Deja vu?

Geschichte wiederholt sich nicht. Das sagen gerne Historiker. Aber wie ist es mit Geschichten, Konflikten, Situationen? Doch, bestimmte Geschichten kommen und gehen und wiederholen sich. Entweder als Farce oder Tragödie. Oder beides zusammen. Mit großem Trommelwirbel und einem meist kleinlauten Finale. Katzenjammer inklusive.

Seit diesem Sommer hält die Massenflucht aus den Notstandsgebieten dieser Erde unser Land in Atem. Zwischen praktischer Hilfe und Pegida-Gebrüll wechselt die deutsche Seelenlage. Seit Wochen werden die Töne schriller, die Stimmung gereizter. Gewalt wird wieder zu einer Option. Aus Worten werden Waffen. Es wird gepöbelt, gedroht, geschlagen. Scharf, schrill und wenn es sein muss mit Baseball-Schlägern.

 

Vor genau 23 Jahren war die Lage im damals frisch vereinten Deutschland wenig anders. Es verblüfft, wie sich bestimmte Dinge wiederholen. Wir fuhren mit einem kleinen Drehteam für mehrere Monate in das Städtchen Spremberg im Süden von Brandenburg. Der Anlass: Im nahen Ort Schwarze Pumpe war das erste Asylbewerberheim niedergebrannt worden. Die dort untergebrachten Flüchtlinge vom Balkan konnten sich nur durch einen Sprung aus der ebenerdigen Baracke retten. Das war ihr Glück.

Die Brandstifter rühmten sich ihrer Taten. Die Kameradschaft Spremberg übernahm die Verantwortung. Längst hatte diese kleine aber wild entschlossene Schlägertruppe die Lufthoheit erobert. An den Stammtischen und in vielen Köpfen. Politiker und Polizei schauten weg. Verunsicherte Bürger schwiegen oder erklärten, sie seien keine Nazis, aber so viele Ausländer, das ginge einfach nicht.

Der Film Die Glatzen von Spremberg lief im Oktober 1992 in der ARD zur besten Sendezeit. Die Ausstrahlung vor einem Millionenpublikum sorgte bereits vorab für große Aufregung. Landrat und Bürgermeister wollten die Premiere um jeden Preis verhindern. Per einstweiliger Verfügung. Begründung: der Film zeige ein Zerrbild, jeder Pfennig GEZ-Gebühr wäre dafür zu schade. Das Wort Lügenpresse war in jenen Tagen übrigens noch nicht gesellschaftsfähig.

Sehen Sie selbst.

 

Die Reportage wurde leidenschaftlich debattiert. So sehr, dass vier Wochen nach der Erstsendung ein Live-Gespräch in Spremberg angesetzt wurde. Die Halle war überfüllt, die Emotionen kochten hoch. Es war wie eine große Therapiestunde. Die Sendung Vor Ort in Spremberg war begleitet von Bombendrohungen, Personenschutz und einem demolierten Teamwagen. Später folgte die Nominierung der Reportage für den Grimme-Preis.

 

Was heute auffällt, ist das deutlich langsamere Tempo des Films. Für Sprache, Gestaltung und Schnitte konnten wir uns damals deutlich mehr Zeit nehmen. Wobei der Stoff genauso brisant war wie heute die Auseinandersetzungen in Dresden oder Heidenau. Es scheint, als hätte sich in den letzten zwanzig Jahren nichts verändert. Als würde sich Geschichte wiederholen. Wieder und wieder. Und ewig grüßt das Murmeltier…

 

P.S.

Anfang November 2015 brannte es in Spremberg in einer geplanten Unterkunft für 180 Flüchtlinge. Die Täter sind unbekannt.

 

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Die Shanghai-Boys

Sonntagabend. Punkt Sieben. Sechs alte Herren nehmen Platz. Weiße Sakkos, schwarze Fliege. Die dünnen Haare gegelt, Strähnen sorgfältig über das blanke Haupt gefaltet. Die Herren geben sich gelassen und abgeklärt. Der Älteste am Saxofon ist 94 Jahre alt. Der Schlagzeuger bohrt in der Nase. Der Trompeter checkt letzte Nachrichten auf dem Smartphone. Dann aber höchste Konzentration. Denn ihr Name verpflichtet: Old Jazz Band.

