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Am deutschen Wesen

Das Land sucht seine Mitte. Wieder einmal. Mit einer Rolle rückwärts in die Zukunft? Vor 150 Jahren reimte ein Heimat-Dichter und Spätromantiker: „Macht und Freiheit, Recht und Sitte, Klarer Geist und scharfer Hieb/ Zügeln dann aus starker Mitte/Jeder Selbstsucht wilden Trieb, Und es mag am deutschen Wesen/Einmal noch die Welt genesen.“ Der Name des Poeten? Unbekannt? Er heißt Emanuel Geibel. In Lübeck kann man ihn noch antreffen. Im Rest der Republik ist er vergessen.

Aber die letzten Zeilen seines Gedichts Deutschlands Beruf aus dem Jahre 1861 spuken ungebrochen weiter durch unsere Hirne und Herzen. „Es mag am deutschen Wesen – einmal noch die Welt genesen.“ Aus dem patriotisch intonierten Verb mag wurde alsbald ein nationalistisches soll und später noch ein … wird die Welt genesen. Dieser kleine feine Unterschied sagt viel über die Trennlinie zwischen inniger Heimatliebe und dumpfem Nationalismus. Dichterfürst Geibel ist längst Geschichte, er konnte sich aber auch nicht mehr wehren.

 

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Emanuel Geibel (1815-1884). Romatischer Poet in Pose.

 

Geibel träumte im 19. Jahrhundert von der Überwindung der deutschen Kleinstaaterei. Als er in seinem Münchner Zeit in Reimen, Versen und Gedichten allzu preußisch wurde, verlor er 1868 seine – vom bayerischen Königshaus zugeteilte – lebenslange Pension. Er kehrte in seine Vaterstadt Lübeck zurück, wo er 1881 starb. Heinrich Mann verewigte den Landsmann in dem Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit in der Rolle des Dichters Prof. von Heines. Auch Bruder Thomas Mann verarbeitete Geibel in seinem urdeutschen Familienroman Buddenbrooks.

 

 

Geibel blieb ein Leben lang ein unverbesserlicher Romantiker. Einer, der die Sehnsucht in glühende Worte goss. Dabei war Heimat für ihn kein Ort. Sondern ein Gefühl. Und so beginnt übrigens Geibels „am deutschen Wesen-Gedicht“:

 

„Soll’s denn ewig von Gewittern

Am umwölkten Himmel braun?

Soll denn stets der Boden zittern,

Drauf wir unsre Hütten baun?

Oder wollt ihr mit den Waffen

Endlich Rast und Frieden schaffen?

Dass die Welt nicht mehr, in Sorgen

Um ihr leichterschüttert Glück,

Täglich bebe vor dem Morgen,

Gebt ihr ihren Kern zurück!

Macht Europas Herz gesunden,

Und das Heil ist euch gefunden.“

Über Vater und Sohn

Bruce Springsteen. Der Boss. Zwei neue Bücher, ein altes Thema. Die Einsamkeit des Künstlers. Viele Jahre litt der US-Rockstar unter Depressionen – das schreibt er selbst in seiner Autobiografie. Als sein Vater 1998 starb, holte ihn der „Schwarze Hund“ ein. Doug Springsteen hatte seinen Sohn ein Leben lang schikaniert. Mithilfe von Ärzten, Medikamenten und Ehefrau Patti fand er wieder aus dem Tief. Bruce: „Wenn sie den Güterzug sieht, der Nitroglyzerin geladen hat und aufs Entgleisen zusteuert, dann bringt sie mich zum Arzt und sagt: ‚Dieser Mann braucht ein Pille‘.“

 

Bruce Springsteen verkörpert wie kein anderer das andere, bessere Amerika. Der ehrliche Arbeiter. Bodenständig, zuverlässig, geradeaus. Ein Working Class Hero. Seine Konzerte sind ein Erlebnis und bis zur Erschöpfung lang, oft drei Stunden und mehr. Egal, ob er mit seiner E-Street-Band vor dreihundert, dreitausend oder dreißigtausend im Stadionrund spielt. Am Ende dankt das Publikum glücklich aber müde mit Erlösungsbeifall.

