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Petite Fleur

Mina. Eine kleine Blume. Zart. Rosig. Unbekümmert. Hilfsbedürftig. Niedlich. Neu auf dieser Welt. Ein zerbrechliches Geschöpf. Die Augen geschlossen. Sanft heben sich die Nasenflügel. Der Mund leicht geöffnet. Ein kleines Menschenkind. Eines von über sieben Milliarden auf dieser Erde. Und doch ein Wunder der Natur. Immer wieder, immer anders und doch so herrlich einzigartig.

Mina wird in einer Stadt aufwachsen mit Häusern, die bis in den Himmel ragen. Mit Straßen, Plätzen, Überführungen, Bürotürmen, Einkaufszentren und Tunneln, in denen es von früh bis spät wie in einem Ameisenhaufen wimmelt. Die kleine Biene Mina ist eine Prinzessin, die in Hongkong das Licht der Welt in Form einer LED-Lampe erblickt hat. Ihre winzigen Fußabdrücke hat sie bereits nach wenigen Minuten Menschsein hinterlassen. Einmal rechts, einmal links. Zack – auf die Registrierungskarte. Mina wurde gemessen und gewogen und an die glücklichen Eltern zurückgegeben.

 

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La Petite Fleur. Ein kleines Wunder.

Die Kette des Lebens hat sich um ein Glied verlängert. Gewiss, das ist höchstens ein Wimpernschlag in der Erdengeschichte. Aber einer, der mich berührt. Mina ist unsere erste Enkelin. Ich bin nun offiziell Großvater, Opa und wieder Kinderwagenberechtigt. Wenn auch nur für Stunden und als Aushilfskraft. Auf in die ferne große Stadt am anderen Ende der Welt.

 

Mina ist ein Maienkind. Deshalb widme ich ihr ein Frühlingsgedicht von Heinrich Heine. Dem alten genialen Lästermaul vom Rhein. Aber auch dieser Zyniker und scharfzüngige Obrigkeitsspötter konnte in manchen Momenten so wunderbar sentimental sein. Momente, wie sie die Geburt einer kleinen neuen Menschenhoffnung bedeuten. Heine für Mina.

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.

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Haben Sie eine Geschichte?

Theodor Fontane schrieb seinen ersten Roman im zarten Alter von sechzig Jahren. Kein Wunder, dass er vielen mehr oder weniger begabten Menschen des Wortes als Vorbild dient. Frei nach dem Motto: Wartet ab, wenn ich auch mal die Sechzig voll habe. Dann geht´s zur Sache. Ein Bestseller nach dem anderen. Im Alter meißelte der märkische Meister Fontane Sätze wie diese in die Literaturgeschichte: „Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.“

Keine Lust am Leben. Nur Pflicht. Preußischer geht´s nimmer. So ist es im Stechlin. Pflichterfüllung ist alles. Disziplin. Gehorsam. Kerzengerade mumifiziert bis der Staub von den Schulterstücken rieselt. Unverrückbar. Da wird es auf Dauer sterbenslangweilig. Haben Sie eine Geschichte? Eine bessere? Voller Leichtigkeit. In einer fröhlichen Abfolge von Anfang, Irrungen, Wirrungen und überraschendem Ende. Gewürzt mit Witz und Esprit? Garniert mit Bruchstücken, Entwürfen und Versuchsanordnungen. Wie heißt es doch bei Max Frisch? „Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ Sollte es nicht klappen, spendet Meister Fontane einmal mehr verlässlich Trost. Denn morgen kommt ein anderer Tag. Ganz sicher.

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Sind wir nicht alle auf Wanderschaft? 400 mal hat der Künstler Ottmar Hörl den märkischen Großdichter in seiner Geburtsstadt Neuruppin aufgestellt. So sinniert Fontane durch die Lande.

 

Trost

Tröste dich, die Stunden eilen,

Und was dich drücken mag,

Auch das Schlimmste kann nicht weilen,

Und es kommt ein anderer Tag.

In dem ew`gen Kommen, Schwinden,

Wie der Schmerz liegt auch das Glück,

Und auch heitere Bilder finden

Ihren Weg zu dir zurück.

Harre, hoffe. Nicht vergebens

Zählest du der Stunden Schlag,

Wechsel ist das Los des Lebens,

Und – es kommt ein anderer Tag.

