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Von Hoffnungen und Pleiten

Aurel schlängelt sein Taxi sicher durch den ruppigen Verkehr von Bukarest. Wenn es sein muss, hupt er sich den Weg frei. Der kräftige Mann kennt sich aus. Wir fahren zum Haus der Presse. Ein riesiger Stalin-Bau nach Moskauer Vorbild. Dort soll einmal mein rumänischer Verlag gewesen sein. Aurel ist Anfang vierzig, wir kommen ins Gespräch. „Rumänien ist ganz großer Mist. Schrecklich.“ Er will weg. Warum? Aurel aktiviert seinen kleinen Bildschirm neben dem Taxameter, zeigt Familienfotos.

 

Mit der Dacia-Taxe von Aurel quer durch Bukarest.

 

„Das ist mein Sohn Alexander, sieben Jahre alt“, erklärt er stolz. „Zweite Klasse.“ – Wo ist seine Frau? Seine Miene verdunkelt sich. – „Sie arbeitet in Germania.“ In Meiningen, erfahre ich, in Thüringen. Aurel verständigt sich mit Händen und Füßen. Englisch fällt ihm schwer. Er malt auf seinem Notizblock Wörter, Linien und Bilder, wenn ich ihn nicht verstehe. Seine Frau jobbt in Deutschland. Auch er will nur noch weg. Die Trennung sei nichts für die Familie. Aurel lebt das rumänische Drama. Ein Brain Drain ohne Ende. Über vier Millionen Rumänen haben ihr Land seit dem EU-Beitritt vor zehn Jahren verlassen.

 

„Verrat stirbt nie“. Wie geht es dem rumänischen Verlag? Wer sind die Herausgeber? Hat das Buch Leser gefunden?

 

Aurel zuckt mit den Schultern. „Das Land hat keine Zukunft.“ Taubenzüchten ist sein Hobby. Seine geflügelten Freunde können überall hinfliegen. Nur er nicht. Er kann nur Taxifahren. Wir halten am Haus des Volkes. Auf den Palast ist er stolz. Der „Sohn der Sonne“ – Rumäniens gestürzter Ex-Diktator Ceausescu – hatte den gigantischen Kasten von zwanzigtausend Arbeitern in nur fünf Jahren errichten lassen. Als wir die russische Botschaft passieren, erklärt er: „Putin ist stark. Ein Mann der Vertikalen.“ Aurel malt mit den Händen in seiner kleinen Dacia-Taxe eine gerade Linie von oben nach unten. „Kein hin und her. Er weiß, was er will. Ein Schachspieler, ein Stratege. Kein Clown wie Trump.“ Aurel findet Putin gut, obwohl er die Russen nie mochte.

 

Vorne ein Denkmal für die „Opfer des Kommunismus“. Im Hintergrund das „Haus der Presse“ in Bukarest. Es steht heute weitgehend leer.

 

Ankunft Haus der Presse. 2009 wurde mein Buch Verrat verjährt nicht in Rumänien veröffentlicht. Nun erfahre ich: Seit 2015 ist der Verlag mit dem weltläufigen englischen Namen „House of Guides“ pleite. Im einstigen kommunistischen Verlagshaus residierte er einmal. Der Chef war der bekannte rumänische TV-Moderator Mihai Totulici, sozusagen der Plasberg von Rumänien. Vor einiger Zeit verschwand er spurlos von der Bildfläche. In der rumänischen Variante wurde aus Verrat verjährt nicht der entschieden härtere Titel „Verrat stirbt nie“. Es nutzte offenbar nichts. Wie viele Bücher einen Leser fanden, warum der Verlag in Konkurs ging, werde ich wohl nie erfahren.

 

Kein Verlag mehr. Keine Bücher mehr. Alles pleite. Taxifahrer Aurel hält meine vergebliche Suche in Bukarest mit einem Foto fest.

 

Literatur hat es im heutigen Rumänien schwer. Der Alltag lastet auf den Menschen. Die Krankheit des Landes? Korruption. Ein Krebsgeschwür. Dazu schlecht bezahlte Jobs und steigende Preise. Acht Euro kostet ein Buch, bei fünfhundert Euro liegt der Durchschnittslohn. Taxifahrer Aurel hat die Nase voll. Auch er will die Heimat verlassen. Aber wohin? Einfach losfliegen wie seine Tauben kann er nicht. Eigentlich möchte er sowieso viel lieber zuhause bleiben, deutet er an. Wenn nur seine Frau wieder zurück wäre. Nach zwei Stunden Fahrt durch Bukarest steht der Taxameter bei 47 Lei. Das sind etwas mehr als zehn Euro. Ich gebe ihm zwanzig. Er lächelt freundlich und fragt noch, ob ich in Germania Arbeit für ihn hätte?

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Vorschlag für weiße Wände

„Alleen/Alleen und Blumen/ Blumen/Blumen und Frauen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer.“ Dieses spanische Gedicht des Bolivianisch-Schweizer Poeten Eugen Gomringer (93) wird getilgt. Die Entscheidung ist gefallen. Das Ende eines monatelangen Kulturkampfes. Ein Kräftemessen, irgendwo zwischen Posse und sehr viel deutscher Prinzipienreiterei. Das Ergebnis: ein postmoderner Bildersturm. Nun werden die Wände übertüncht. Der „Allgemeine Studierendenausschuss“ der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin errang einen Sieg, die Kunst eine Niederlage.

