Zurück in die Zukunft

Die Analog-Bewegung ist angeblich da: Buchladen statt Amazon, Bargeld statt Kreditkarten. Lagerfeuer-Gespräche statt Facebook, Brief statt Email, Kino statt Netflix und ach ja – Denken statt Googlen. Das wäre schön und klingt irgendwie nach Retro. Oder nach „BIO“? Na klar. Es ist das identische Modell wie im Bio-Business. Apfelsaft naturtrüb statt Aldi-Tüte aus dem Regal. Möhre statt Milky Way.

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Als die Welt noch übersichtlich war. Ein TV-Gerät-Ost mit dem passenden Warnhinweis: „Du kannst nicht für den Frieden sein, stellst du das Westfernsehen ein.“

 

Wie viel analog und wie viel am Tag digital lebt der moderne Mittelstandsmensch? Die Zahlen sind eindeutig: Twitter, Facebook, Instagram oder Periscope dominieren den Alltag und steigern den Blutdruck. Rein, raus, der nächste Tweed. Dagegen ist das Netz fast schon old-fashioned. Und dennoch: Bei Google lernt man am wenigsten. Das Angeklickte wird postwendend und genauso schnell wieder vergessen. Ohne eigenes Vor-Wissen macht Google wenig Sinn. Denn Lernen ist wie eine Kerze anzünden. Der Docht ist entscheidend. Unser Docht beim Lernen ist die Neugierde.

 

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Wie wäre es mit Trompete statt Twitter? Mathias Eick ganz entspannt bei der Arbeit. Foto: Nick Becker.

Auch Multi-Tasking geht nur bedingt. Der Mensch kann keine parallelen Bedeutungsstränge zeitgleich verfolgen. Mitarbeiter von Google und Amazon schicken daher ihre Kinder in Silicon Valley auf eine computerlose Walldorf-Schule. Warum? „Paddeln macht schlauer als Smartphone“, sagt ein Manager. Wer dattelt, lernt weniger, erhöht sein Angstniveau, fördert Versagensängste, so eine aktuelle US-Studie von 2015. Handys machen Stress, verhindern Lernerfolge.

Die linke Gehirnhälfte steuert unsere Sprache und Emotionsverhalten. Je mehr wir diese Seite mobilisieren, desto mehr können wir lernen. Wie war das mit dem aufrechten Gang? Und: Wie lernt man das Laufen? Von Fall zu Fall.

So what?

Miles Davis. Ein Mann mit goldenen Händen. Ein Musiker, der den Groove hatte. Der wusste, worauf es ankommt. Sobald er ansetzte, verwandelte seine Trompete die Welt in eine Andere, Größere, Schönere. Lässig, cool bis zum Höhepunkt. Ist das Jazz? Miles Davis winkte ab. Nein, das sei Social Music, sagt er einmal. Nun setzt ihm ein Film ein Denkmal. Er heißt Miles Ahead und garantiert kurzweilige anderthalb Stunden.

Mehr als zehn Jahre hat Don Cheadle an seiner Miles Davis-Biografie gearbeitet. Kurz vor Fertigstellung ging das Geld aus. Per Crowdfunding konnte das ehrgeizige Projekt in letzter Minute gerettet werden. Don Cheadle hat alles riskiert. Es ist sein Debüt. Der US-amerikanische Schauspieler ist Miles Davis und noch viel mehr. Er schrieb das Drehbuch, führte Regie und spielte die Hauptrolle. Ein Wagnis, mit vollem Einsatz.

Natürlich zelebriert der Film seine Trompetenkunst. Natürlich spielen die Drogen- und Frauengeschichten des Ausnahme-Musikers eine wichtige Rolle. Aber: Cheadle erzählt eine Episode aus dem Jahre 1979, als Miles Davis sich selbst im Wege stand. Versunken in einer Mischung aus Selbstzweifel und Selbstmitleid konnte der Künstler nichts mehr zuwege bringen. Kein Album, kein Live-Auftritt, nichts.

In dieser Situation taucht ein nerviger „Rolling Stone“-Journalist auf, der gemeinsam mit Miles in einer wilden Abenteuerjagd gestohlene Demobänder mit unveröffentlichten Aufnahmen wieder auftreiben soll. Das ungleiche Paar liefert sich ein amüsantes Duell mit gierigen Produzenten. Dabei werden die beiden Jäger und Gejagte zugleich. Spektakuläre Verfolgungsjagden und Boxkämpfe inklusive.