 

 

Der österreichische Journalist Philipp Hacker-Walton erzählt in seiner neuen Biografie eine klassische Außenseitergeschichte. Er taucht in die Sturm-und-Drang-Jahre von 1975 bis 1978 ein. Der junge talentierte Künstler Bruce kämpft in frühen Jahren mit einem gierigen Manager, der ihn verrät und verkauft. Er ringt mit einem Vater, der ihn knallhart kontrolliert und hartherzig abperlen lässt.

Die Familie ist ein Gefängnis. Vater Doug fühlt sich vom Leben betrogen, ob als Busfahrer, Fließbandjobber oder Gefängniswärter. Hart Malochen, wenig Freude und warten bis Sohn Bruce nach Hause kommt. Der Sixpack Bier bleibt am Abend in der einsamen Küche der einzige Trost. Mutter Springsteen nimmt einen Kredit, um ihrem Sohn zum 15. Geburtstag eine E-Gitarre schenken zu können. Statt Grammatik und Geometrie übt Sohn Bruce fortan Griffe von C-Dur bis A-Moll.

In Born to run singt und spielt Bruce sich 1975 seinen ganzen Vorstadt-Frust aus dem Leib. Ein Album voller Aufbruch und Energie, getragen von geradezu naivem Idealismus. Geboren, um loszulaufen. Nur wohin, sagt der damals 26-jährige nicht. Vierzig Jahre später liefert der Weltstar Springsteen mit Wrecking Ball den Soundtrack zur Finanzkrise. Er gibt den Ausgepowerten und Betrogenen eine Stimme, wenn er singt: „The banker man grows fat, working man grows thin“.

 

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Eine neue Biografie von Philipp Hacker-Walton über Bruce Springsteen aus Österreich.

 

Am 27. September erscheint Springsteens Autobiographie “Born To Run” (Heyne) gemeinsam mit dem neuen Album: “Chapter & Verse“. Philipp Hacker-Waltons Biografie Vom Außenseiter zum Boss Als Bruce Springsteen sich seine Songszurückholte (Braumüller) ist bereits im Buchhandel erhältlich.

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Marlene unter uns

„Wo denn das Grab der Dietrich sei“, frage ich eine ältere Dame mit grüner Gießkanne. Schnurstracks antwortet die Berlinerin: „Folgen Sie mir. Sie liegt direkt neben meinem Mann.“ Wir gehen einige Reihen auf dem Friedhof Friedenau entlang. Die Frau volle Kanne vorneweg. „Da ist sie.“ Wir stehen vor dem Ehrengrab der Marlene Dietrich. „Es wird kaum gepflegt. Eine Schande. Die Blumen verdorren. Keiner räumt sie weg. Ach…“ Die Witwe macht eine stumme wegwerfende Handbewegung, wendet sich ab, gießt ihren Mann.

 

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„Hier stehe ich an den Marken meiner Tage“. Marlene in Friedenau.

 

„Hier stehe ich an den Marken meiner Tage“, lese ich. Hier ruht sie also. Die Grand Dame des deutschen Films. Geliebt, gehasst, umstritten, gefeiert. In Paris einsam gestorben, in Berlin zur letzten Ruhe gebettet. Das Grab ist schlicht, geradezu bescheiden. Alles andere als ein pompöser Gedenkort für einen Weltstar. „Marlene 1901-1992“, ist auf dem Stein noch zu lesen. In meinem Kopf beginnt Suzanne Vega ihr Marlene on the Wall zu summen. Ein großer Erfolg war ihre musikalische Referenz, 1985.

 

 

Ein paar Meter weiter liegt Helmut Newton, der Fotograf der Schönen und Reichen. Ganze zehntausend Gräber hat der kleine Friedhof an der Stubenrauchstraße in Friedenau. Er gehört zu den kleinsten der Hauptstadt, gilt aber als Künstlerfriedhof. Hier ist auch der italienische Komponist Ferrucio Busoni begraben. Die Schriftstellerin Dinah Nelken hat dort ihre letzte Ruhestätte. Der Lyriker Kurt Bartsch? Wie bitte? Nie gehört?

 

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Letzte Botschaft eines Lyrikers.

 

Wer den kleinen Acker der toten Künstler besucht, scheint aus der Zeit zu fallen. Bei einem Trompeter heißt es: Er konnte auf 2 und 4 klatschen. Was für ein treffender, fulminanter Abschiedsgruß!

 

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Letzter Gruß eines Musikers.