 

Umstrittene Wandpoesie. Das Gedicht von Eugen Gomringer muss weg. Die Entscheidung ist gefallen.

 

Was nun? Kommen nun Gedichte mit Gender-Gerechtigkeit und künstlerischer Korrektheit bis zum letzten Komma? „Sexistische, rassistische oder sonstige diskriminierende Bezüge werden nicht akzeptiert“, heißt es. Die beauftragte Lyrikerin Barbara Köhler ist um ihren Auftrag nicht zu beneiden. Künftig sollen Schichttexte an der Wand der Berliner Hochschule angebracht werden. Gut sicht- und überall lesbar. Politisch korrekt, diskriminierungsfrei und geprüft tugendgerecht. Kunst im Rotationsverfahren. Alle fünf Jahre übermalt.

Was geht da noch? Ich empfehle für einen Schichttext an der Alice-Salomon-Hochschule das Hohelied Salomos. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von zärtlichen, an manchen Stellen hochgradig erotischen Liebesliedern. Es geht um das Suchen und Finden, das Sehnen und gegenseitige Lobpreisen zweier Liebender. Eigentlich um das, was das Leben ausmacht.

 

Egon Tschirch. 1923. Das Hohelied Salomos.Nr. 1

 

Er – Salomo

„Wie schön sind deine Schritte in den Sandalen, / du Edelgeborene! / Das Rund deiner Hüften / ist das Werk eines Künstlers. Dein Schoß ist eine runde Schale, / an Mischwein soll es nicht fehlen! / Dein Leib ist wie ein Weizenhügel / von Lilienblüten umrankt. / Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden.“

 

Sie – Sulamit

„Seine Schenkel sind Säulen von Marmor, / Gegründet auf Sockeln von Gold. /Sein Aussehen ist gleich dem Libanon, Auserkoren gleich den Cedern. / Sein Mund ist voll Süße; / alles ist Wonne an ihm. / Das ist mein Geliebter, / ja, das ist mein Freund, / ihr Töchter Jerusalems.“

 

Egon Tschirch. 1923. Das Hohelied Salomos. Nr. 8.

 

Diese Gedichte mögen mehrere tausend Jahre alt sein. Sie sind in der Kultur Israels, Ägyptens und des Vorderen Orients verankert. Eine Sprache wie ein Gedicht. „Seine Wangen sind wie Balsambeete, darin Gewürzkräuter sprießen.“ Der Verfasser ist unbekannt. Es soll sich um König Salomo handeln. Zu finden im Alten Testament. Eine einzige poetische Entdeckung – das Hohelied Salomos. Zu eindeutig für die Wand?

Kunst. Kommerz. Retter der Welt

Kunst entsteht im Kopf des Betrachters. Wahre, schöne Kunst gehört genau genommen allen. Sie schmückt die Menschheit, erzählt von ihrer Kraft, Kreativität und Leidenschaft. Ein Kulturgut. Doch gute Kunst ist knapp geworden. Nicht nur Immobilien schießen durch die Decke. Bilder sind längst das neue „Wandgold“ der Reichen und Vermögenden. 450,3 Millionen Dollar kostete vor kurzem das Ölbild Salvator Mundi, Retter der Welt. Eine Machtdemonstration. Schaut her, wem die Welt gehört.

Der unbekannte Investor aus der Golfregion ersteigerte das Bild für den neuen Louvre-Ableger in Abu Dhabi. Vor sechzig Jahren war der Salvator exakt für 45 Pfund zu haben, das sind 51 Euro. Das reicht in den angesagten Restaurants der Welt gerade noch für die Vorspeise. Dabei ist weiter ungeklärt, ob das Werk tatsächlich ein echter Leonardo da Vinci ist. Es gibt genügend Experten, die den Retter der Welt seinem Schüler Giovanni Antonio Boltraffio zuordnen. Wiederum andere sprechen gar von einer Fälschung.

 

Hier der ganze Salvator Mundi. 66 auf 44 cm. Öl auf Holz. Bis heute ist nicht zweifelfrei geklärt, ob der Maler wirklich Leonardo da Vinci ist. Das Werk aus der Zeit um 1500 wird ihm zugeschrieben.

 

Egal. Die Kunst-Society ist von der Echtheit überzeugt. Das genügt. Kunst als Wertanlage, als Prestige- und Spekulationsobjekt. Die Folge: Das Angebot an Klassikern ist ähnlich wie bei Luxusapartments in London, Paris oder Berlin knapp geworden. Da steigen die „Fantasien“ der Anleger ins Unermessliche. Der internationale Kunstmarkt läuft heiß. Das Suchtpotential scheint unbegrenzt zu sein. Auktionator Simon de Pury kommentierte trocken: „Kunst sammeln ist die schönste Krankheit der Welt.“

Beim großen Kunst-Shopping liefern sich reiche Öl-Scheichs, US-Investmentbanker und chinesische Aufsteigerkonzerne ein Wettrennen vor allem um bekannte Klassiker der Vor- und Nachkriegsmoderne.

 

Edvard Munch. Der Schrei.

 

Edvard Munchs malte 1892 seinen weltberühmten „Schrei“ in verschiedenen Varianten mit Öl, Tempera und Pastell auf Pappe. Das Werk wurde vor zwanzig Jahren mehrfach gestohlen. In jüngster Zeit erwarb ein amerikanischer Finanzmanager den Schrei für 120 Millionen Dollar.