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Der Bass-Gott in der Eckkneipe – Marcus Miller

Die Schlange reicht bis weit auf die Straße. Die Karte kostet regulär fünfzig Euro. Die im Regen vor der Tür Wartenden hoffen auf ein Ticket. Für den doppelten Preis. Egal. Nur dabei sein! Statt Pop-Sülze und Kaufhaus-Jazz wird gleich einer der ganz Großen den Bass zelebrieren: Marcus Miller. Jedes Plätzchen im Berliner A-Trane ist schon Stunden vor Beginn besetzt. Starbariton Thomas Quasthoff hat sich eine Nische in der Ecke ergattert, Trompeter Till Brönner direkt bei ihm. Die Luft im Club steht. Ein Fan aus Warschau ist verzückt: „Ich habe ihn in Darmstadt, Lugano und Danzig gesehen. Da groovte er vor zwanzigtausend Besuchern. Und heute hier in diesem winzigen Club. Unglaublich. Er ist ein Gott.“

Dann kommt der Mann aus Brooklyn, der diskret im Hintergrund auf vielen hundert Studioalben Superstars wie Mariah Carey, Elton John, Bryan Ferry, Aretha Franklin, Al Jarreau, Frank Sinatra den Bass gespielt hat. Wie ein Vulkan legt er auf seinem Fender Jazz Bass los: knackig, schnörkellos und äußerst präzise! Miller schließt die Augen, streichelt, peitscht und treibt seinen Bass unermüdlich an. Der 56-jährige hält sie mal wie eine Pump Gun, dann umarmt er sie wie seine Geliebte. Der „Erfinder“ des Slapbass-Stils kürt  sein Instrument zum Solo-Star. Auf der Bühne ist er Herz und Hirn, die Musiker könnten seine Söhne sein.

„Als ich die ersten Songs geschrieben habe, waren die Jungs noch Babys“, sagt der UNO-Sonderbotschafter des Jazz. „Ach, sie waren noch gar nicht auf der Welt. Die Eltern haben sich bestimmt noch gestritten, ob sie wirklich Nachwuchs wollen.“ An diesem Abend ist der heimliche Star der junge Trompeter Maurice Bishop. Ein begnadeter Musiker, tänzelnd, abwechslungsreich, ein verschmitzter Faxenmacher. Seine Soli konkurrieren mit Millers Bass, laut, drängend, fordernd, pulsierend, wild, ungestüm.

 

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Marcus Miller in Berlin. Foto: Nick Becker

Die Marcus Miller Band ist wie ein Kraftwerk auf Hochtouren, kurz bevor alle Kessel explodieren. Das Sextett produziert Hochspannung. Es ist der Sound der Großstadt. Brooklyn in Berlin. Messerscharfe Soli auf Trompete, Sax und Gitarre. Es sind Duelle der anderen Art. Die Bläser spielen mal leichtfüßig, mal forciert. Dann halten sie die Luft an, blasen sich die Seele aus dem Leib. Marcus Miller antwortet und genießt diesen Abend. Über allem schwebt Miles Davis. Wenn es eine Botschaft an diesem Abend gibt, dann diese: Der Jazz lebt. Der kleine Club tobt, fordert Zugaben. Draußen vor der Tür hat es aufgehört zu regnen.

 

Am 14. Juli 2016 ist Marcus Miller wieder einmal in Europa. Gemeinsam mit Carlos Santana tritt er beim diesjährigen legendären Jazzfest in Montreux auf.

Wer Angst vor dem Schwarzen Mann?

Im Schützenverein Eberswalde war er wer. Den alljährlichen Höhepunkt, das „Vogelschießen“ auf eine Schwanzfeder, verpasste er nie. Gert Schramm gehörte stets zu den Favoriten. Treffsicher, gradlinig, ohne großen Firlefanz. So wurde er der erste farbige Schützenkönig von Brandenburg. Mitten im Land des Roten Adlers. Jetzt ist er abgetreten. Der Verlag Aufbau teilte mit, Schramm sei vor einigen Tagen im Alter von 87 Jahren verstorben.

An die Oder, Deutschlands östlichstem Punkt, hatte sich Gert Schramm die letzten Jahre zurückgezogen. Mit Hund Moritz, den er liebte, und einer Hautfarbe, die er nicht ablegen konnte. Das war sein Schicksal: er fühlte sich wie alle anderen und blieb doch die große Ausnahme. Das Licht der Welt erblickt er 1928 in Erfurt. Sein Vater ist ein farbiger Amerikaner auf Montage, seine Mutter stammt aus Thüringen. Schon als Kind drangsalieren ihn die Nazis. Bereits mit 13 Jahren, wird der „Negermischling“, wie es amtlich heißt, „sonderbehandelt“, um möglichen schädlichen Einfluss auf Altersgenossen zu verhindern.