 

Marlenes Grab wirkt keineswegs herausgeputzt wie ein Ehrengrab. Kümmert sich denn hier keiner? Das fragte schon vor Jahren die Boulevardpresse. Zuständig ist der Berliner Senat. Die Landesregierung soll Ehrengräber würdig und angemessen unterhalten. Aber dafür reicht es wohl nicht. Nicht einmal für die unvergessene Marlene Dietrich.

Friedhof Friedenau. Stubenrauchstraße 43-45, 12161 Berlin, geöffnet täglich von 8-18 Uhr.

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Is mir egal

„Erster Schultag in Berlin. Die Kinder haben noch keinen Stundenplan, aber am zuckerfreien Vormittag wurden schon mal die Namen getanzt.“ Notizen vom Prenzlauer Berg. Die Hauptstadt ist aus den Ferien zurück. Und – wie gewohnt – funktioniert nichts richtig. Das Finanzamt ist abgetaucht. Das Bürgeramt Kreuzberg schickt verzweifelte Bürger wieder weg, die bereits zum fünften Mal einen ausgefüllten Antrag abstempeln lassen wollen. Warum? – Antwort des Amtsträgers: „Ganz einfach – weil ich nicht will!“ Das ist Berlin.

„Is mir egal“, ein Werbespot der hauptstädtischen Verkehrsgesellschaft BVG hat längst Kultstatus erlangt. Sechs Millionen Menschen können nicht irren. Eigentlich sollte gegen Schwarzfahren geworben werden, doch die eigentliche Botschaft ist überall angekommen. Ist doch eh egal. Zum Beispiel, dass einer Familie auch zwei Monate nach Geburt ihres Kindes kein Kindergeld ausgezahlt wird. Warum? – Die Eltern haben keine gültige Steueridentifikationsnummer. Die bekommen sie aber nur, wenn sie einen Termin beim Bürgeramt ergattern. Und seitdem der Sprößling da ist, stehen sie auf der Warteliste.

 

Was im Kleinen nicht funktioniert, kann auch im Großen nicht gelingen. Unfassbare neun Jahre dauert in der Hauptstadt bisher der Bau einer neuen Schule – die Boulevardzeitung „B.Z.“ hat aufgelistet, was in der Zeit bislang alles so geschehen ist: 1) Bezirk definiert Bedarf, 2) Mittel werden beantragt, 3) Testat wird erstellt, 4) Senator für Finanzen verabschiedet Investitionsplan, 5) Anmeldung durch Bezirk, 6) Senatsbeschluss, 7) Erarbeitung Bedarfsprogramm, 8) Genehmigung Bedarfsprogramm, 9) Vergabeverfahren, 10) Auswahlentscheidung, 11) Vorplanungsunterlagen (VPU) werden erarbeitet, 12)  VPU werden genehmigt, 13) Veranschlagung im Haushalt, 14) Bauplanungsunterlage (BPU) wird erarbeitet, 15) BPU wird genehmigt, 16) Ausführungsplanung, 17) Ausschreibungscheck, 18) Baubeginn, 19) Fertigstellung (evtl.), 20) Is egal.

 

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Auch aus Büroklammern kann etwas werden. In Berlin ächzen alle unter einer Verwaltung, die nur noch im Ausnahmemodus funktioniert.

 

Wird schon. Wie der Flughafen. Also Kopf hoch, und nicht die Hände!

Wir brauchen einen Willy

Die Bundesrepublik ist mittlerweile 67 Jahre alt. Das Land hat bei allen Fehlern ein paar Dinge geschafft: die längste Wohlstandsphase seit Menschengedenken, die stabilste Friedensperiode der deutschen Geschichte und eine Vereinigung, die den Kalten Krieg ohne einen einzigen Schuss beendete. Selbst die skeptischen Briten erklären die Deutschen in BBC-Umfragen regelmäßig zum populärsten Land der Welt. Und die Deutschen selbst? Sie maulen, meckern und folgen zunehmend denen, die Angst und Schrecken beschwören. Man könnte meinen, die Welt gehe bald unter. Und nur eine Kraft kann sie retten: die AfD.