Auf geht´s. Die Show beginnt im Peace Hotel. Einst erstes Haus der Kolonialzeit mitten in Shanghai. Eine vornehme Adresse. Nun wieder schick saniert. Aber auf sympathische Art leicht verstaubt, ein wenig aus der Zeit gefallen. Que sera erklingt. Ein paar Besucher wippen mit den Füßen. Eine elegante Schönheit nimmt in der ersten Reihe Platz. Die junge Dame bestellt ein Glas französischen Rotwein. Das Viertel zu dreißig Euro. Die Preise im Peace Club sind gesalzen. Der teuerste Champagner kostet 17.000 Yuan. Das sind umgerechnet fast 3.000 Euro. Natürlich kommt die Flasche aus Frankreich, genau richtig gekühlt, versteht sich.

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Jeden Abend im Peace-Hotel in Shanghai. Die Old Boys geben sich die Ehre. Mister Zhou Wan Rong in der ersten Reihe. Mitte. Er ist 94 Jahre alt.

Überhaupt. Zwischen den Stücken machen die alten Knaben lange Pausen. Es folgt ein bizarres Schweigen. Aus dem Nichts gibt der Pianist ein Zeichen. Dann geht´s weiter. Oh, when the saints go marching on. Die Shanghaier Millionärstochter nippt an ihrem Weinkelch, produziert am laufenden Band Selfies. Schaut her, bin ich nicht schön! Sie bittet den Kellner Aufnahmen von ihr mit der Band zu machen. Sie wirft sich vor der Old Jazz Band in Positur, das Weinglas in der Hand. Der Kellner kommt ins Schwitzen. Er muss ausdauernd lange knipsen, bis Madame endlich zufrieden ist. Die Band spielt stoisch weiter.

Eine chinesische Touristengruppe füllt den Saal. Junge Chinesinnen schießen Fotos, widmen sich dann gleichfalls nur noch ihren Handys. Eine Schweizerin erklärt am Nachbartisch ihrer Familie, das sei doch hier ein echtes Erlebnis. Ganz authentisch.

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Das Hotel Peace wurde 1929 eröffnet. Es überlebte Krieg, Kulturrevolution und neureichen Tiger-Kapitalismus. Der Jazz lebt.

 

Zhou Wan Rong ist der älteste Musiker. 94 Jahre alt. Er ist älter als das Hotel. Eröffnet als Carthey Hotel 1929 entwickelte es sich zum glamourösesten Ort des neureichen Shanghais. Hier verkehrte die feine Gesellschaft. Abenteurer, Reisende, Geschäftsleute, Diplomaten. „Die Elite der Welt“, heißt es. Das Hotel steht heute wieder als Zeuge für „Stil, Energie und Würde“, verspricht der Werbeflyer.

Der Saxofonist Zhou war in der Mitte des Lebens, als Mao 1956 in diesem Haus eine Friedenskonferenz abhielt. Da war er 45 Jahre – im besten Alter. Mao machte aus dem kolonialen Treffpunkt das Peace Hotel. So heißt es noch heute. In der Kulturrevolution durfte in der Hotelbar kein Jazz gespielt werden. „Dekadent, kapitalistisch, Ausdruck einer untergegangenen Epoche“.

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Das Peace-Hotel am Bund. Neuer alter Glanz in Shanghai. Glamour ist alles.

Mit der Reform der neunziger Jahre kehrte der Jazz zurück. Seitdem spielt wieder die Old Jazz Band. Über fünfhundert Jahre Erfahrung. As times goes by. Jeden Abend um sieben. Der Beifall ist dünn aber höflich. Was soll´s? Zhou Wan Rong hat viele Gäste kommen und gehen sehen. Für einen Song steht er noch einmal auf. Samba braucht Bewegung. The show must go.

Mister Zhou setzt sich wieder. Er wartet auf seinen nächsten Einsatz. Als Saxofonist braucht er einen langen Atem. Das junge Fräulein winkt mit der Kreditkarte, begleicht ihren Rotwein, verschwindet in der Nacht von Shanghai. Sie will sich offenbar woanders weiter amüsieren. Mister Zhou spielt sein nächstes Solo. Auf einem Plakat vor dem Hotel Peace steht: „Die Rückkehr der Legenden“, während Touristen-Massen achtlos vorbeiziehen.