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Gert Schramm. Er besuchte gerne Schulklassen, erzählte, wie es damals war. Foto: Zeitzeugen-Projekte.de

Die Gestapo interniert Gert im Jahre 1943. Ein Jahr später stecken ihn die Nazis ins Konzentrationslager. Block 42. Mit fünfzehn Jahren ist er der erste und einzige deutsche Schwarze in Buchenwald. Sie tätowieren ihm die Häftlingsnummer 49489 ein. „Mein Vater kam bereits 1941 nach Auschwitz, gilt als verschollen“, erzählte Schramm später, „meine Mutter musste in den Arbeitsdienst.“ Gert überlebte, weil ihn der Blockälteste vor der SS und der Zwangsarbeit im Steinbruch versteckte. Das vergass er nie und sagte es laut und deutlich. „Das waren die Kommunisten, die mich gerettet haben. Sonst wäre ich nicht mehr hier.“

Im April 45 befreien die Amerikaner den Jungen. Deutschland ist ruiniert. Aber es beginnt eine neue Zeit. Gert Schramm will eigentlich Autoschlosser werden. Zunächst arbeitet er für die Amerikaner, dann für die Sowjets – jeweils in den Effektenkammern der beiden Armeen. Der entlassene KZ-Häftling glaubt an den Sozialismus, sein Projekt heißt DDR. Er schuftet bei der Wismut im Erzgebirge als Kumpel unter Tage. Gert buddelt Uran aus – für die Besatzungsmacht aus der Sowjetunion. Sechs Tage die Woche – unter schwersten körperlichen Bedingungen.

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Gert Schramm. Als ihm einmal ein Skinhead entgegentrat und rief: „Ich bin stolz, Deutscher zu sein.“ Da hielt er entgegen: „Ich auch, du Hornochse!“

Ein entbehrungsreiches Leben. Dennoch: Gert Schramm ist zuversichtlich. Er gründet eine Familie und die Gewerkschaft schickt ihn als Delegierten in die Hauptstadt. In Ost-Berlin erlebt er als Augenzeuge die Junitage 1953 mit Streiks, Unruhen, Schüssen und Panzern. Nur drei Jahre später schliesst sich Schramm dem grossen Flüchtlingsstrom gen Westen an. Er versucht sein Glück in Essen – wieder als Bergmann. Diesmal baut er Steinkohle ab. Die Arbeit ist nicht leichter, aber die Schramms können sich im Wirtschaftswunderland-West mehr leisten und kaufen. Und so bemerken sie kaum, dass die nahe Heimat, aus der sie kommen, unerreichbar fern wird.

Mauerbau 1961. Der Kalte Krieg zeigt mitten durch Deutschland sein wahres Gesicht. Doch das Heimweh ist stärker als Mauern. Die Schramm´s wollen in ihre alte Heimat zurück. 1964 trifft die Bergarbeiter-Familie aus Essen in der DDR ein. Die Stasi bleibt misstrauisch. Wochenlang werden Gert und seine Frau in einem Auffanglager interniert und auf Herz und Nieren überprüft. Familie Schramm verschlägt es schließlich nach Eberswalde. Gert findet Arbeit im Verkehrskombinat.

In den bleiernen achtziger Jahren der DDR fühlt er sich mit Mitte fünfzig zu jung für´s Nichtstun. Er besitzt einen Wolga und schmiedet einen Plan: eine private Taxi-Lizenz. Gert Schramm wird Unternehmer und fährt so in die neue Zeit. Von der Plan- in die Marktwirtschaft, vom Wolga zum Mercedes, von der DDR in die Bundesrepublik. Typisch Schramm! Er wird zweiter Präsident der Taxi-Innung Berlin-Brandenburg, doch in den neunziger Jahren im neuen Einheits-Deutschland ändert sich noch mehr: das Klima wird rauer, eine dunkle Hautfarbe zur Gefahr. In seiner Heimatstadt Eberswalde wird nach der Wende der dunkelhäutige Amadeo Antonio einfach tot geprügelt.

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Gert Schramm am ehemaligen Bahnhof von Buchenwald. Foto: Barbara Hartmann. München.