Die Stärke der AfD ist eindeutig die Schwäche der etablierten Parteien. CDU, SPD und Grüne gelten als verbraucht und unfähig Probleme zu lösen. Angesichts einer biblischen Flüchtlingswelle, Folge der ungehemmten Globalisierung, ist das kein gutes Zeichen. Aber es fehlt noch mehr: Eine politische Elite mit Haltung, Herz und Zielen. „Die Willy Brandts wachsen nicht auf den Bäumen“, klagte einmal SPD-Vordenker Erhard Eppler. Dabei wäre ein Politiker von diesem Format nötiger denn je. Verzweifelter Ruf an die Götter: Wo ist ein neuer Willy?

 

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Willy Brandt. (1913 – 1992)

Die Lage der Volksparteien ist kritisch. Jahr für Jahr verlassen zehntausende Mitglieder CDU und SPD. Ähnlich wie die Amtskirchen verlieren Parteien ihre wichtigste Ressource: das Volk. Doch deren Antwort lautet: verharmlosen und verschweigen. Stattdessen dienen Altparteien als Postenjäger- und Karriereunternehmen für 18.000 Berufspolitiker. Für viele gilt: Ein Talkshow-Auftritt zählt mehr als Sacharbeit. Loyalität ist wichtiger als Leistung. Mauscheln um Listenplätze ein notwendiges Übel. An die Spitze gelangen ehrgeizige Referenten oder Menschen mit ausreichend Sitzfleisch, für die Konferenzen der Kern ihres Daseinszwecks ist.

Handwerker, Bauern oder einfache Arbeitnehmer sind Mangelware im professionellen Politbetrieb. Wichtige Entscheidungen werden in kleinsten Kreisen gefällt, häufig an externe Berater delegiert, und anschließend nur halbherzig oder gar nicht erklärt.  Verantwortung ist ein Fremdwort geworden. In den Parteien selbst wird über Wolfsrudelverhalten geklagt. Es herrsche ein zynischer Umgang, mit medialen Heckenschützen und Kannibalismus an der Spitze. Übrig blieben Politiker wie Volkmar Kauder oder Sigmar Gabriel. In der SPD beispielsweise war noch nie die Sehnsucht nach einem Willy Brandt so groß wie in diesen Tagen.

 

 

Vielleicht eröffnet der kometenhafte Aufstieg der AfD in diesen Tagen eine einmalige historische Chance. Die Volksparteien könnten sich wieder besinnen, dass sie Teil des Volkes sind und in zentralen politischen Fragen für das Volk da sein sollten. In den letzten Jahren schien im Politbetrieb die Sonne nur noch für clevere Strippenzieher und deren so fleißige wie anonymen Helfer.

Wer mehr über Willy Brandt wissen will, dem sei die Biografe von Peter Merseburger „Visionär und Realist“ aus dem Jahre 2002 empfohlen.

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Im Haus des Volkes

In diesen Tagen holt zahlreiche Bundestagsabgeordnete eine alte Affäre um teure Füller ein. Wie „Bild“ jüngst herausfand, orderten vor einigen Jahren Mitglieder aller Fraktionen wertvolle Schreibgeräte. Selbst Abgeordnete der Linken wurden mit Luxusfüllern der Marke Montblanc im Wert von 2.900 Euro versorgt – umsonst. Ob mit solch edler Tinte die Abgeordneten-Qualität gesteigert werden konnte, bleibt das Geheimnis der Volksvertreter.

Was aber jenseits von  aufgebauschten Aufregern die Abgeordneten wirklich leisten, hat Roger Willemsen in einem beispiellosen Selbstversuch erkundet. Ein Jahr lang besuchte der viel zu früh verstorbene Publizist alle Plenarsitzungen im Reichstag. Er saß auf der Besuchertribüne, staunte, wunderte, ärgerte und langweilte sich. Manchmal war er der Einzige, der den Hervorbringungen der Parlamentarier noch folgte. Abgesehen von den Stenografen, die jede Stunde ausgetauscht werden. Sein Tagebuch „Hohes Haus – ein Jahr im Parlament“ ist von zeitloser Aktualität. Wie alle guten Bücher.