Geschickt verwebt Miles Ahead Rückblenden des jungen produktiven Miles mit Phasen aus der düsteren Krisenphase. Am Ende befreit sich der Musiker aus dem Würgegriff von Koks und Kummer. Musik ist seine Rettung. Die Trompete triumphiert. Dieser Don Cheadle-Film feiert den Meister in einem unterhaltsamen und spannenden Film. Ohne falsche Töne.

 

Kaum zu glauben übrigens, dass Miles Davis großer Erfolg – So what? – fast sechzig Jahre alt ist. Der Titel klingt, als wäre er gerade eben in einem Club in Brooklyn eingespielt worden. Ganz cool, ganz beiläufig, ohne verbissene Anstrengung. Was sonst?

Der Film feiert Anfang April in den USA seine Premiere. Der deutsche Kinostart steht noch nicht fest.

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Motiviert?

Der junge Punk wartet auf Kundschaft. Jeden Tag lümmelt er auf der Treppe zum Berliner S-Bahnhof Savignyplatz. Mit Hund, Decke, Bierflasche und Buch. Seine aktuelle Lektüre: „Mieses Karma“. Interessanter Titel. Ich frage nach. In diesem Roman erzählt der Autor David Safier von einer attraktiven Talkmasterin, die unausweichlich zu einer kleinen miesen Ameise schrumpft.

Was fasziniert den Schnorrer mit den gelb gefärbten Haaren am bösen Karma? Will er nicht lieber nach oben kommen? Der Plot sei klasse, sagt er. Übersetzt bedeute dies, richtige Bösewichte vom Schlage eines Hitler, Stalin oder Pol Pot müssten künftig als Darmbakterien Wiedergutmachung leisten. Wäre doch klasse, oder? Pause. Passanten hetzen vorbei. Den Kopf eingezogen, eiligen Schrittes, froh in Ruhe gelassen zu werden.

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Warten auf motivierte Kundschaft.

Der bettelnde Punk hat seine Werbestrategie geändert. Statt des branchenüblichen „Haste ein bisschen Kleingeld?“ oder „Hey Alter, Du siehst gut aus, Du hast doch sicher ein paar Groschen“, flötet er fröhlich-verführerisch den Vorbeihastenden zu: „Guten Tag. Sind Sie motiviert, Ihr Geld mit mir zu teilen?“ Einige wenige lächeln. Diese Geldanlageoption klingt wie das Versprechen eines Finanzberaters der Tanker, Immobilien oder Windräder an Steuersparwillige verticken will.

Da auch diese Strategie nur bedingt fruchtet, schaut der junge Mann mit Decke, Hund und Buch wieder in sein „mieses Karma“. Dort liest er weiter über bedeutende Menschen, die ganz schnell zu kleinen Ameisen schrumpfen.  Nun lächelt er. Das Leben ist doch wie ein Roman.

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Adler oder Maulwurf?

Was kann ich nur anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab? Eine Menge meint Jakob Hein, im Hauptberuf Arzt, in seiner Passion Schriftsteller und zudem Sohn des bekannten Autors Christoph Hein. Das steht aber auf einem anderen Blatt. Jakob schreibt am liebsten Schelmenromane. Er liebt Anekdotisches und Abseitiges. Er weiß, dass Bücher längst an Tankstellen zwischen Kondomen und Senf dargeboten werden. Also schreibt er vom Leben wie es ist.

Der 44-jährige Berliner ist ein fleißiger Sammler für „verworfene Ideen“, sucht stets händeringend nach dem idealen Romananfang, bezeichnet sich in schwierigen Lagen als „Problemanalytiker“ und bemerkt, dass Menschen wie Dauerschauspieler sind, immer im Einsatz auf der Bühne des Lebens, um nach dem Auftritt „in der Garderobe erschöpft die Maske fallen“ zu lassen.

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Jakob Hein. Er springt mal eben in „Kaltes Wasser“.

In seinem neuesten Streich, es ist schon sein vierzehntes Buch, stürzt er seinen Helden Friedrich Bender in Kaltes Wasser. Der junge Ost-Berliner schlägt sich in den Nachwendejahren durch das vereinte Berlin. Seine frustrierten Eltern trauern den alten Zeiten nach, „als Linsen noch nach Linsen schmeckten“ und die Menschen sich in die Augen schauen konnten. Der Sohn durchschaut die neue Zeit und lebt den Kapitalismus. Motto: Geld verdirbt den Charakter, aber es ist das Beste, was es gibt, um die Leute vom Denken abzuhalten.