 

Aber einer wie Gert Schramm lässt sich nicht einschüchtern. Er ist stolz ein Deutscher zu sein, betont er und sagt es jedem, der es hören will oder auch nicht. Am wohlsten fühlt er sich im Kreise seiner Kameraden. Ob im Schützenverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ob als ehrenamtlicher Arbeitsrichter oder viel gefragter Zeitzeuge in Schulen. Gert Schramm ist immer für andere da. Für sein unermüdliches Engagement erhält er im April 2014 das Bundesverdienstkreuz.

„Aufgeben ist nicht“, sagte er einmal zu mir und lächelte vielsagend. Vor einigen Jahren erschien im Berliner Aufbau-Verlag seine Geschichte. Der Titel? Er passt zu ihm. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland“. Das Buch ist vergriffen. Eine neue Auflage gibt es nicht mehr. Aber vielleicht ist sein Lebenswerk noch im Antiquariat zu erhalten. Lesenswert ist seine Geschichte auf alle Fälle und so spannend wie das ganze Leben von Gert Schramm. Überlebender von Buchenwald und Schützenkönig in Eberswalde.

Hurra! Ackern bis 101

Rente mit siebzig, fordert Wolfgang Schäuble. Lebensfremd, kontert Andrea Nahles. Schuften bis die letzten Zähne ausfallen? Wer will das schon? Auch die Babyboomer-Generation steht bald vor einer großen Zäsur. Es ist nun mal so: Jeder will alt werden. Aber keiner alt sein. Malochen bis weit über 65? In einem kleinen Betrieb in der Nähe von Boston gehören Rentnerjobs zum täglichen Brot. Vita Needle heißt die Vorzeige-Firma im Vorort Needham. Durchschnittsalter: 74 Jahre.

Das Überraschende. „Es macht mir großen Spaß hier zu arbeiten“, sagt Robert Omara (71). Auch seine vierzig Kolleginnen und Kollegen kommen gerne und freiwillig. Die Rentner sind zuverlässig, diszipliniert und belastbar. Sie arbeiten meist vier bis fünf Stunden, manche deutlich mehr. Der Umsatz hat sich in den letzten Jahren verdreifacht. Die Alten arbeiten in einer kleinen Werkhalle, in der früher ein Tanzsaal war. Sie produzieren Präzisionsnadeln aus rostfreiem Stahl. Zum Aufblasen von Basketballbällen oder für Gehirnoperationen. Die Älteste? Rosa Finnegan. Kellnerin im Ruhestand, verwitwet. Mit 85 stieg Rosa bei Vita Needle ein und blieb bis zum 101. Lebensjahr. Eine vielgefragte Heldin zahlreicher Reportagen und Fernsehnews.

 

 

Müssen in Boston Senioren ackern, damit Junge arbeitslos bleiben? Ist das nicht pure Ausbeutung von alten Menschen in Not, die sich ihren Ruhestand nicht leisten können? Eine Perversion des amerikanischen Traums? Die Vita-Needle-Truppe winkt ab. Einige müssen in der Tat ein paar Dollars hinzuverdienen. Aber die meisten machen mit, weil sie „nicht alleine dahinrosten“ wollen. Dazugehören, gebraucht und geschätzt zu werden. Das zählt. Arbeit als Gemeinschaftserlebnis, als Sinnstifter und Selbstverwirklichung. Tägliche Medizin gegen Frust und Einsamkeit.

Die Beschäftigten sind frühere Lehrer, Handelsvertreter oder Ingenieure. Sie teilen sich ihre Arbeitszeit selbst ein. „Geht nicht!“ ist hier ein Fremdwort. Der Schlüssel zum Erfolg: Die Produktion ist äußerst flexibel, alle können mehr oder weniger für jeden Kollegen einspringen. Das Gehalt liegt über dem Mindestlohn. Die Senioren empfinden ihre Arbeit nicht als Last, sondern haben Spaß und sind hoch motiviert. Auch wenn die 94-jährige Grace King immer wieder mal bei der Arbeit einschläft, worüber legendäre Geschichten kursieren. Entlassen worden ist bis heute kein einziger Vita-Mitarbeiter. Freundschaften sind entstanden. Jeden Freitagabend trifft sich die 82-jährige Ruth Kenny mit Kolleginnen zum gemeinsamen Kochen.