 

Rund 13.000 Reden werden in einer Legislaturperiode im Bundestag gehalten. Roger Willemsen war dabei. Er wollte wissen, ob das Herz der Demokratie noch richtig tickt. Und wenn ja, wie? Sein Befund: Starke Rhythmusstörungen. Ein Herzschrittmacher könnte nicht schaden. Willemsen notiert: „In der Politik hat sich irgendwann bei den meisten Fragen ein Vorrang des Strategischen durchgesetzt, in dessen Schatten sich alles andere bewegt. Man siegt nicht durch Einfühlung, sondern durch Kalkül und Technik.“

Was heißt das für ihn? „Falsch also die Vorstellung, ein Politiker verließe am Ende das Hohe Haus und habe primär etwas für die Menschen erreicht oder verloren. Es gibt sicher die Überzeugten in allen Parteien, auf allen Feldern, auf den vorderen wie auf den hinteren Bänken. Es gibt jene, die es gut meinen und die falschen Mittel haben, jene, die dauernd Brücken suchen zum Witz, zur Beleidigung, zum Schulterschluss. Es gibt die von der eigenen Fraktion Marginalisierten, die Übersehenen und Übergangenen, die Geparkten und jene, die gerade kapitulieren und erlöschen.“

 

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Roger Willemsen. (15. August 1955 – 7. Februar 2016)

Willemsen vermisste Visionen und Ideen. Vor allem aber eines: Haltung. Beispiel Bankenkrise und das Verhalten des Bundestages. „Es muss auch im Parlament erlaubt sein die Idee eines Landes aufrechtzuerhalten, in dem sich das Gemeinwohl nicht über das Wohl der Banken definiert. Die Debatte, die jetzt geführt werden müsste, wird aus vielen Gründen nicht mehr geführt. Das System begründet sich nicht mehr. Seine Krise, die auch eine Krise seiner Werte ist, wurde nicht von der Kritik oder vom Protest ausgelöst sondern von immanenten Prozessen und dem folgenden Kollaps.“

Vor genau einem Jahr ereilte Roger Willemsen der Befund, dass sich der Krebs eingenistet hat. Er zog sich zurück, ertrug die verbleibende Zeit mit Tapferkeit. Am 7. Februar 2016 starb der geschätzte Kollege in der Nähe von Hamburg. Was bleibt, sind seine Bücher. Es lohnt sich in  „Hohes Haus“ reinzuschauen.

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Das Glück am Bass

Der Bass bleibt in der Regel für Struktur, Begleitung und Tiefe zuständig. Der Bassist ist überwiegend männlich, still und im Hintergrund. Als Solo-Instrument im modernen Groove übernimmt er vorzugsweise eine dienende selten eine aktive Rolle. Nicht so bei Kinga Glyk. Virtuos entwickelt die Polin auf ihrem Bass eine eigene Handschrift, die überrascht und überzeugt. Kinga ist 19 Jahre alt. Sie gilt als eines der Super-Talente im europäischen Jazz. Sie hat eine große Zukunft vor sich.

 

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Kinga Glyk. Der neue Stern am Jazz-Himmel.

 

Kinga ist ein polnischer Vorname und bedeutet auf Deutsch Kunigunde. Glyk kommt aus dem Griechischen und steht für „süß schmeckend und Zucker“. Kinga Glyk stammt aus einer polnischen Musikerfamilie. Ihr Vater Irek ist Schlagzeuger, ihr Bruder ebenfalls Musiker. Mit zwölf begann Kinga den Bass zu entdecken, heißt es auf ihrer Website. Sie spielte bereits über 100 Konzerte quer durch ganz Polen. Nun überschreitet sie Grenzen und hat in Rostock ihr erstes Konzert in Deutschland gegeben. Das Publikum war begeistert. Großen Dank an Klaus-Martin Bresgott für seinen Hinweis.

 

 

Im März 2015 erschien ihr erstes Album „Registration“. Jetzt im Sommer 2016 legt sie mit ihrer Band „Happy Birthday“ vor. Eine durchweg starke Einspielung. Voller Spielfreude, cool und mit großartigen Soli. Sie eifert den Großen wie Jaco Pastorius, Stanley Clarke oder Victor Wooten nach. Ihre Cover-Version von Claptons „Tears in Heaven“ ist ein Hammer. Vielleicht kann Kinga eines Tages in die Fußstapfen von Jazzbass-Gott Marcus Miller treten. Das Zeug dazu hat sie.

 

 

Kinga Glyk ist Anfang Oktober 2016 wieder in Deutschland und zwar in Groß-Derschau zu sehen. Das ist in der tiefsten sächsischen Provinz in der Nähe von Zittau, aber eine Reise wert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der neue Star des polnischen Jazz bald auf den großen Bühnen der Welt anzutreffen ist. Aber vorher beim Mandau Jazz-Festival. Groß-Derschau.