Paul Cezannes schuf den „Kartenspieler“ zwischen 1892 und 1896. Das Werk von dem gleichfalls mehrere Varianten existieren, gilt als Ikone der klassischen Moderne. Die Herrscherfamilie von Katar hat das Gemälde für 250 Millionen Dollar erworben.

 

Paul Cezanne. Die Kartenspieler.

 

Pablo Picassos „Les femmes d´Algier“ erzielte 2015 einen Verkaufswert von 180 Millionen Dollar. Der „Liegende Akt“ des Italiener Modigliani wechselte im gleichen Jahr für 170 Millionen Dollar den Sammler. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

 

Pablo Picasso. Led Femmes d`Algier.

 

Kunst macht satt. Ein schöner Traum. Besonders für diejenigen, die Kunst herstellen – die Künstler. Einige profitieren vom Boom. Die allermeisten knabbern am Existenzminimum. In Berlin halten sich derzeit rund siebenhundert Galerien. Dazu geschätzt gut 30.000 Künstler. Die große Mehrheit muss sich mit zwanzigtausend Euro im Jahr bescheiden. Das abgelutschte Bild vom „Über-Lebens-Künstler“ ist kein Klischee. Nur mag kaum jemand darüber offen reden.

Eine Zahl wenigstens ist offiziell: Die Berlin Biennale im Sommer 2018 kann exakt drei Millionen Steuermittel ausgeben, um die sich viele hundert Künstler bewerben. Das Motto der Messe der modernen Kunst: „We don´t need another hero“.

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Blick zurück im Zorn?

Eine berechtigte Frage: Hatte die kleine DDR jemals eine echte Chance? War sie nicht vom ersten Tag an eine Totgeburt? Zum Scheitern verurteilt? Aussichtslos im Wettlauf mit dem ganz großen Geld und angetreten gegen alle Gesetzmäßigkeiten von tausenden Jahren Menschheitsgeschichte: Das einzelne Menschenkind strebt eben nach Glück, Wohlstand und dem eigenen Vorteil. Der Ost-Berliner Fotograf Jürgen Hohmuth gibt mit seinen DDR-Bildern überraschende Antworten.

 

Kollwitzstraße, Ecke Belforter Straße, Berlin, 1983. Alle Bilder: Jürgen Hohmuth.

 

Hohmuths Blick zurück in den Alltag stammt aus dem letzten Jahrzehnt der DDR. Es sind die achtziger Jahre, die bleierne Zeit des VEB-Sozialismus. Die Mauer war unüberwindbar geworden, die Menschen hatten sich arrangiert, alle Versprechen waren abgenutzt. Stillstand. Nichts bewegte sich mehr. Nichts wurde wirklich besser. Wer konnte, ging. Trotz sicheren Jobs, billigen Mieten und dem Anspruch auf soziale Rundumversorgung.

 

Berlin, 1982. Für Insider: Der Mann am Steuer ist nicht Sascha Anderson.

 

Seine Schwarz-Weißbilder erzählen von angehaltener Zeit. Von Langeweile und Leere, von Abhängen, Aufgeben und auch von stillem Aufbegehren. Von Warten auf Godot und größtmöglicher Gottverlassenheit. Das Arbeiter- und Bauernparadies aus der Nahdistanz. Hohmuth ist ein sehr genauer Chronist. Er fotografierte auf Kundgebungen und in Betrieben, vor Geschäften und in Wohnzimmern. So dokumentierte er den schleichenden Untergang einer Menschheitsidee. Am Ende blieben Rituale, billige Rhetorik und trügerische Ruhe.

 

Uftrungen, 1987.

 

„Graustufen“ heißt der neue Fotoband. War alles nur grau? Keineswegs. Die DDR konnte sehr anders und zuweilen ganz schön bunt sein. Einzige Voraussetzung: etwaige Vorurteile mussten bei der Einreise abgegeben werden. Dann konnte der unvoreingenommene Bürger-West Menschen kennenlernen, die lachten und weinten, feierten und fröhlich waren, sich anpassten und auflehnten. Mein Eindruck war: Die meisten wurstelten sich durchs Leben. Ist das heute so viel anders?

 

Dessau, 1989.

 

In „Graustufen“ wetzen vierzig bekannte und unbekannte Weggefährten von Jürgen Hohmuth die Feder. Viele liefern teilweise sehr persönliche Bildbetrachtungen, frei von Pathos und nostalgischen Seufzern. Nicht wenige Autoren kommentieren ihre Geschichten mit einem wissenden Lächeln, angereichert mit einer Portion Selbstironie. So wird zwischen zwei Buchdeckeln ein Land wach geküsst, das es nicht mehr gibt. Ein Land mit einem gewaltigen Planüberschuss an Zeit und Leere, aber auch mit Bier, Bratwurst und deftigen Besäufnissen.

 

Jena, Marktplatz, 1988.

 

Der begnadete Schriftsteller Jurek Becker („Jakob der Lügner“) verließ 1977 entnervt das Honecker-Land und erfand im Westen „Liebling Kreuzberg“. Nach der Einheit schrieb er: Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie. Ironie der Geschichte: Längst wohnen in den alten Werkhallen und Wohnstuben des Berliner Ostens junge, zugezogene Familien und rendite-fixierte Start-Up-Unternehmer. Die DDR ist abgewickelt. Ihr Versprechen nicht. Es bleibt der Traum von einer gerechteren Welt. Wie der Sozialismusversuch der Väter und Mütter einmal aussah, das zeigt dieser Bildband ungeschminkt und präzise – mit Blicken zurück ohne Zorn. Jürgen Hohmuth. Graustufen. Leben in der DDR in Fotografien und Texten. Braus-Verlag.