Sehnsucht nach der arschlochfreien Zone

Berlin leuchtet. Doch nur das Landleben verspricht Erfüllung. Viele gestresste Kopfarbeiter der Großstadt suchen in Brandenburg ihr Seelenheil. Es ist die ungestillte Sehnsucht nach dem einfachen, natürlichen Leben. Nach einer arschlochfreien Zone, so Max Moor, allseits präsenter TV-Moderator und märkischer Vorzeige-Aussteiger. Leitfigur vieler Schreiber, Sänger, Tänzer, Performer, Dokumentarmacher, Diskussionsingenieure, Lecture-Virtuosen, Postdramatisten und Gender-Aktivisten. Sie wollen offline gehen im Märker-Land. Im Land mit der geringsten Internet-Dichte. Das Netz ist hier noch analog.

 

Die Sehnsüchtigen möchten die Freiheit des Landes genießen, aber bloß nicht zum Landei mutieren. So verwandeln Berlin-Aussteiger ihr Leben in eine Doppelexistenz. Sie eint ihr Blick für das Besondere und der Wille, sich neben dem Job in Büros oder Banken handwerklich aktiv zu werden. So werden Herrenhäuser, verfallene Vierseithöfe oder ramponierte Gutshäuser umgebaut. Uckermark, Prignitz und Oderbruch sind Regionen voller Lehrer, Staatssekretäre oder Schriftstellerinnen, die mit der Schubkarre Ställe ausmisten und alte Scheunen in architektonische Gesamtkunstwerke verwandeln.

Meistens bleibt die Sehnsucht das, was sie ist. Sie soll sich nicht erfüllen. Während einheimische Brandenburger vom weltweiten Netzanschluss träumen, beackern Stadtmüde ihre Phantasien vom Ausstieg. Authentisch ist ihr Lieblingswort. Die Zugereisten geben Kühen Namen und funktionieren Schweineställe in Konzertsäle um. Die Zweitwohnsitzler entwickeln einen ausgeprägten Hang zur Romantik.

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„Die Schönheit“. Eine der vielen Postillen aus der Lebensreform-Bewegung. In Werder bei Berlin funktionierte Karl Vanselow (1876-1959) seine Villa in einen „Garten der Schönheit“ im.

 

Es ist der Rausch in der Askese, eine sehr preußische Devise. Durch Geduld, Hingabe und Disziplin erschließen sich „wahre“ Schönheit und Fülle des Lebens. Beruhigend ist, dass sich die öden, sperrigen Dörfer einer Liebe auf den ersten Blick eher verweigern. Das Sperrige ist der beste Schutz der Märker. Andererseits: Ohne diesen Boom der Kunsthöfe oder Kulturscheunen versänken viele Dörfer in malerischer aber elender Eintönigkeit.

Die Raus aufs Land-Bewegung ist nicht neu. Schon Ende des 19. Jahrhunderts träumten Großstadtmenschen Aussteigerträume. Mehr über Landlust-Utopien im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam. „Einfach. Natürlich. Leben. – Lebensreform in Brandenburg 1890 – 1938.“ Bis 22. November 2015.

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Die an das Recht glauben

„Doch er war ein Held“, sagt Jacqueline van Maarsen nach längerem Zögern. „Ich hatte immer gedacht, meine Mutter hat uns das Leben gerettet.“ Die Niederländerin Jacqueline, heute 86-jährig, war die beste Freundin von Anne Frank. Sie überlebte, weil der zuständige NS-Rassereferent beide Augen zudrückte und ihre Familie verschonte. Seine Name: Hans Calmeyer. Ein deutscher Jurist. Ein ungewöhnlicher Mann.

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Jacqueline van Maarsen im Alter von vierzehn Jahren (* 1929). Die beste Freundin von Anne Frank. Eine der „Calmeyer-Juden“. Sie überlebte, weil ein deutscher Jurist seinem Gewissen folgte.