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Die Nacht im Eimer

Der Malerfürst Georg Baselitz liebt es kräftig, klar und am besten so richtig deftig. Seine Helden sind gegen den Zeitgeist gemalte grandiose Anti-Helden. Gebrochen, geheimnisvoll, verstörend. Sie sind gerade im Frankfurter Städel-Museum zu sehen. Berühmt wurde der gebürtige Sachse mit einem Geniestreich. Seit Ende der sechziger Jahre stellt er seine Motive einfach auf den Kopf. Verkehrte Welt, das Markenzeichen von Baselitz. Warum? „Ich war ein sehr aufmüpfiger, renitenter Typ und musste unbedingt was machen, was ich mir vorstellte, dass es nicht existiert in der Kunst.“

1938 kam er als Hans Georg Kern in Deutschbaselitz auf die Welt. Der Vater ein Nazi. Seine Heimat ein kleiner Ort in der Oberlausitz, wo er, wie er sagt, wild aufgewachsen ist. Im Alter von 21 Jahren verweisen ihn DDR-Funktionäre wegen „gesellschaftlicher Unreife“ von der Kunsthochschule. Kern nimmt den Namen seiner Heimatstadt an und wechselt 1957 nach West-Berlin. Auch im Westen malt er weiter gegen herrschende Normen an. „Die große Nacht im Eimer“ sorgt für einen handfesten Skandal. Ein onanierender Junge. Pornografie wirft ihm der Zeitgeist vor. Es kommt zu einem Prozess. „Ich wollte Schweinereien machen. Und Schweinereien fing, dachte ich, an bei der Farbe.“

 

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Georg Baselitz. Die große Nacht im Eimer. 1962/63.

 

In seinem produktivsten Jahr 1965 steigert sich der junge Wilde Baselitz in einen wahren Bilderrausch. Er malt siebzig Werke in einem einzigen Jahr. Sein Heldenzyklus entsteht, später folgen die Russenbilder. Baselitz bevorzugt stets deutliche Worte. „Frauen können nicht so gut malen“, tönt er und „es gab in der DDR keine Künstler, nur Arschlöcher“. Das war einmal. Baselitz ist mit seinen 78 Jahren merklich ruhiger geworden. Er wiegelt ein wenig ab: „Ich war früher sehr aggressiv. Das hat sich ein bisschen geändert. Daraus ist Humor geworden.“

 

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Der Maler im Atelier. Aus „Georg Baselitz. Ein deutscher Maler.“ Doku aus dem Jahre 2012.

 

Mittlerweile zählt der Altmeister zu den Top 3 der Weltrangliste der Kunst. Seine Bilder hängen in allen berühmten Museen. Bei Guggenheim in New York oder auch im Berliner Kanzleramt, damals bei Gerhard Schröder. Der raubeinige Provokateur hat es zu einer Art Staatskünstler gebracht. Dabei bleibt er sich über die Jahrzehnte hinweg treu – allen modischen Trends zum Trotz. Er malt die Welt weiter sinnenfroh, unangepasst und konsequent kompromisslos. „Das Motiv ist eigentlich seit fünfzig Jahren immer das Gleiche: meine Frau, ich, der Adler, die Landschaft da, wo ich herkomme und so weiter.“

 

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So sieht Dragan Iljkic den großen Provokateur der Nachkriegsmalerei Georg Baselitz.

 

Baselitz Ehefrau Elke, mit der er seit über fünfzig Jahren sein Leben am Ammersee und in Italien teilt, ist seine schärfste Kritikerin. So malt der Künstler aus Deutschbaselitz ein Leben lang kräftige Bilder auf dem Kopf und gegen den Strich. Was ist sein Credo? „Wenn man das Gegenteil macht, von dem was gefordert wird, ist es genau richtig.“

Georg Baselitz. Die Helden. Bis zum 23. Oktober 2016 im Städel-Museum in Frankfurt/Main.