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Lehrreich und verdauungsanregend, wie er als Mitarbeiter der Versicherung Föderation seine Pausen nutzt, um auf der unbenutzten Herrentoilette Weltliteratur zu lesen: „Die großen Amerikaner, die alten Deutschen und die toten Russen.“ Herrlich, wie er als hochstapelnder Heiratsvermittler die Beziehungsnöte von Alt-, Hoch- und Geldadel zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell entwickelt. Er vermittelt magersüchtige Prinzessinnen an bindungsunfähige Geldsöhne.

Mit seiner Partneragentur „von Meyburg “ beschwindelt Romanheld Friedrich die eitlen Exemplare der Welt des schönen Scheins. Natürlich kommen die geblendeten Bewunderer ihrem Felix Krull aus Ost-Berlin auf die Schliche. Das hat Folgen für die Geschäfte, das Liebesleben und die Doppel-Moral. Jakob Hein mag das Absurde. Am Ende steigt er diesmal auf einen „Läuterungsberg“.

Dort kommt ihm die Erkenntnis, dass es eine Herausforderung ist, einem Maulwurf die Gefühle eines Bergadlers zu beschreiben. Denn zum Fliegen gehört der Absturz. Aber: Was wäre schlimmer als nie geflogen zu sein?

Achtung unterhaltsam! Jakob Hein. Kaltes Wasser. Galiani Berlin, 2016.

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Über eine Hassliebe

Be Berlin. Die Stadt an der Spree ist ein Ort, der Menschen zuverlässig anzieht, aufregt und auch wieder abstößt. Der Boom hält an. Trotz Flughafen-Fiasko und Flüchtlings-Chaos. Im letzten Jahr zog eine ganze Großstadt nach Berlin: 120.000 Menschen. Das ist einmal Göttingen, Ulm oder Wolfsburg. Darunter waren auch 40.000 reguläre Neubürger. Berlin wirkt weiter wie ein Magnet. Ist die deutsche Hauptstadt «romantisch wie Bullerbü, mondän wie die Côte d’Azur und weltstädtisch wie London», wie das Hochglanzmagazin «Geo special» befindet?

Von wegen! Berlin ist „zum Abkacken“, schreibt Kristjan Knall in seiner Kampfschrift 111 Gründe, Berlin zu hassen“. Er nimmt Berlin-Klischees unter die Lupe, streitet gegen „Eso-Hipster, Stammtisch-Sarrazins, Dit-wird-ma-ja-wohl-noch-sagn-dürfn-Sagern und Alpha-Prolls im 3er-BMW“. Natürlich ist Kristjan Knall ein Pseudonym und sein Buch ein einziges Pamphlet. Aber voller Wahrheiten, verspricht der Verlag, er zeige „die Stadt so, wie sie wirklich ist“.

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Das Buch für alle Berlin-Einsteiger. Es soll Anfang März im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erscheinen.

 

Warum ist Berlin auf dem absteigenden Ast? Kostprobe Knall: „Weil die Spätis ausgemerzt werden. Weil Backpacker alles vollschwitzen. Weil Berlin verdorft. Weil Köter alles vollkacken. Weil der Görli das Mekka für ‚BILD‘-Leser ist. Weil Jesus raven geht. Weil Fixies Kinder zerfleischen. Weil Pädagogenpapis die Männlichkeit verraten. Weil ‚Tatort‘ Event ist. Weil die Hasenheide voll von Alpha-Kevins ist. Weil Stricken das neue Graffiti sein will.“

Hat der bekennende Berlin-Basher Recht? Ist die Stadt out? Damit liegt er gerade voll im Zeitgeist. Nach einer frisch veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sind Hamburg und München die beliebtesten Großstadt-Adressen. Erst dann folgt Berlin.

Und noch eine Überraschung: Auf der Negativliste der unbeliebtesten Wohnorte landet die Hauptstadt einsam auf Platz Eins. Es ist die Großstadt, in der die Deutschen am wenigsten gerne wohnen wollen. Fazit: Party in Berlin ja. Ständig dort leben, bloß nicht. Viele Befragte träumen vielmehr von einem Leben auf dem Lande. Ganz idyllisch, ohne nörgelnde Einheimische und Hundehaufen, ohne aufgedrehte Hipster und dem Szeneclub Berghain bis zum Abwinken.