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Wer verdient was?

Das große Tabu. Was verdient die Freundin, der Chef oder die nette Kollegin von der Frühschicht? Tja. Wir wissen, dass Frauen im Schnitt gut zwanzig Prozent weniger verdienen als Männer. Aber wie ist es von gleich zu gleich, sozusagen auf Augenhöhe? Es bleibt in der Regel ein großes Geheimnis. Bloß keinen Neid schüren, wiegeln wortstark die Vertreter von Diskretion ab. Bitte Abstand halten. Leistung muss sich lohnen.

 

Der große Traum. Am Ball sein. Sorglos leben. Bewundert werden.

 

Manchmal erfahren wir von einzelnen Eskapaden. Vor einiger Zeit veröffentlichten Medien dank Football-Leaks Gehälter und Prämien von Mitarbeitern der Fußballbranche Ein Torwarttrainer verdient demnach mehr als der Filialleiter einer Bank. Ein einfacher Ersatzspieler kassiert in einer Saison mehr als der Klempner in seinem ganzen Leben. Ein Spielerberater bezieht für einen einzigen Transfer mehr als einem mittelgroßen Krankenhaus für seine Patienten im ganzen Jahr zur Verfügung stehen.

 

Jeder Ersatzspieler im Profigeschäft verdient mittlerweile mehr als ein Fließenleger in seinem ganzen Leben.

 

Der Brasilianer Neymar erhielt für seinen Wechsel von Barcelona nach Paris St. Germain 222 Mio Euro. Ein Spitzenwert. Bleiben wir im Krankenhaus-Vergleich: Nur wenig mehr kostet ein kompletter Neubau in Frankfurt. Jener Fußball-Gott Neymar verfügt über ein Grundgehalt von drei Millionen im Monat. Ein durchschnittlicher Bundesliga-Spieler wie Lewis Holtby vom Krisenclub HSV verdient laut Football Leaks im Monat 291,666,77 Euro. Die Krankenschwester, die ihn nach einer Verletzung pflegen müsste, darf sich mit 2.350,- Euro brutto zufrieden geben.

 

Eine alte Faustformel. Wer mit den Händen arbeitet, wer hilft oder pflegt, muss sich mit kargen Lohn begnügen.

 

Wer etwas leistet, soll sich etwas leisten können, heißt es. Angela Merkel stehen im Monat 25.900,- Euro zu. Jeder deutsche Sparkassenvorstand verdient deutlich mehr. Spitzenkräfte in Hamburg liegen bei 70.000 Euro, die Sparkasse in Köln zahlt ihrem Chef sogar ein Monatsgehalt von über 90.000. Der Direktor regiert zwar kein Land, ist jedoch wer: der Sparkassen-König von Köln.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Keinen Gott verehren moderne Menschen mehr als den Gott des Geldes. Kaum einer hat so intensiv über diesen Gott nachgedacht wie ein bürgerlicher Gelehrter aus Trier. Hoch gebildet aber ständig klamm. Sein Name: Karl Marx. Im Londoner Exil schrieb er einen seiner Bettelbriefe an Freund Friedrich Engels. Er war Fabrikdirektor aus Manchester: „Seit einer Woche habe ich den angenehmen Punkt erreicht, wo ich aus Mangel an den im Pfandhaus untergebrachten Röcken nicht mehr ausgehe und aus Mangel an Kredit kein Fleisch mehr essen kann. Das ist alles nur Scheiße, aber ich fürchte, dass der Dreck einmal mit Skandal endet.“

 

Geld ist das moderne Opium. Macht es abhängig? Oder frei?

 

Karl Marx wurde vor genau 200 Jahren geboren. Er hinterließ auf 900 Seiten sein Kapital. Drei Jahrzehnte hat er daran herumgedoktert. Immer wieder musste er beim Onkel, so hieß der Pfandleiher im Hause Marx, den Gehrock in Papier und Tinte eintauschen. Nun ist sein Werk UNESCO-Welterbe. Im Mai enthüllt Marx Geburtsstadt Trier ein fünf Meter fünfzig hohes Bronze-Denkmal. Das nötige Kleingeld dafür kommt aus Peking, von seinen chinesischen Fans. „Die Anzahl der Neider bestätigt unsere Fähigkeiten“, würde Oscar Wilde anmerken. Ein später Zeitgenosse von Marx, der gleichfalls in London – der Stadt des großen Geldes – sein Glück suchte … und dort auch fand.

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Zufrieden?

Rundum froh und zufrieden? Na? – Wohl kaum. Wer ist das schon? In Bachs kleinem Choral heißt es kurz und bündig: „Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens.“ Der Altmeister vertraute auf irdische Demut und eine höhere Instanz. Die meisten Menschen heutzutage haben andere Götter. Exklusive Clubs, Luxus-Resorts, hochgerüstete PS-Boliden oder andere Ersatz-Götter wie Gurus, Crystal Meth oder das Om-Mantra zur Selbstperfektionierung. Mit Bach ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen.