 

Sein stilles Wirken im besetzten Holland ist weitgehend vergessen. Dabei hat der Mann mehr Menschenleben gerettet als der berühmte Oskar Schindler, dem Hollywood ein Denkmal gesetzt hat. Seine Geschichte hat Jurist Hans Calmeyer in einem Lebenslauf selbst zusammengefasst. Geschrieben in der dritten Person kurz nach Kriegsende. Sachlich, distanziert, im Stile eines Chronisten. Hier einige Auszüge aus seinem Lebenslauf:

„Am 23.06.1903 zu Osnabrück als dritter Sohn eines Richters geboren, verdankt Hans-Georg Calmeyer seinem Elternhaus eine überdurchschnittlich vielseitige Erziehung. Ein ausgeprägtes Empfinden der Rechtlichkeit ist Erbgut der im hannoverschen Land bodenständigen Familie. Die disziplinierte Geistigkeit und logische Bestimmtheit des ältesten Bruders begleiten ihn auf seinem Bildungsweg als Jurist, die musische Empfänglichkeit und Begabung des zweiten Bruders erschließt ihm die Dichtung und Musik, Rilke und Bach.

Für den 15-jährigen wird der deutsch-polnische Grenzkampf in der Provinz Posen 1918 bis 1919 erstes Erlebnis und Problem. Die ersten Universitätsjahre in Freiburg i.B., Marburg und München bringen Begegnungen mit der Jugendbewegung, Kathedersozialisten, mit der Kunstgeschichte (Strich, Wölfflin) und der Geografie (Haushofer, Mendelssohn-Bartholdy). Der 9. November 1923 findet Calmeyer in München als Angehörigen einer Studentenkompagnie der schwarzen Reichswehr, nicht aber als Gefolgsmann Hitlers. Auslandsreisen nach Italien und der Schweiz und die das Studium abschließenden zwei Jahre an der Universität Jena machen C. für seine Freunde zum „unheilbaren Sozialisten“. Seine Neigungen nähern ihn dem Tagebuch-Kreis, Leopold Schwarzschild, Tucholsky, Ossietzky.

 

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Hans Calmeyer 1931.

1932 zieht er den freien Beruf des Anwalts einer Einspannung in die Enge einer Beamtenlaufbahn vor. Für die Nationalsozialisten in Osnabrück gilt Calmeyer als Salonbolschewist. Er wird als politischer Gegner aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Nach einem Jahr rehabilitiert und wieder zugelassen, aber bis 1936 von der Gestapo noch beschattet.
Den Juristen ruft im März 1942 das Reichskommissariat aus der Truppe als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter des Generalkommissars für Verwaltung und Justiz nach Den Haag. Die ganz zufällig an C. fallende Aufgabe, in Zweifelsfällen aus der Verordnung des Reichskommissars über die Meldepflicht von Juden und Mischlingen zu entscheiden, gibt sogar in seine Hand (also in die Hand eines grundsätzlichen und erbitterten Gegners der deutschen Judengesetzgebung) die quasi-richterliche Einordnung von Grenzfällen.

 

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Hans Calmeyer. Das Reichssippenamt in Berlin mit Sitz am Schiffbauerdamm 26 schöpfte Verdacht. Im Herbst 1944 sollte sein Fall näher untersucht werden. Die nahende Front rettete ihn.

 

Für die bösen Zungen des Reichskommissariats wird C. zum „Juden-Calmeyer“; der höhere SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, der Repräsentant Himmlers dort, nennt ihn „Beschützer aller Juden“ und „Saboteur der Judengesetzgebung“.
Vielleicht ist es aber gerade der uneingestandene Respekt, den die damals so zahlreichen Rückgratlosen vor dem Außenseiter und Nichtparteigenossen haben, der dazu führt, das C. seinen Posten behält, und der seinen Entscheidungen Dauer verleiht.

Der von Europa abgefallene Deutsche, der den Götzen Gewalt anbetete, kann zur abendländischen Gemeinschaft nur zurückgeführt werden durch Menschen, die nicht an Maschinengewehre, aber an das Recht glauben.“

Soweit Hans Calmeyer über sein Leben.