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Der Menschenfreund

Es war eine Freude ihn zu treffen. Mit ihm zu arbeiten, zu reden und zu streiten. Roger Willemsen hatte stets etwas Ansteckendes, Öffnendes und Befreiendes. Selbst wenn man seine Meinung nicht immer teilen mochte, seine Fragen, Ideen und Gedanken ließen einen nicht mehr los. „Man muss dorthin gehen, wo es wehtut“, war sein Credo. Nun hat ihn der Krebs im Alter von sechzig Jahren besiegt. Nicht aber seine Haltung. Roger Willemsen hinterlässt eine Lücke. Es ist eine große Lücke.

Willemsens Welt. Unerschöpflich interessierte er sich für alles, was das Leben zu bieten hatte. Afghanische Kinder, Bundestagsabgeordnete, Helden, Selbstmörder, Lügner, Blender und immer wieder und bevorzugt Außenseiter aller Schattierungen. Als er sich in einem seiner über dreißig Bücher plötzlich auf Vögel, Lurchen und Insekten stürzte, schüttelte nicht nur ich verwundert den Kopf. Roger Willemsen fand den Populärwissenschaftler Alfred Edmund Brehm faszinierend. Besser bekannt durch sein Standardwerk Brehms Tierleben.

Warum? Roger Willemsen lächelte. Eine echte Bildungslücke! Nun, Brehm trat an gegen „Pfaffentum und Weltweisheit, gegen Schreibtischgelehrte in ihrer hohen und hohlen Weisheit.“ Er mischt „Empathie mit Empirie, er leuchtet historische Quellen aus, sammelt Beobachtungen und leuchtet kulturelle Zusammenhänge aus“. Präziser hätte sich der Menschenforscher Willemsen nicht selbst beschreiben können.

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Roger Willemsen. 2014. Quelle: Wikipedia.

Das Leben zeigt einmal mehr, dass es keinen Artenschutz gibt. Auch nicht für Menschen wie Roger Willemsen. Für Suchende wie ihn mit wachem Verstand, ungebremster Leidenschaft und klarer Haltung. In einem seiner letzten Interviews vom vergangenen Sommer sagte der Publizist es gehe für ihn darum „die gegebene Frist sinnvoll zu nutzen und nicht nur Spaß zu haben.“ Das sei der Sinn des Lebens. In dieser Frage hat Roger Willemsen Wort gehalten. Das ist, was bleibt. Ein tröstlicher Gedanke.

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Von oben betrachtet

Der kanadische Astronaut Chris Hadfield umrundete 2013 die Erde. Er war begeistert. Von der Raumstation ISS zeigte sich der blaue Planet eindrucksvoll. Eine weiß-blaue Kugel, elegant, erhaben, einzigartig. Filigran, fast zerbrechlich. Aus vierhundert Kilometern Höhe fotografierte Hadfield Städte, Landschaften, Kontinente. Bei Tag und Nacht. Über Berlin entdeckte er eine Überraschung. Aus dem All präsentiert sich die Stadt mit einer eindrucksvollen Licht-Installation. Während im Westen bläulich-kühles Licht vorherrscht strahlt der Osten in warmem Bernsteingelb.

Berlin bei Nacht aus 400 Kilometern Höhe. Quelle: NASA/Chris Hadfield

 

Die Lichtgrenze verläuft exakt entlang der alten Mauer. Für Betrachter aus dem All scheint die Berliner Teilung noch Gegenwart zu sein. Auch über ein Vierteljahrhundert nach der Einheit kann die deutsche Metropole ihre getrennte Vergangenheit nicht verheimlichen. Zufall? Keineswegs. Der Grund für das Phänomen einer Lichtgrenze ist der Einsatz der berlinweit 182.000 Elektroleuchten. Während im alten Westen vorwiegend hell-weiße Leuchtstofflampen installiert wurden, kamen im früheren Osten vor allem gelblich scheinende Natriumdampflampen zum Einsatz.

 

Der kleine Unterschied macht´s. Er wird noch Jahrzehnte zu sehen sein. Jedenfalls aus dem All. Denn bis die Berliner Straßenbeleuchtung auf einheitlich energiesparende LED-Lampen umgestellt wird, kann es noch lange dauern. Solange strahlt die Stadt weiter in den Lichttönen Ost und West. Bleibt eine Stadt der zwei Farben. Zu sehen von der Raumstation ISS.