Vita Needle ist bislang der berühmte Einzelfall. Aber einer über den sich nachzudenken lohnt. Wie wollen wir künftig im Alter leben? Wie kann aus altem Eisen Edelstahl werden, wenn die Rentenkassen geplündert sind? Hirnforscher Gerald Hüther schreibt: „Das Hirn lernt auch im Alter noch, wenn wir uns für etwas begeistern.“ Arbeit als Jungbrunnen, als Therapie oder gar „Urlaub“ vom tristen Seniorenalltag, so der 74-jährige Ex-Architekt Jim Downey. Seine Kollegin Rose Finnegan, die flotte Kellnerin, musste sich erst mit 101 Jahren aus der Firma zurückziehen. Es ging einfach nicht mehr. Das machte sie wirklich traurig. Nur ein Jahr später starb sie – im Alter von 102 Jahren.

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In den nächsten Jahren gehen die Babyboomer in Rente. Über zehn Millionen Menschen. Schöne Aussichten. Ein Grund zum Entspannen?

 

Mehr über die „Rentner GmbH – Arbeit und Selbstwert im Alter“ in dem lesenswerten Buch von Caitrin Lynch: „Geht´s noch?“.

Ewig jung

„Die Welt ist eine Bühne/Männer und Weiber, alle, Schauspieler nur.“ So soll es sein. Shakespeare ist nun vierhundert Jahre tot. Doch seine Werke sind jünger, moderner und aufregender als die allermeisten, die sein Schaffen kopierten und interpretierten, liebten oder verfluchten. „Wie es euch gefällt“. Das ist seine klare Ansage. Zeitlos, universell, voller Treffsicherheit und mitten im menschlichen Leben. Es sind Geschichten, die so himmelstürmend wie abgrundtief vom ewigen Scheitern erzählen. Von Schicksalen kleiner Menschenkinder wie dich und mich.

Wer war er? Ein einsames Genie? Oder ein Teamplayer im Theaterkollektiv, im legendären „writers room“? Vielleicht doch der große Unbekannte unter falschem Namen? Auch an seinem 400. Todestag gibt William Shakespeare weiter Rätsel auf. Der Dichter aus Stratford-upon-Avon hält eine ganze Deutungs- und Literaturbranche am Laufen. Allein arte sendet in den nächsten Tagen vierzehn Filme, Theaterinszenierungen und Dokus. Eine neue CD-Box präsentiert „The sound of Shakespeare“. Zeitgenössische Musik aus der Shakespeare-Epoche um 1600.

„Wenn die Musik die Nahrung der Liebe ist, spielt weiter; gebt mir im Übermaß davon, damit das Verlangen am Überfluss erkranke und so sterbe.“  So Shakespeare in Was ihr wollt“.

 

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William Shakespeare. Um 1610.

 

Letzte Ruhe für einen alten Mann? Von wegen. Selbst die Inschrift auf seiner Grabplatte in Stratford-on-Avon in der englischen Grafschaft Warwickshire birgt ein ewiges Geheimnis, weist auf einen Fluch hin, dem er nicht entkommen konnte oder wollte: „Gepriesen sei der Mann, der diese Steine schont, und verflucht sei der, der meine Knochen bewegt.“

 

Zwei Minuten Zeit für Shakespeare? Neil MacGregor 2012 (heute Intendant Humboldt-Forum Berlin) über seine Faszination in Sachen William Shakespeare. (auf Englisch)

 

In diesem Sinne: As good luck would have. Wie es der Teufel will. That way madness lies. Getreu bis in die Umnachtung. Wild goose chase. Das Leben – eine sinnlose Jagd. Wer immer auch Shakespeare war, seine Werke bleiben genauso aktuell wie putzmunter. „Willy the Shake“, wie ihn die Sängerin Joni Mitchell einmal nannte, ist unter uns und höchst lebendig. „Der Rest ist Schweigen.“

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Wo geht´s zur Karriereleiter?

Eines Tages war sie einfach weg. Die Karriereleiter an der Investitionsbank Berlin. Ein Kunstwerk, fünfzehn Meter hoch, ein fulminantes Statement. Mehrere Aktenkofferträger hangeln sich nach oben, während sie kraftvoll nach unten treten. Sie haben nur ein Ziel: Ganz oben zu sein. Koste es, was es wolle. Da traute sich jemand etwas. Der Künstler, der frech, fröhlich und für alle sichtbar seine Sicht vom Kampf der Ellenbogen inszenierte. Die Bank als Auftraggeber, die großzügig Narrenfreiheit gewährte. Kunst am Bau. Nicht verspielt oder lammfromm, nein klar, provokativ und mit einem Schuss Selbstironie. Seit ein paar Jahren herrscht wieder Leere. Über Nacht war das Werk verschwunden.

