Name: Andrew Carnegie. Sohn eines Webers. Schotte aus ärmlichen Verhältnissen. Er wanderte 1848 in die USA aus und wurde dort zum reichsten Mann seiner Zeit.

Sein Vermögen machte er mit Stahl. In der Region Pittsburgh, heute Stammland der treuesten Trump-Wähler. Dort betrieb er mehrere hochrentable Werke. Der Eisenbahnbau ließ ihn unvorstellbar reich werden. Im Alter von 64 Jahren setzte sich der Stahl-Tycoon zur Ruhe. 1889 veröffentlichte er sein Vermächtnis, das „Evangelium des Reichtums“. Dort heißt es: „Wer reich stirbt, stirbt in Schande.“

 

Der amerikanische Traum. Vom Tellerwäscher zum Milliardär. Vom schottischen Armenkind zum US-Stahlbaron. Andrew Carnegie. (1835-1919)

 

Carnegie gründete Hilfsorganisationen für Bergbaukumpel, finanzierte Stiftungen für Friedensarbeit, unterstützte Bibliotheken und soziale Projekte. Seiner schottischen Heimatstadt Dunfermline stiftete er einen Bürgerpark mit Botanischem Garten. Carnegie war der einzige Großunternehmer, der für die American Anti-Imperialist League offen gegen Kolonialkriege eintrat.

Mittlerweile haben sich über Hundert Superreiche in der Initiative „The Giving Pledge“ dazu verpflichtet, mindestens die Hälfte ihres Vermögens an die Allgemeinheit zurückzugeben. Mit dabei: Bill und Melinda Gates, Warren Buffet und als einziger deutscher Milliardär der SAP-Mitbegründer Hasso Plattner. Bekannt geworden als Finanzier des Barberini-Museums in Potsdam. Aber reicht das?

 

Museum Barberini in Potsdam. Stifter ist Hasso Plattner. Seit Januar 2017 geöffnet. Im ersten Jahr kamen 520.000 Besucher.

 

Eine Volksweisheit sagt: Du kannst Dir das beste und exklusivste Bett kaufen. Den ruhigen Schlaf nicht. Weil immer mehr Menschen immer schlechter schlafen, weil steigende Mieten und sinkende Kontostände die Nachtruhe rauben, gilt das bedingungslose Grundeinkommen als das Projekt der Zukunft. Das Versprechen: Tausend Euro für jeden Bürger. Ohne Prüfung, ohne Ansehen der Person. Diese Mindestsicherung, sagen Experten, wird kommen. Die Frage sei nicht mehr ob sondern wann.

 

 

In der Bibel heißt es: „Gott nährt die Spatzen und kleidet die Lilien.“ Für alle werde gesorgt, niemand bleibe zurück. Dieser fromme Wunsch bedarf jedoch zwingend einer irdischen Grundlage. Das wusste der knallharte Geschäftsmann Andrew Carnegie. Deshalb erklärte er in seinem Gospel of Wealth, seinem Evangelium des Reichtums. „Geben ist seliger als nehmen.“ Ein bestechend einfacher Gedanke, der doch so schwer umzusetzen ist.