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Von fliegenden Karpfen

Das Drama vom todkranken Flüchtling in Berlin? Ausgedacht. Der Skandal um das vergewaltigte dreizehnjährige Teenagermädchen? Erfunden. Sensations-, Lügen- und Horrorgeschichten verfolgen uns nahezu täglich. Gerüchte und Halbwahrheiten haben Konjunktur. Es ist allzu menschlich, in Krisenzeiten Gerüchten Glauben zu schenken. Sie helfen uns, den Überblick zu wahren und wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

Viele fühlen sich derzeit einfach überfordert. Gerüchte hingegen bedienen Instinkte, sind von verführerischer Einfachheit. Tatsächliche oder diffuse Ängste werden geschürt. Diese alte Sehnsucht nach Gewissheiten, festen Grenzen und stabilen Feindbildern beschleunigt Gerüchte. Ganz von allein. Wer Zweifel äußert, stört. So kann munter behauptet werden ohne Belege zu bringen. Facebook oder Twitter funktionieren wie flott entflammbare Brandbeschleuniger. Zum Löschen bleibt kaum noch Zeit.

Diese Verbindung von Drama und Dreistigkeit, von Anonymität und Desinformation produziert im Internet einen brisanten Mix. Ein Facebook-Eintrag reicht. Die Republik steht Stunden Kopf. Die Zauberlehrlinge der neuen sozialen Medien sind ratlos. Deshalb bitteschön ein Moment innehalten: Gerüchte sind so alt wie die Menschheit. Wir folgen ihnen gerne, wenn sie das eigene Weltbild bestätigen. Das war schon immer so. Nur verbreiten sich Postings, Fakes und Shitstorms heute in Echtzeit. Überall. Jederzeit abrufbar.

 

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„Das Gerücht“. A.P. Weber. 1943.

 

Als der Grafiker A.P. Weber das Thema Gerücht zu Papier brachte, ließ er ein Schlangenmonster mit ungezählten Augen und Ohren durch eine graue Großstadtwelt gleiten. Aus allen Fensterlöchern erhält dieses Fabelwesen der Falschheit frische Nahrung. Nichts scheint dieses Gespenst stoppen zu können. Webers Zeichnung stammt aus dem Kriegs-Jahr 1943. Für den Dichter Arno Schmidt war Webers Darstellung des Gerüchts „die beste Allegorie seit Leonardo da Vinci“.

Auch der Arzt und Soziologe Gustave Le Bon warnte in seinem Standardwerk Die Psychologie der Massen vor der verführerischen Kraft von Gerüchten. Der Franzose erklärte 1895 über die Leichtgläubigkeit des modernen Menschen. „Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären versucht, ihr Opfer.“

 

Gelobt sei der Zweifel! Das gilt natürlich auch für diese Seite.

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Als der Blaue Reiter fiel

Das kranke Europa kann nur durch den Kampf geläutert werden. Dieser Krieg werde der grausame aber notwendige Durchgang zu einem neuen Europa sein. Das schrieb der Künstler Franz Marc zu Beginn des I. Weltkrieges. Der berühmte Maler und Mitbegründer des Künstlerbundes „Blauer Reiter“ zog freiwillig den Waffenrock über und diente als Leutnant der Landwehr. Franz Marc war einer von vielen Intellektuellen jener Zeit, die den Krieg als „positive Instanz“ verstanden wissen wollten.

Der gebürtige Münchner Marc hatte 1911 den Künstlerbund „Blauer Reiter“ aus der Taufe gehoben – gemeinsam mit Wassily Kandinsky, August Macke und Paul Klee. Ihnen gelang ein atemberaubender Aufbruch in die Moderne. Intensive Farben, expressionistische Leidenschaft und ungezügeltes Temperament. Franz Marc erklärte: „In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als Wilde. Die gefürchteten Waffen der Wilden sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.“

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Franz Marc. (1880-1916). Vor Kriegsausbruch forderte er: „Die gefürchteten Waffen der Wilden sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.“

 

1914 tauschte Franz Marc Pinsel und Worte gegen Karabiner und Stahlhelm. Der Maler zog keineswegs mit Hurra-Patriotismus in die Schlacht jedoch mit Überzeugung. In seinen „Briefen aus dem Feld“ schrieb er an Ehefrau Maria. „Nun bin ich ein guter Soldat. Sorge dich nicht, ich komme schon durch.“ Als Leutnant des 1. Bayrischen Feldartillerieregiments notierte er 1915: „Wir leben in einer harten Zeit. Hart sind unsere Gedanken. Alles muss noch härter werden.“

Sein enger Malerfreund August Macke starb bereits wenigen Wochen nach Kriegsausbruch im Alter von 27 Jahren. Doch es verging ein weiteres Jahr, bis das Gemetzel an den Fronten die Position Franz Marc entscheidend veränderte. In einem späteren Brief an Lisbeth Macke, die Witwe seines Freundes August, schrieb er desillusioniert, der Krieg sei der „gemeinste Menschenfang, dem wir uns ergeben haben“.