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Pardon me

Musik liegt im Blut. Musik ist ihr Leben. Kein Wunder. Die Jazz-Sängerin Jessica Gall stammt aus einer alten Berliner Musikerfamilie. Die Großmutter war klassische Pianistin, der Großvater Sänger. Ihr Vater tourte mit einer Kindertheater-Show durch die DDR. Die 36-jährige hat mittlerweile selbst zwei Kinder. Sie liebt die leisen, aber stimmungsvollen Töne. In hippen Mitte-Szenecafés ist sie nicht anzutreffen. Dafür legt sie lieber alle paar Jahre ein neues starkes Album vor.

 

 

Die Berliner Jazz-Szene ist nicht gerade mit weiblichen Stimmen gesegnet. Pascal von Wroblewsky und Jocelyn B. Smith geben seit vielen Jahren den Ton an. Jessica Gall hätte das Zeug zu einer großen Karriere. Sie ist eine Entdeckung wert. Ausgebildet an der Musikschule Hans Eisler hat sie Ausdrucksfähigkeit, Repertoire und Volumen um das berühmte Eis zum Schmelzen zu bringen. Sie hat das gewisse Etwas, eine Seele von Stimme.

 

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Jessica Gall. Sängerin und Mutter. Songs zum Dahinschmelzen. Sie ist eine Entdeckung wert.

 

Jessica jobbte als Background-Sängerin bei Phil Collins und Sarah Connor. Seit Jahren ist sie mit ihrem Mann Robert Matt und einer eigenen Band auf den Bühnen der Clubszene unterwegs. Aber um es ganz an den Spitze zu schaffen, sind zwei Kinder, die geliebt, gehegt und gepflegt werden wollen, keine Empfehlung. Vielmehr eine tägliche Herausforderung. Drei Alben hat sie in den letzten zehn Jahren veröffentlicht. Im Januar 2017 folgt ihre neue Produktion Picture Perfekt.

 

 

Demnächst ist Jessica Gall im Berliner a-trane live zu erleben. (6. – 8. September 2016. Beginn jeweils 21 Uhr). Es lohnt sich.

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Erfolg macht blind

Was kostet zerstörtes Vertrauen? 15 Milliarden, 30 Milliarden, 100 Milliarden Euro? So weit reichen die Schätzungen im Fall VW. So teuer könnten die Abgas-Betrügereien an elf Millionen Dieselautos werden. Ein Fiasko. VW taumelt vom weltgrößten Autohersteller, so der einstige ehrgeizige Plan, in den größten GAU seiner Firmengeschichte. Jedem Unternehmen ohne inneren Kompass, Werte und Vertrauen in die Mitarbeiter kann ein solches Schicksal blühen. Immer dann, wenn Erfolgstreben blind macht.

Ende Mai 2016 konnte Psychotherapeut Günter Funke vor 400 VW-Führungskräften zum Thema Vertrauen, Verkaufszahlen und Erfolg seinen letzten Vortrag halten. Der Kern seiner Ausführungen lautete: „Wenn Erfolg Recht gibt, dann ist jeder Betrug, der zum Erfolg führt rechtens“. Hier einige Auszüge aus der Wolfsburger Rede, dem die gesamte Führungsspitze unter  VW-Chef Matthias Müller atemlos folgte.

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Korrekt mit Schlips und Kragen. Wie altmodisch sind Fragen wie Vertrauen oder Werte?

 

 „Die Frage steht nicht erst seit heute Abend im Raum: „Wie ist ein solches Fehlverhalten zu erklären?“ Wir können auch fragen: „Was ist schief gelaufen, wie konnte das passieren, was ist falsch gemacht worden?“ Und die Antwort auf diese Fragen dann im vorgegebenen Rahmen der Regeln und Verordnungen die bei VW in Geltung sind, suchen. Systemimmanent also. Vielleicht wird dann festgestellt, dass das System in Ordnung ist, es gab halt Bedienungsfehler.

Wir können den Horizont aber auch weiter aufspannen, also grundsätzlicher fragen, nicht nur nach dem Fehlverhalten, sondern auch grundsätzlicher: Was hat gefehlt? Das bedeutet nach Gründen suchen und nicht bei den auslösenden Aspekten stehen zu bleiben. Das Fehlende wird oft erst sichtbar, wenn größere Zusammenhänge erkennbar werden. Um überhaupt erkennen zu können, was fehlt, muss ich ein Wissen um das Ganze haben. Dieses Wissen ist oft intuitiv vorhanden, wird aber zu wenig aktualisiert und zum Gegenstand einer vernünftigen Reflexion gemacht.