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Karriereleiter (2007). Das Original wurde demontiert und ist an einem unbekannten Ort eingelagert.

 

„Die Leiter ist auf dem Schrottplatz gelandet“, sagt Peter Lenk in seinem Atelier in Bodman am Bodensee. „Kaum zu glauben. Die Skulptur wurde einfach demontiert, sollte verschrottet werden. Das war ein Akt von Kunstbarbarei.“ Bildhauer Lenk ist noch heute wütend. „Der Künstler wurde nicht gefragt. Dem neuen Chef der Bank hat die Auftragskunst seines Vorgängers nicht gefallen. Er fühlte sich auf den Schlips getreten. Also weg damit. Wie bei den Nazis.“ Lenk, der Rebell vom Bodensee, schäumt. „Die Karriereleiter konnte vor dem Verschrotten gerettet werden. Aber wo mein Werk heute ist, darf ich nicht öffentlich sagen. Es ist mir gerichtlich verboten worden.“

Das Ende einer Karriereleiter. Wie sinnfällig. So manche Karriere im echten Bankerleben ist wohl ähnlich abrupt beendet worden. Da gefällt einem neuen Chef die ganze Richtung nicht und schon landet der Treppensteiger auf dem Trümmerfeld der Illusionen. Bildhauer Lenk redet ohne Punkt und Komma. „Banker geht es nur noch um Profit und Provision. Faire Beratung zählt nicht. Alles Betrüger.“ Der große, hagere Endsechziger mit beeindruckendem Schnurrbart schimpft nun über korrupte Politiker, die vor Banken und Konzernen niederknien. Er redet genauso kompromisslos wie er seine Arbeiten präsentiert. Direkt, schnörkellos, ohne Angst vor Obrigkeit und Mächtigen. Der gebürtige Nürnberger nimmt kein Blatt vor den Mund.

 

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„Europa“ umlagert und ausgepresst. Radolfzell. (Detail, 2013)

 

In seiner Heimat am Bodensee sind seine Arbeiten allesamt vergnüglich-satirische Kommentare zur Lage der Welt. Längst sind seine überlebensgroßen Figuren nicht nur berühmt-berüchtigt sondern überaus beliebt. In Konstanz thront am Hafen „Imperia“, zehn Meter hoch und höchst verführerisch. In ihren Händen jongliert die Muse Fürst und Bischof, zu Zwergen geschrumpft. In Radolfzell wird die üppige Dame „Europa“ von Lobbyisten und Zockern ausgeplündert. Da hilft ihr auch der Walkürenhelm nichts. Lenk schreibt: „Europas Staaten werden gemolken von einer technokratischen Elite, die weder die Phantasie von Zeus noch die Sinnlichkeit einer Europa hat.“

Und selbst Großdichter Martin Walser blieb von Lenks kreativen Schaffen nicht unbeeindruckt. Auf der Promenade in Überlingen fand er sich als „Eiskunstläufer zu Pferde“ wieder. Walser verlangte nach Inaugenscheinnahme die sofortige Verhüllung dieses „unverzeihlichen“ Denkmals. Es blieb ein frommer Wunsch.

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Im Garten des Ateliers in Bodman (Bodensee) steht noch eine Variante der Karriereleiter.

Nur bei Berliner Bankern beißt sich Lenk weiter die Zähne aus. Seine „Karriereleiter“ ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Tja. Doch am Bodensee, im Garten seines Bodmaner Ateliers, kann die kleine Schwester der Berliner Leiter bewundert werden. Stolz und unzensiert ragt sie in den blauen Himmel hinauf, während Lenk sich vom Hofe macht. „Muss jetzt schaffe. Hab keine Zeit mehr zum Schwätze…“ Das war´s und weg ist er.