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Franz Marc. „Blaues Pferd.“ 1911

Franz Marc kämpfte in Frankreich an der Front. 1916 wurde er in die „Liste der bedeutendsten Künstler Deutschlands“ aufgenommen. Damit konnte er vom Kriegsdienst befreit werden. An seinem letzten Einsatztag vor der Rückkehr fiel er während eines Erkundungsritts kurz vor Verdun. Zwei Granatsplitter trafen ihn tödlich. Das war am 4. März 1916 – fast genau vor hundert Jahren.

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Franz Marc. „Tierschicksale“. 1913.

 

„Als der blaue Reiter gefallen war“, klagte die Autorin Else Lasker-Schüler, „griffen unsere Hände sich wie Ringe – küssten uns wie Brüder auf den Mund. (…) Seine tiefgekränkte Gottheit, ist erloschen in dem Bilde: Tierschicksale.“ Franz Marcs Gemälde aus dem Jahre 1913 wurde unfreiwillig zu seinem Vermächtnis. Tierschicksale nahm den Weltenbrand auf apokalyptische Weise ein Jahr vorweg. Als das Bild später durch Feuer beschädigt wurde, restaurierte Paul Klee das Werk seines toten Freundes. Es wirkt wie eine unheilvolle Vorahnung vom Untergang Europas. Der Maler als Prophet. Tierschicksale ist im Kunstmuseum Basel zu sehen.

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Fünf schnelle Tipps für einen Bestseller

Es ist verdammt früh. Kurz nach der sechsten Stunde. Ein Feiertag. Wir haben es eilig. Der Taxifahrer dirigiert mich zum Flughafen. Im Radio murmelt der Deutschlandfunk die neuesten Nachrichten. Der Chauffeur ist Anfang sechzig, vom Dialekt her ein wachechter Berliner. Er will reden. Sogleich beginnt er mit einer Geschichte vom Flohmarkt an dem wir gerade vorbeikommen. Dort bauen die Ersten ihre Stände auf.

Er erzählt: „Ich kaufe dort Bücher für fünfzig Cent das Stück. Ist es ausgelesen, gebe ich das Buch an meine Tochter weiter. Sie sammelt alles und verramscht jeweils drei Gebrauchte für einen Euro. Macht manchmal bis zu fünfundzwanzig Euro am Tag. Echt! Lesen bildet“, lächelt er, „und meine Familie hat einen kleinen Nebenerwerb. Die Enkelin, sie ist zehn, hilft begeistert mit.“

Ein lesender Taxifahrer. Und ein Büchernarr. So etwas gibt es noch? Kaum zu glauben. Einer, der hungrig nach neuem Lesestoff ist. Nach Geschichten, die bis in die Tiefen des Ozeans und in die Himmelswelten der Götter vorstoßen. Der Mann kommt in Fahrt: „Ich lese morgens zwischen sechs und acht Uhr früh. Wenn ich auf Kundschaft warte. Solange die Augen noch mitmachen. Mein Lieblingsautor ist James Hadley Chase. Kennen Sie den?“

Was das Erfolgsrezept für ein gutes Buch sei, frage ich. Seine Antwort: „Je dicker ein Werk desto dünner die Geschichte. Eine starke Story muss spannend sein und auf den Punkt kommen.“ Außerdem funktioniere eine gute Geschichte stets nach dem gleichem Strickmuster:

 

Mann sucht Frau

Mann findet Frau

Mann gerät in Gefahr.

Frau rettet Mann.

Happy End.

 

Er setzt eine winzige Pause. Dann sagt er: „Das Ganze funktioniert natürlich genauso umgekehrt. Frau sucht Mann. Und-so-weiter.“ Er bremst. 18 Euro 20. Er setzt mich am Terminal ab. Ach, ruft er noch hinterher: „Die Jungen rennen zu viel. Erst die Alten kennen die Wege. Lassen Sie sich Zeit! Nur mit dieser Einstellung werden sie Hundert.“ Die Tür fliegt zu. Der Mann drückt auf die Tube. Ab zum Warteplatz. Dann will er lesen. Ein gutes Buch.