Denn Fehlverhalten basiert auf dem Fehlen von Haltung. Die Haltung eines jeden Menschen wird geprägt von den ihn leitenden Werten, ohne Werte ist eine stabile Haltung nicht möglich.

Bei etwas genauerem Hinsehen erscheint mir VW immer als ein eher autokratisch geführtes Unternehmen zu sein, das in seiner weltumspannenden Größe kaum noch wirklich zu führen ist. Autokratisch geführte Unternehmen weise oft erhebliche Mängel auf, die aber durch den anhaltenden Erfolg (die Verkaufszahlen stimmen) kompensiert werden. Erfolg ist für Innovation und Kreativität kein guter Begleiter, das hat uns die Neurobiologie gezeigt.

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Eine Hand wäscht die andere. Erfolg ist alles.

Je erfolgreicher wir eine Strategie über lange Zeit anwenden, desto tiefer fahren sich die „Autobahnen“ in unser Gehirn ein und wir verfügen am Ende nur noch über die Regeln und Mechanismen des gerade laufenden Erfolgsmodells. Das Gehirn schafft keine kreativen Vernetzungen mehr, es ist eingleisig werden. Wirklich kreativ wird ein solches Gehirn erst dann wieder, wenn der Karren vor die Wand gefahren ist.

Autokratisch geführte Unternehmen versteigen sich immer mehr auf die Zahl, auf die Erhöhung der Verkaufszahl, koste es, was es wolle. Es zeugt nicht gerade von Vernunft, wenn immer neue Steigerungsanforderungen als Ziel, als Motivation herausgegeben werden. Sie kennen das ebenso wie ich. Erhöhung der Akkordnorm führt immer zu großem Widerstand und zu Ängsten. Und dann werden Schlupflöcher gesucht. „Wie können wir dem auferlegten Stress entgehen?“ Um-gehen, anstatt umzugehen. Und da wird dann plötzlich wieder Kreativität frei. Auch Betrug kann Kreativität sein – aber ohne Bezug zu tragenden Werten.

„Wenn Erfolg Recht gibt, dann ist jeder Betrug, der zum Erfolg führt rechtens“

Die Angst gerät langsam in den Hintergrund, klammheimliche Freude ist spürbar – und doch – es wird nicht aufgehen. Das Gehirn adaptiert die zuerst noch wahrgenommene Fehlhaltung, die ja auch eine Schonhaltung ist, oder ein Vermeidungsverhalten, als normal. Es nimmt die Abweichungen von der geltenden Norm nach ca. sechs Wochen nicht mehr war, es sei denn, ganz tief verankert, im Grunde verankert wären Werte andere Werte als der Erfolg um jeden Preis. Wenn Erfolg recht gibt, dann ist jeder Betrug, der zum Erfolg führt rechtens.

Ich würde auch nicht von krimineller Energie sprechen, völlig überzogen. Ja, es war ein technisches Problem – und ein Werteproblem.

Verantwortung setzt Freiheit voraus, fehlt diese Freiheit zur Verantwortung dann wird alles schnell zum Zwang, es folgt das Gefühl des zum ständigen Müssens und das wird auf Dauer unerträglich. Parolen herausgeben: Noch mehr Autos verkaufen, weltweit größter Konzern zu sein etc., das ist einer Führungskraft heute nicht mehr würdig, offenbart eher Peinlichkeit. Ein Umdenken hat begonnen, ein not-wendiges Umdenken – oder ist es ein Um-Fühlen? Es geht jetzt nicht darum Schnellschüsse zu produzieren, wichtig ist, den Prozess zu beginnen, der zu neuen, werthaften Haltungen führt, und nicht nur ein wenig an der Oberfläche des Verhaltens zu kratzen.“ (Vortrag in Wolfsburg. Mai 2016)

Günter Funke. Vortrag vom 02.11.2015

 

Günter Funke war bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, als er den VW-Oberen die Thematik von Vertrauen und Werten ins Stammbuch schrieb. Der gelernte Theologe wurde bis zum Schluss nicht müde, daran zu erinnern, dass im Leben alles veränderbar sei. Man dürfe sich von seiner Angst nichts gefallen lassen, machte er seinen Mitmenschen bis zuletzt Mut. Günter Funke starb am 3. August 2016 im Alter von 67 Jahren.