 

Der Ausnahme-Jurist hat über dreitausend niederländischen Juden vor der Deportation bewahrt. Er hat Juden einfach „arisiert“. In Deutschland ist dieser „Schindler“ vergessen. 1992 nahm ihn Yad Vashem in die Liste der „Gerechten der Völker“ auf. Die neue Biografie von Mathias Middelberg beschreibt eindrucksvoll sein Leben. „Hans Calmeyer. Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?“ Wallstein, 2015.

Zweite Heimat – ein Erfolgsmodell?

Neunzehn Millionen Deutsche wissen nicht mehr, wie es sich mit Teilung, Mauer und Grenzkontrollen lebte. Wie es war mit zwei Hauptstädten, zwei Währungen und zwei Gesellschaftssystemen, die sich wie Feuer und Wasser verhielten. Neunzehn Millionen Deutsche wurden nach 1990 geboren, dem Jahr der Einheit. Wie hat sich das neue Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt? Wurde die historische Chance genutzt? Vier Menschen aus diesem Land erzählen in der Doku Zweite Heimat ihre Geschichte. Ehrlich, offen und manchmal mit einem lachenden, manchmal mit einem weinenden Auge. Ist alles besser geworden?

 

Das sind die vier Deutschland-Erkunder:

Jörg Schönbohm. Jahrgang 1937. Geboren in Neu-Golm bei Bad Saarow/Brandenburg. Die Familie flüchtete 1945 in den Westen. Nach dem Abitur in Kassel legte er eine steile Karriere bei der Bundeswehr hin. Als Generalleutnant löste er 1990 die Nationale Volksarmee auf. Die „Armee der Einheit“ gilt als sein Meisterstück. Später wurde er Innensenator in Berlin, dann Innenminister des Landes Brandenburg. Heute lebt er nach einem Schlaganfall zurückgezogen in Kleinmachnow. In einem Haus auf einem Mauergrundstück an der ehemaligen Grenze. Ein Mann der klaren Worte. Einst konservativer Streiter gegen Politische Korrektheit. Seine Bilanz: „Zum Sieger gehört, dass man vom Verlierer etwas mitnimmt. Und ihn nicht besiegt.“

 

Kathrin Balkenhol. Geboren 1980 in der DDR. 1990 Jungpionierin in Bad Langensalza DDR. 1997 zieht sie in den Westen, studiert, wird Lehrerin in Kassel. Nun ist sie Mutter von Paula. Der Vater kommt aus dem Westen und ist der bekannte Künstler Stephan Balkenhol. Er gewann den ersten Preis für das Einheitsdenkmal am Berliner Schlossplatz, der aber nicht realisiert wurde. Die 35-jährige Thüringerin vermisst nach einem Viertel Jahrhundert Einheit einiges von früher. Sie bilanziert: „Es war einmal ein kleines Land, das hieß DDR. Es war ein Land, in dem man vom Gemeischaftssinn träumte. Ein Märchen, das kein Happy End hatte.“

 

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Thüringen im Sommer 2015. Die Sonne geht im Westen unter.

 

Susanne Kreckel Geboren 1980 in der BRD. 1990 ist sie Schülerin in Iserlohn und spielt Blockflöte. Ein Engagement verschlägt die Schauspielerin vor drei Jahren nach Greifswald. In eine Region, die 1989 die jüngste in Deutschland war und heute zu den ältesten und ärmsten der Republik zählt. Auch Susanne Kreckel erwartet ein Mädchen, eine kleine Prinzessin. Der Vater ist gebürtiger Ostdeutscher aus Mecklenburg-Vorpommern, der EU-Projekte in Polen betreut. Über ihre neue Heimat im Osten sagt die 35-jährige: „„Ich wusste überhaupt nichts über Greifswald. Ich hatte höchstens Minuserwartungen …ich hatte gar kein Bild und wurde positiv überrascht.“

 

 