 

Baton Rouge. USA. Die 27-jährige Krankenschwester Ieisha Evans stellt sich den Sicherheitskräften entgegen. World Press Photo 2017. 1. Preis in der Kategorie Contemporary Issues. Foto: Jonathan Bachman

 

Wie sieht die Welt Anfang 2018 aus? Hunger, Krankheit und Krieg sind zu Beginn des dritten Jahrtausend nahezu besiegt. Es ist gelungen, diese jahrtausendalten Menschheitsplagen „im Zaum zu halten“. Diese These setzt Yuval Noah Harari dem Medien-Mainstream entgegen, der nervös zwischen Verharmlosung und Übertreibung pendelt. In seinem neuesten Buch Homo Deus beschreibt der israelische Historiker folgenden Trend: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen und nicht weil sie zu wenig haben. 2014 waren mehr als 2.1 Milliarden Menschen übergewichtig, 850 Millionen litten an Unterernährung. 2010 starb rund eine Million Menschen an Hunger, drei Millionen aber an Fettleibigkeit.

 

Menschengier. Das Nashorn muss bezahlen. Hluhluwe Umfolozi Game Reserve, South Africa. World Press Photo 2017. 1. Preis für Naturfotos. „Rhino Wars“ von Brent Stirton, Getty Images for National Geographic Magazine.

 

Terror, Kriege, Kriminalität? Harari kontert: „Coca-Cola ist eine weitaus größere Bedrohung als al-Qaida“ und „Zucker gefährlicher als Schießpulver.“ Die Fakten: Mehr Menschen sterben an Altersschwäche als an ansteckenden Krankheiten. Mehr Menschen begehen Selbstmord als von Soldaten, Terroristen und Kriminellen zusammen getötet werden. Ob in Afghanistan Syrien oder anderswo. Tschechows Gesetz ist folglich für die meisten Erdenbürger längst außer Kraft gesetzt worden: Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es im letzten Akt abgefeuert.

 

Die Welt steht Kopf. Das „Monument“ von Manaf Halbouni. Hommage in Form von drei Bussen an die Menschen von Aleppo, Syrien. Berlin-Brandenburger Tor. 2017.

 

Nach Harari stirbt der Durchschnittsmensch „mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil er sich bei MacDonalds vollstopft“ als etwa „durch Dürre, Ebola oder einen Terror-Anschlag “. Die Selbstmordrate sei zudem in wohlhabenden Ländern erheblich höher als in traditionellen Gesellschaften. Was folgt? Die letzten noch nicht erreichten Ziele seien das Streben „nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit“. Google forscht konsequenterweise für das ewige Leben und verspricht in Zukunft den Tod zu besiegen.

Schöne Neue Welt. Der Traum von der Unsterblichkeit. Google Life Sciences macht es möglich und nennt sein Medizinforschungsunternehmen Verily. Hier ein Spot:

 

 

Was bleibt? Eine moderne parodoxe Wohlstandsfalle: Je wohlhabender die Menschen, desto unzufriedener sind sie. Harari: „Es bedurfte nur eines Stückes Brotes, um einem hungernden mittelalterlichen Bauern Freude zu bereiten. Womit aber macht man einem gelangweilten, überbezahlten und übergewichtigen Ingenieur eine Freude?“

An einem Schuppen auf einem abgewrackten Güterbahnhof hat der 87-jährige Berliner Aktionskünstler Ben Wagin ein Schild angenagelt. Dort steht: „Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der wenig braucht.“

 

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Bäuerin sucht Wohnung

Nennen wir sie Li Si. Wie bei Michael Endes Geschichte von Jim Knopf und Lukas. Li Si ist keine Märchenprinzessin, keine Comicfigur. Sie ist Bäuerin. Aufgewachsen in einer kleinen Hütte mit einfachen Mao-Möbeln. Das ganze Leben Arbeit von früh bis spät. Li Si ist eine von vielen Millionen Chinesen, die gerade ihre Sachen packen. Einige freiwillig, die meisten still und genügsam. Die Partei hat es angeordnet. Die Volksrepublik setzt ihren ehrgeizigen Modernisierungsplan um. Bis 2020 sollen rund Hundert Millionen Bauern Städter werden. Der Plan: Wohlstand durch Urbanisierung.

 

Auf in die Städte. Tanz in den Straßen von Shanghai. Fotos: Chinareise 2015.

 

Ein dreißig Punkte umfassender Nationalplan Pekings sieht vor: Elf Ballungszentren werden auf Reisfeldern aus dem Boden gestampft: mit „hochwertigen Arbeitsplätzen und energieeffizienten Bürogebäuden“ wie es heißt. Das ergibt gigantische Hochsiedlungen und Hochgeschwindigkeitsbahnen. Soweit das Auge reicht. Mittlerweile zählt China bereits über 600 Städte, darunter viele, die Berlin an Einwohnerzahl weit überschreiten. Viele dieser neuen Megastädte waren noch vor wenigen Jahren Dörfer.

 

Das Urbanisierungsprogramm läuft von 2014 bis 2020.

 

Li Si zieht in eines der Entschädigungshäuser. Wenn sie Glück hat, kann sie zusammen mit ihrer Dorfgemeinschaft in einem der sogenannten Kompensationsblocks unterkommen. Das sind Hochhäuser mit 30, 32 oder noch mehr Etagen. Jedes Familienmitglied erhält im Schnitt vierzig bis achtzig Quadratmeter Wohnfläche. Balkon und Zentralheizung statt Kohleofen und Plumpsklo. Die jungen Erfolgreichen machen ihr Glück als Makler, andere versuchen sich mit Start-Ups. Einige Ex-Bauern konnten ihr Land unter der Hand an Funktionäre veräußern. Sie machten das Geschäft ihres Lebens. Sie gehören zu Gewinnern des Urbanisierungsprogramms.