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„Genau hier sind sie richtig…“

Das Licht brannte immer. Morgens, mittags, abends und nachts. Mitten im Laden ein großer Schreibtisch, an dem in stets gleich vorgebeugter angestrengter Haltung ein Mann mittleren Alters saß. Er schien mit seinem Computer wie mit einer Nabelschnur fest verbunden. „Satz, Layout, Grafik“ steht in weißen Lettern an der Schaufensterfront. Nun ist der Laden leer geräumt. Niemand sitzt mehr da. Nicht mehr an Heiligabend oder an langen Sommernächten. Nicht morgens um sieben oder Sonntagmittags, wenn Familien ihren Spaziergang zelebrieren. Der Grafiker ist weg. Man hat ihn im Zinksarg aus seinem Laden getragen.

 

Der unscheinbare Grafikladen befand sich in der Mitte meiner kleinen Straße im Westen der großen Stadt. „Druckvorstufe, Elektronische Bildbearbeitung, Digitale Reinzeichnung“, heißt es an der Schaufensterscheibe noch. Aber was der Mann mit den schütteren Haaren tagein tagaus an seinem Arbeitsgerät entwarf, bearbeitete oder zeichnete, wusste niemand. „Genau hier sind sie richtig…“ verspricht beim Googeln ein winziger Hinweis im Netz. Auf einer kryptischen Website wird im Impressum ein Name genannt, an den sich keiner aus der Nachbarschaft erinnern kann.

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Ein letzter Gruß für den Grafiker.

Irgendjemand hat einen Strauß Frühlingstulpen vor den Eingang des Ladens gestellt, dazu ein paar Teelichter. Der Tod des Grafikers ist doch bemerkt worden. Aber auch diese kleine Aufmerksamkeit bleibt rätselhaft und anonym. Wen ich auch frage, alle schütteln den Kopf. „Ja, da brannte immer Licht. Aber ich kannte ihn nicht.“ Nur der tunesische Herrenschneider kann sich ein wenig erinnern. „Es war ein stiller, freundlicher Mann. Er war zweimal bei mir.“ Noch etwas, was ihm in Erinnerung geblieben sein könnte? „Nein“, ergänzt der Schneider ratlos, der in der Straße so ziemlich alles und jeden kennt.

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Fast zwei Jahrzehnte brannte hier Licht. Tag und Nacht. 365/24 mal. So wie Berlin gerne für sich wirbt. Die Stadt, die nie schläft.

Zwischen dem „Studio für Physiotherapie“ und dem Kinderladen „Eulennest“ war der kleine Grafikaden. Seit über fünfzehn Jahren brannte dort 365 mal 24 Stunden lang zuverlässig die Tischlampe. Kauerte der Grafiker an seinem Gerät, den Kopf leicht nach oben angespannt. Allseits sichtbar, öffentlich wie eine Schaufensterpuppe saß er da. Und doch unnahbar und unendlich weit entrückt. Eine Schattengestalt. Auch ich habe nie nachgefragt oder seinen Laden betreten, um zu fragen wie es dem vielleicht Ende Fünfzigjährigen so geht. Obwohl mich der Mann mit den grauen langen Haaren beschäftigt hat. Wer ist er? Was macht er eigentlich? Ist er in seinem Laden festgewachsen?

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Das Licht ist aus. Der Laden leer geräumt. Bald zieht neues Leben ein. Das einzig Beständige ist der Wechsel.

 

Mir geht ein Zitat von Immanuel Kant durch den Kopf. „Die Einsamkeit ist schrecklich, aber auf erhabene Art.“ Erhaben? Was war am Leben dieses Einzelgängers erhaben? Ich suche nach Antworten. Nun ist es zu spät. Eine Großstadt ist voller Geschichten, Lärm und Schicksale. Die Einsamkeit des Einzelnen geht im hektischen Getriebe leicht unter. Sie kann spielend verdrängt oder verschleiert werden. Der Laden unseres Grafikers war immer hell erleuchtet – doch sein Leben blieb völlig im Dunkeln.

„Mach dich hübsch!“

Das weibliche Ohr in einer Nahaufnahme. Der Betrachter ist irritiert. Was soll das denn? Die Antwort: Hinsehen, zuhören, nachdenken. Die Fotoserie Ohren entstand in den Straßen von New York. Aus Alltäglichem Außergewöhnliches entwickeln. Das ist die Kunst der Isa Genzken. Schau genauer hin! Das ist ihr Motto. „Mach dich hübsch“, heißt nun ihre erste umfassende Werkschau, die jetzt im Berliner Gropius-Bau zu sehen ist. Sei ein weiblicher Narr, fordert sie. Setze die Welt neu zusammen. Und das tut sie.