André Herzberg. Jahrgang 1955. Sänger, Autor. Einst Frontmann der Kultband Pankow. Der Ost-Berliner verfasste im Herbst 1989 eine Resolution der Rockmusiker gegen Feigheit im Lande. In der DDR war der Sänger ein Star, im vereinten Land wurde er vergessen. Mit dem Roman „Alle Nähe Fern“ über eine jüdische Familie hat sich der Berliner eindrucksvoll zurückgemeldet. Heute zieht der einstige „Mick Jagger des Osten“ quer durch das Land. Ein Suchender. Ein Mann der leisen Töne, unterwegs in Finsterwalde, Bad Krozingen oder Hannover. Er ist auf Lesereise. Hannover ist etwas Besonderes: die Stadt, aus der seine Großeltern 1941 ins Exil vertrieben wurden. André Herzberg erzählt genau und unaufgeregt von Ost-West- und Vater-Sohn-Konflikten. Seine Bilanz: „Mich hat es umgehauen und ich bin wieder aufgestanden.“

 

Solo für Mathias

Der Mann ist eine echte Entdeckung in der internationalen Jazzszene. Wie kein anderer entlockt der Norweger seiner Trompete feinste balladenhafte oder energisch explosive Töne. Mathias Eick hat das gewisse Etwas. Seine Band den Blues. Jazz vom Feinsten. Angetrieben von zwei Drummern fordert seine atmosphärische Trompete eine Violine zum Zwiegespräch heraus. Heraus kommt ein unverwechselbarer nordischer Sound als würde man federleicht in einen der Fjorde gleiten.

Mathias Eick ist 36 Jahre alt. Er stammt aus der traditionsreichen norwegischen Musikerfamilie. Er begleitete nicht nur Jazzgrößen wie Chick Corea oder Pat Metheny, sondern unterstützte auch die Psychodelic-Rocker von Motorpsycho. Seine Musik ist vielseitig. Überhaupt Norwegen. Das raue Land hoch im Norden scheint ein gutes Klima für die Jazzszene zu bieten. Bereits Komponisten-Legende Edvard Grieg kann mit seinen gebrochenen Akkorden zu den Urvätern des skandinavischen Jazz gezählt werden.

Trompeter Mathias Eick, Pianist Bugge Wesseltoft. Gitarrist Jan Gabarek, Sängerin Rebbeka Bakken und viele mehr stehen für eigene melodiöse Kompositionen. Sie öffnen die Türen für weite Räume. Musik zum Träumen wie eine lange Reise in einsamen Landschaften. Mathias Eick gibt mit dem weich-luftigen Timbre seiner Trompete dem modernen Jazz neue Impulse. Und noch ein wenig mehr: eine Seele.

Mathias Eick auf der Jazz Baltca 2015.

 

Der Norweger ist mit seinem aktuellen Album Midwest im Herbst in Deutschland zu hören. Bernau bei Berlin. Ofenbar. 12. November 2015, 19.30 Uhr

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Der genaue Blick

Fan Ho. Fotograf. Regisseur. Schauspieler. Genannt: Der „Große Meister“. Sein Markenzeichen: Schwarzweißaufnahmen, die in formaler Strenge Momentaufnahmen mit unerreichter Detailtreue festhalten. Der Fotokünstler Fan Ho. Geboren in Shanghai, geflüchtet nach Hongkong. Nun kehrt der 78-jährige Chinese in seine Heimatstadt zurück. Mit Bildern und unverwechselbaren Porträts aus der Neuen Welt Hongkong, dieser Megastadt zwischen Tradition und Moderne.

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Fan Ho. Afternoon Chat. 1959.

Autodidakt Fan Ho zog mit der geschenkten Rolleireflex-Kamera seines Vaters los. Durch die Häuserschluchten und Gassen. Über Märkte und durch Bahnhöfe. Er fotografierte Alltagsszenen, Slums und vor allem Kinder. Manche war damals nur wenig jünger als das Riesentalent mit der Kamera des Vaters. Fan Ho sei ein würdiger Vertreter der Bauhaus-Generation, schreiben Kritiker. Die Form folge stets der Funktion. Sachlich, nüchtern, unprätentiös. Der Fotograf erhielt mehr als 260 internationale Auszeichnungen. Auch auf der Berlinale war er mehrfach als Filmregisseur vertreten.

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Fan Ho. Hongkong. Nicht Dessau.