 

Die Jeunesse dorée Chinas bei der Fashion Week in Peking.

 

Vielleicht gelingt Li Si der Sprung in die neue Zeit problemlos. Vielleicht findet sie Anschluss, gelingt ein Neuanfang. Sicher wird sie nicht klagen. Vermutlich schließt sie sich der weit verbreiteten Meinung vieler Neu-Städter an: „Wissen Sie, unsere Wohnung ist sauber, es gibt eine Toilette, es sind keine Moskitos dar und man muss auch nicht auf dem Feld arbeiten.“

 

Shanghai. Posieren für die Hochzeits-Einladungskarte.

 

Der soziale Wandel ist atemberaubend. Innerhalb von wenigen Monaten katapultiert der Fortschritt Menschen wie Li Si in Betonburgen, mitten ins 21. Jahrhundert mit Smartphone, U-Bahnanschluss und Karaoke-Bars. Plötzlich werden Hunde bestaunt oder zu Freunden; früher landeten sie an der Kette oder im Kochtopf. Überall zwischen den Betongiganten pflanzen Bewohner auf kleinen Beeten Süßkartoffeln, Bohnen oder Kohl an. Die Partei duldet diese kleinen Inseln des ländlichen Widerstands.

 

Vormittags treffen sich Frauen zur Gymnastik im Zentrum von Choncqing. Mit rund 30 Millionen Einwohnern derzeit die größte Stadt der Welt.

 

Der Sechs-Jahres Plan ist bald abgeschlossen. Bis 2030 sollen rund eine Milliarde Chinesen in den neuen Riesen-Städten leben. Das wären dann fast 80% aller Einwohner. Die neue Super-Megastadt ist Jing-Jin Ji in der Zentralregion. Dazu gehört Peking. Dort leben später einmal rund 130 Millionen Einwohner. Bäuerin Li Si ist dann Rentner, hat eine zentralbeheizte Wohnung in der 24. Etage. Wenn sie Glück hat, kann sie – sollte mal kein Smog sein – sehr weit auf das neue China schauen. Wie heißt doch ein altes chinesisches Sprichwort? „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Chinas neue Windmühlen heißen Entschädigungshäuser.

 

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Ball im Korb

Was geschieht, wenn zwei Außenseiter aufeinandertreffen? Wenn ein schwarzer Lulatsch in eine traditionsreiche aber verschlafene Unistadt zieht, um dort mit seinem Talent eine Randsportart nach vorne zu bringen? Dann kann sich eine gute Geschichte entspinnen. Im Glücksfall sogar ein richtig toller Wurf. In diesem Fall hat der Ball in den Korb gefunden. Es geht um „Deutschland für eine Saison. Die wahre Geschichte des Wilbert Olinde Jr.“ Dieses Buch erzählt von einem deutschen Basketball-Märchen, das bis heute anhält.

Autor Christoph Ribbat, ein Anglistik-Professor, ist eine beeindruckende Nahaufnahme der Göttinger Basketball-Legende Wilbert Olinde gelungen. Ende der siebziger Jahre war Wilbert einer der ersten schwarzen Profis in der provinziellen deutschen Bundesliga. Für eine Saison wollte er bleiben. Es wurde ein Leben daraus. Was fand er 1977 vor? Ein studentisches Team mit gewissen Ambitionen und bescheidenen Erfolgen. Beim SSC Göttingen zählen andere Werte. Bei den Auswärtsspielen wird nach einer Stunde im Bus Rothändle geraucht. Nach dem Spiel warten zwei volle Kisten Bier. Ob Sieg oder Niederlage, zum Auspegeln trifft man sich im Rialto oder beim Altdeutschen. Dieter Bohlen ist dort Stammgast.

 

Wilbert Olinde. Geboren in Louisiana. Er lebt heute als Motivationscoach in Hamburg.

 

Olinde kommt in das Deutschland der Siebziger. Der Fußgängerzonen und RAF-Hysterie. „Yes Sir, I can boogie“, ist der populärste Song. Der Göttinger Chemie-Professor Michael Buback forscht an den Grundlagen der Kunststoffgewinnung. Ein Göttinger Mescalero-Aufruf bekundet „klammheimliche Freude“ über den Tod seines Vaters Siegfried Buback. 1977 erscheinen Reiner Kunze „Die wunderbaren Jahre“, Erica Jong „Die Angst vorm Fliegen“, Erich Däniken, Herbert Gruhl „Ein Planet wird geplündert“, Erich Fromm „Haben oder Sein“. Die Deutschen interessieren sich verstärkt für alternative Gesellschaftsmodelle. Die Grünen stehen vor dem Eisprung. Der Göttinger Student Jürgen Trittin ist einer ihrer Geburtshelfer.

 

 

Wilbert Olinde, Typ kalifornischer Sunnyboy, genannt die Schwarze Perle, verhilft dem Uni-Team zu größten sportlichen Erfolgen. Die Göttinger werden zweimal Deutscher Meister. Das haben sie danach nie wieder geschafft. Olinde spielt smooth, flüssig, elegant. Wenig später wird Basketball auch in Deutschland härter, dynamischer, kommerzieller. In den letzten Jahren haben viele Tausend US-Profis in deutschen Ligen angedockt. Längst ist auch diese Sportart eine Arena der globalen Gladiatoren und Glücksritter.