 

„Ich wollte schon immer den Mut haben, total verrückte, unmögliche und auch falsche Dinge zu tun“, sagte die gelernte Bildhauerin einmal. Geboren 1948 in Bad Oldeslohe zählt Isa Genzken heute zu den einflussreichsten Künstlern ihrer Generation. Sie war Meisterschülerin bei Gerhard Richter und zwölf Jahre mit dem Malerpapst liiert. Sie erkämpfte sich als Frau in der Männerdomäne Bildhauerei ihren Platz. Still und bescheiden im Auftreten, aber direkt, kompromisslos und provokativ in ihren Arbeiten.

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Nofretete. Isa Genzken. 2014.

Sei frech. Akzeptiere keine Grenzen. Das sind so Isa Genzken-Sätze: „Ich verknüpfe gerne Dinge, die vorher zusammenhanglos dastanden. Diese Verbindung ist wie ein Händedruck zwischen Menschen.“ So präsentiert sie die Nofretete mit Sonnenbrille, einen Weltempfänger aus Beton oder das Röntgenbild ihres Kopfes mit Weinglas. Die Künstlerin im ungewöhnlichen Selbst-Porträt, als „Mona Isa“. Die Künstlerin rüstete 2007 den Deutschen Pavillon auf der Biennale ein, um den monumentalen Nazi-Bau zu karikieren. Das war ihr Durchbruch beim breiten Publikum. Sie nahm mit ihren Material-Collagen mehrfach an der Documenta in Kassel teil. Sie hat ein Faible für Alltagsgegenstände und Architektur. Hochhäuser beeindrucken sie.

 

Sehen. Verstehen. Denken. Dazu fordert Isa Ganzken den Besucher heraus. Bei ihr lohnt es sich wirklich genauer hinzuschauen. Nichts ist Zufall. Der zweite Blick ist komplexer und hinterhältiger. Sie zeigt die Welt hinter dem schönen Schein. So wurde sie Vorbild für ganze Künstlergenerationen. Seit dreißig Jahren gilt sie als „ewig zu Entdeckende“. Aber: Sie hat mit ihren 67 Jahren noch viel Dampf. Das kann man ab jetzt in Berlin erspüren. Denn, so die persönlich sehr zurückhaltende und stille Isa Genzken: „Jeder hat ein Recht auf ein Fenster mit Aussicht.“

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Schauspieler. Isa Genzken. 2013

Die Wahl-Berlinerin ist eine Meisterin der Maßstäbe. Sie verknüpft Volumen und Verhältnisse von Objekten zueinander. Ihre künstlerischen Wechsel zwischen Genres und Materialien haben möglicherweise verhindert, dass sie keine eindeutige Marke werden konnte. Ein Glücksfall! Denn sie ist nicht berühmt, aber ihre Kunst berührt. „Die vielleicht beste lebende Künstlerin der Welt. Ihre Kunst ist knallhart. Wie Glitzerfolie“, lobt die FAZ hymnisch. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild!

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Isa Genzken. 2015

 

Mach dich hübsch! Isa Genzkens Werkschau im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Bis zum 26. Juni 2016.

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Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Es ist das beliebteste und bekannteste Gedicht von Hermann Hesse, dem deutschen Vorzeige-Dichter für die Sehnsucht nach anderen Lebensformen. Der Mann, der mit „Steppenwolf“ und „Siddhartha“ ganze Gymnasiastengenerationen geprägt hat, gelang mit dem „Stufen“-Gedicht ein großer Wurf. Trost und Erbauung für viele Menschen in persönlichen Krisenzeiten.

Doch ist der Zauber des Anfangs ganz anders gemeint? Es gibt Recherchen, die sagen, es sei kein Zufall, dass die Urfassung dieser Ermutigung in einer Zeit entstand, in der er sich von seiner Frau Mia trennte und einer jüngeren Geliebten zuwandte. Hesse als profaner Herzensbrecher? Alles hormoneller Zauber? Doch hier ungekürzt die „Stufen“. Ein Gedicht wie ein Gebet.

 

Stufen (1941)

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

https://youtu.be/tShVfptMyW8

 

Wer mehr über die Beziehung von Hermann und Mia Hesse erfahren will, dem sei ein Besuch des Hermann-Hesse-Hauses in Gaienhofen am Bodensee empfohlen. Dort gibt es am authentischen Wohnort der beiden Hesses von 1907 bis 1912 eine spezielle Führung zu Hermann Hesses erster Ehefrau Mia Hesse.