Hongkong ist und bleibt ein Schmelztiegel. Zwischen allen Kulturen. Hier der Westen, der sein Heil in tatkräftigem Handeln und Anhäufung von Geld und Wissen sucht. Dort die östliche Heilslehre, die den Verzicht nahelegt, das stille Sich-Versenken und Sich-Bescheiden. Im heutigen Hongkong werden beide Ideenentwürfe ausgelebt. Das erklärt die Dynamik der Stadt. Wachstum und Geld sind die heutigen Götter. Die Lehren Laotses dienen als Grundlage.

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Fan Ho. Little Grandma. 1958.

Nun kehrt der renommierte Künstler Fan Ho in seine Vaterstadt Shanghai zurück. Es hat viele Jahrzehnte gedauert bis der „verlorene Sohn“ wieder einmal in China ausstellen darf. Zu sehen sind seine eindrucksvollen Bilder in der Ausstellung „Into the light“. M97 PROJECT SPACE. 170 Yueyang Road No.1 Bldg 3 #102. Shanghai, China 200060.

Bis 31. Oktober 2015.

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Fan Ho. The Omen. 1964

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Das kurze Leben des Aylan

Man mag nicht hinschauen. Es lässt einen nicht los. Der reglose Körper des kleinen Aylan aus Kobane, Syrien. Angespült am Strand der Touristenhochburg Bodrum. Ertrunken im Alter von drei Jahren. Die Eltern wollten vor dem Krieg nach Kanada flüchten. Ohne Visum und die richtigen Papiere vertraute sich die Familie Schleppern an. Das kleine Boot kenterte nach dem Ablegen in Richtung Europa. Familie Kurdi wurde ausgelöscht. Mutter und zwei Söhne starben. Nur der Vater überlebte.

 

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Aylan Kurdi, 3 Jahre alt, aus Kobane, Syrien. Anfang September am Strand von Bodrum/Türkei.

Tausend Euro pro Person nahmen die Schlepper. Schwimmwesten gab es nicht. Die sind längst ausverkauft. Kurz nach der Abfahrt gerät das überladene Boot mit 23 Flüchtlingen in starken Wellengang. Vater Abdullah Kurdi schildert die dramatische Situation: „Ich half meinen beiden Söhnen und meiner Frau und versuchte mehr als eine Stunde lang, mich am gekenterten Boot festzuhalten. Meine Söhne lebten da noch. Mein erster Sohn starb in den Wellen, ich musste ihn loslassen, um den anderen zu retten.“

Die türkische Fotografin Nilüfer Demir machte die Bilder vom kleinen Aylan. Ihr stockte der Atem erzählt sie: „Als ich den dreijährigen Aylan Kurdi gesehen habe, gefror mir das Blut in den Adern. In dem Moment war nichts mehr zu machen. Er lag mit seinem roten T-Shirt und seinen blauen Shorts, halb bis zum Bauch hochgerutscht, leblos am Boden. Ich konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was ich tun konnte, war, seinem Schrei Gehör zu verschaffen.“

 

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Der Polizist und der tote kleine Junge. Momentaufnahmen der türkischen Fotografin Nilüfer Demir.

 

Die Welt reagiert schockiert – und ratlos. Peter Bouckaert ist für die Hilfsorganisation Human Rights Watch (HRW) seit Jahren in Krisenregionen unterwegs. Der belgische Menschenrechtsaktivist hat das Bild Aylans per Twitter veröffentlicht. Nach intensiver Gewissensprüfung, wie er betont. Die schockierenden Bilder seien nötig gewesen, um eine abgestumpfte Öffentlichkeit wachzurütteln. Der 44-jährige verteidigt sein Vorgehen: „Ich finde es anstößig, dass ertrunkene Kinder an unseren Küsten angeschwemmt werden, wenn man mehr tun könnte, um sie vor dem Tod zu bewahren.“

 

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Peter Bouckaert von „Human Right Watch“: „Mir sind diese Kinder so wichtig wie die eigenen.“

 

Abdullah Kardi hat mittlerweile seine Familie in der zerstörten Heimatstadt Kobane zur letzten Ruhe getragen. Ehefrau Rehan, Sohn Galip, fünf Jahre alt und der kleine Bruder Aylan, drei Jahre alt. Aylan. Der Junge mit den neuen Turnschuhen, die ihn nach Kanada tragen sollten – in ein neues Leben.