Als schwarzer Pionier musste sich Olinde „Hornhaut auf dem Trommelfell“ wachsen lassen. Die Entscheidung Deutscher zu werden, habe ihn dennoch „glücklich gemacht“. Das Leben sei einfacher als in den USA. Besonders bei den Studentinnen beliebt, punktet der Modellamerikaner – bis ihn sein Knie im Stich lässt. 1987 schließlich nach 4.640 Punkten das Aus.. Es gibt kein Abschiedsspiel. Ein Krebstumor beendet alle Ambitionen.

 

Basketball-Profis sind „hyperflexible Migranten, ihre Karrieren oft international, ihre Arbeitsverträge manchmal nur einige Wochen gültig.“ Olinde war ein Gegenentwurf, fast ein Jahrzehnt blieb er beim gleichen Verein.

 

Olinde übersteht die schwere Krankheit und erfindet sich neu. Er arbeitet als Versicherungsangestellter, Damentrainer, schließlich gründet er seine Coaching-Firma Black Pearl Inspiration. Das positive Denken wird zu seinem Beruf. Motto: Jeden Tag solle man sich sieben Minuten frei Notizen machen.

 

„Basketball ist ein Spiel, das von der Dynamik lebt, von schnellen Schritten und Sprüngen, vom raschen Verfolgen des Gegners. Gleichzeitig aber ist Raffinesse gefragt: die Präzision der Finger, Arme, Schultern beim Wurf auf den Korb, das kontrollierte Abstoppen und Innehalten.“ (Ribbat)

 

Heute lebt Olinde in Hamburg. Sohn Louis Olinde ist 2 Meter 05 groß, Schuhgröße 48. Er tritt mittlerweile in Vaters Fußstapfen. Louis spielt beim Spitzenteam in Bamberg. Kritik an ihm: Der 19jährige soll mehr den Bad Boy heraushängen. Er spiele zu aristokratisch. Das warf man auch seinem Vater vor. Deutschland für eine Saison ist keineswegs eine Basketball-Heldengeschichte. Das Buch erzählt unaufdringlich auch vom alltäglichen Rassismus auf beiden Seiten des Atlantiks. Und zeigt einmal mehr: Sport ist neben Musik die einzige echte Chance für junge Schwarze nach oben zu kommen. In die Spitze zu den Auserwählten und Anerkannten.

Ein kluges Buch. Christoph Ribbat. „Deutschland für eine Saison. Die wahre Geschichte des Wilbert Olinde Jr.“ Suhrkamp.

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Über den Wolken

Weihnachtsfeier der Ehrenamtlichen in einem Berliner Krankenhaus. Es gibt Kekse, Glühwein und gemütliches Beisammensein. Die meisten in der Runde gehören zur Generation der Baby-Boomer. Geboren in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Kinder des Wirtschaftswunders. Am Ende wird ein Text verteilt, dann gesungen. Es ist ein altes Lied von Reinhard Mey. Es heißt: „Ich denk`, es war ein gutes Jahr.“ Ein Raunen geht durch die Runde. Zustimmung. Freude. Alle singen mit. Der Liedermacher ist hier bekannt und beliebt.

 

Reinhard Mey. 1974 schrieb er „Über den Wolken“.

 

                                         „Ich denk`, es war ein gutes Jahr.“

Du kommst, den Arm um mich zu legen,

Streichst mit den Fingern durch mein Haar:

„Denk` dran, den Holzscheit nachzulegen …

Ich glaub` , es war ein gutes Jahr.“

 

Der „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“-Erfinder gilt als großer Romantiker, als „Rückzugslyriker“ und der nette, ideale Schwiegersohn. Er wurde vom Zeitgeist oft belächelt und heftig unterschätzt. Reinhard Mey will ja niemand weh tun, hieß es. Ein großer Irrtum. Reinhard Mey wollte, dass zugehört wird. Anfangs zog er mit Hannes Wader durch kleine Clubs und gastierte auf Liedermachertreffen, wie dem berühmten Folkfestival auf der Burg Waldeck Mitte der sechziger Jahre.

Er entdeckte den französischen Chanson, nannte sich zweitweise Frédéric Mey. Folgerichtig erzielte er seine ersten Erfolge in Frankreich. In Deutschland stand er lange unter Schlagerverdacht. Das hielt ihn nicht auf. Über 500 Lieder hat er geschrieben, 27 Alben veröffentlicht. Klassiker sind seine Songs „Ich wollte wie Orpheus singen“ – „Ich bin Klempner von Beruf“ – „Ankomme Freitag den Dreizehnten“.

 

 

Nun ist Reinhard Mey 75 geworden. Kaum zu glauben, so frisch und zeitlos klingen seine Lieder. Als einer der wenigen gelingt es ihm nach wie vor über Schichten und Generationen hinweg Zuhörer zu erreichen. Eine seltene Gabe im Zeitalter der hemmungslosen Selbstoptimierung. Und so singen der Chefarzt, die Sekretärin und der Pastor fröhlich mit, um mit Reinhard Mey die Weihnachtsfeier zu beenden. Wo? In Berlin-Wilmersdorf, dort, wo Reinhard Mey, der Bürgersohn einmal geboren wurde. Der leise Liedermacher, der so viel zu sagen hat. Ein Beispiel aus dem Jahre 1996 – Sei Wachsam.

 

 

Im Februar 2018 geht Reinhard Mey wieder auf Tournee.

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Babylon Berlin – Dan, Silvio, Mike und all die anderen

Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es. An einer Häuserwand hängt ein Plakat: „Grundeinkommen für alle“.  An einem Hauseingang reden zwei Rollator-Alte über Rüpel-Radler auf Gehwegen und die Wucht von Schlaganfällen. Während sie Krankenberichte austauschen, beobachten sie junge Eltern, die wiederum ihre Fahrradhelm-bewehrten Sprösslinge beaufsichtigen.

Die kleine Parkanlage in Berlins Mitte ist eine Oase. Und eine Art Volksbühne. Freier Eintritt. Schauspieler, Inszenierungen und Publikum wechseln. Ein Kommen und Gehen. Ein Passant, vielleicht Anfang vierzig, trägt seinen Rucksack fluchend zur Parkbank. Dort stellt er ihn umständlich ab, beginnt laut auf ihn einzureden. Es muss eine slawische Sprache sein. Ich vermute Polnisch. Aber klar wird, der Rucksack ist sein Gegner. Ist es sein Chef oder vielleicht die Partnerin? Drohend hebt der Mann die Stimme, gestikuliert mit den Armen. Er wirkt wie aufgezogen. Ein älteres Ehepaar verfolgt ein paar Bänke weiter das Schauspiel und genießt den Monolog. Niemand kümmert sich um den brüllenden Fremden. Passanten ziehen ungerührt an dem tobenden Mann vorbei. Ist das Berliner Toleranz oder Gleichgültigkeit?

Plötzlich nähert sich ein verkleideter Werbehase und durchquert den Park. Für wen er im Ganzkörper-Kostüm Reklame läuft, ist nicht zu erkennen. Er lässt Kopf und Schulter hängen, zieht wie ein geschlagener Krieger durch die Anlage. Hat er seine Mission erfüllt oder jede Lust auf seinen Job verloren? Die Parkbesucher schauen dem Hasen auf zwei Beinen verstohlen nach. Jemand zuckt die Achseln. Das war´s.

 

Dan. Standort: Friedrichstraße vor der Sparkasse. Herkunft: Rumänien.

 

In die halbvolle S-Bahn presst sich umständlich ein Plakatträger. „Gegen den Zionismus“, ist zu lesen und vieles mehr. Das Transparent ist eng beschrieben, als sollen alle Katastrophen dieser Welt auf einer Tafel festgehalten werden. Niemand im Abteil reagiert auf den Mann. Die meisten starren unbeeindruckt auf ihr Smartphone. Der Plakatträger murmelt ein paar Parolen, dann setzt er sich und gibt Ruhe, als zwei Kontrolleure zusteigen.

„Die Fahrausweise bitte“, schallt es durch den Wagen. Einige Fahrgäste nesteln in ihren Taschen. Eine ältere, sehr bescheiden gekleidete Frau, schaut unruhig nach links und rechts, spannt ihren schmalen Körper. Sie atmet tief durch. Die Kontrolleure nähern sich, bleiben jedoch beim Kämpfer gegen den Zionismus hängen. Dort entwickelt sich ein anhaltender Disput über Zionismus und die Notwendigkeit des Mitführens eines Beförderungsscheins.

 

Silvio. Standort: Friedrichstraße vor Starbucks. Herkunft: Magdeburg.

 

„Repression überall. Widerstand“, ruft erregt der Anti-Zionist. Die S-Bahn hält an der nächsten Station. Die Kontrolleure walten ihres Amtes. Der Demonstrant wird laut diskutierend zur Türe eskortiert. Derweil verlässt die ältere Frau blitzschnell die Bahn. Auf dem Bahnsteig steckt ihr eine andere aussteigende Mitreisende ihr Ticket zu. Flugs kehrt die ältere Dame in den Zug zurück und setzt ungehindert mit einem gültigen Fahrschein ihre Fahrt fort. Auf dem Bahnsteig streiten der Kämpfer gegen Zionismus und die beiden vermutlich türkischstämmigen Kontrolleure um das Schwarzfahren und alles andere Übel dieser Welt.

„Mach´ s gut und zehntausend Küsse“, sagt die Berlinerin, wenn sie genug hat. Von dir oder mir oder was weiß ich von wem. Wenn alles vorbei ist. Ich könnte noch von vielen Straßenbekanntschaften erzählen. Von der polnischen Kristina mit der Panzerglasbrille, die Jesusbilder verkauft. Von Silvio aus Magdeburg mit der Kinderlähmung, der glücklich strahlt, wenn er zwölf Straßenfeger verkauft hat. Vom „Original-Westberliner“ Torsten an der Weidendammerbrücke, der „Maut für Rollis“ fordert. Von Torsten, dem alten Schweden. Ihm ist die Frau weggelaufen und seitdem hängt er auf der Straße.

 

Mike. Standort: Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße. Herkunft: Schweden.

 

Wen interessiert´s? „Bloß nicht ins Bier weinen“, sagt Ronny, der vor dem Bioladen betuchte Bürger anschnorrt. Als wir uns unterhalten, nähert sich ein Rentner in Jack-Wolfskin-Jacke. „Geh doch arbeiten! Dann brauchst Du hier nicht rumzustehen und Zeitungen verkaufen.“ Antwort des Verkäufers: „Geh Du doch arbeiten, damit Du meine Zeitung kaufen kannst.“ So ist Berlin. Mein Freund und meine Geliebte.

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Wer in der Winterzeit nachts obdachlosen Menschen in Not helfen will, der Kältebus ist von 21 – 03 Uhr unter der Nummer 0178 523 5838 zu erreichen.

Wer lieber spenden möchte, hier der Weg zur Berliner Stadtmission. Jeder Euro hilft.