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Das Geheimnis von Christianstadt

Die einstige Rüstungsschmiede von Christianstadt ist heute mit einem doppelten Maschendrahtzaun und NATO-Stacheldraht auf der Krone sowie Infrarot-Sensoren ausgestattet. Zutritt strengstens verboten. Gerüchteweise heißt es, dort befinde sich eine Spezialeinheit mit einem KFZ-Instandsetzungswerk. Sicher ist nur: hier war bis 1945 das Zentrum der größten Munitionsfabrik des Dritten Reiches.

Das verwunschene Werksgelände liegt mitten in einem riesigen Waldgebiet, eine Autostunde von der deutsch-polnischen Grenze bei Forst entfernt. Der Ort selbst heißt heute auf Polnisch Nowogród Bobrzanski. Ein verschlafenes Provinzstädtchen mit vielleicht zweitausend Einwohnern. Das nahe gigantische Sprengstoffwerk mit dem Tarnnamen Ulme war Geheime Reichssache. Und so scheint es, ist es bis heute geblieben.

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Munitionsfabrik Christianstadt im zugänglichen Teil. Wie Dinosaurier aus einer anderen Zeit ragen riesige Produktionsstätten in den Himmel.

 

Der äußere Bereich mit zwei Kraftwerksruinen und verfallenen Produktionsstätten,  die wie gefallene Skulpturen in einem Jurassic Park herumstehen, ist zugänglich. Aber nichts erinnert an die explosive Geschichte. Keine Gedenktafel, kein Hinweis in Reiseführern oder offizielle Darstellungen im Internet. Seit einiger Zeit bemüht sich eine private polnische Historikergruppe um eine Bestandsaufnahme. Ein kleines Besucherzentrum in der ehemaligen Kommandantur ist geplant, heißt es.

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Lagerausweis Christianstadt. Bis zu 20.000 Arbeiter schufteten bis Januar 1945 in der Munitionsfabrik.

 

Betreiber des Werkes war die DAG, die Dynamit-Actien-Gesellschaft, vormals Alfred Nobel & Co. 1939 begann der Bau dieser geheimen „Nitrozellulose- und Sprengstoffanlage“ mit geplanten 800 Gebäuden, von denen die Hälfte fertig wurden. Die Fläche umfasste rund 1.500 Hektar. Das Fabrikgelände war drei bis viermal so groß wie die Waffenschmiede in Peenemünde. In Christianstadt wurde Sprengstoff für schwere Infanterie, MG, Artilleriegeschosse, Granatwerfer, Flugzeugbomben und auch Zünder für V1- und V2-Raketen hergestellt.

 

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Franzi nach Kriegsende. Die junge Tschechin aus Prag überlebte wie durch ein Wunder Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt.

Ein ständiges Brummen lag über den Wäldern. Viele tausend Fremd- und Zwangsarbeiter, vor allem aber junge Jüdinnen mussten täglich diesen lebensgefährlichen Job leisten. Die Frauen waren aus Theresienstadt oder dem Konzentrationslager Auschwitz herangeschleppt worden. Viele Häftlinge erkrankten an Krebs. Folge des ständigen Kontaktes mit Bleistaub, Salpeter, Schwefelsäure und anderen gefährlichen Chemikalien. Abwasser und Klärschlamm flossen ungeklärt in das Flüsschen Bober.

Bis heute ist unklar, was in Christianstadt wirklich geschah. Wurden schmutzige Bomben getestet oder hergestellt? Wieso wurde das gigantische Werksgelände nie bombardiert, obwohl der Royal Air Force detaillierte Luftaufnahmen vorlagen? Was war der Grund, dass im Januar 1945 eine Spezialeinheit der SS das Werk fünf Tage lang erbittert verteidigte? Wie kam es, dass der stellvertretende Werksleiter Walter Schnurr – der „Sprengstoffpapst des Dritten Reiches“ – nach Argentinien flüchten konnte und später Leiter des Kernforschungszentrums Karlsruhe wurde? Was machten die Sowjets mit dem Werk in den Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges? Was geschieht heute hinter Stacheldraht und totaler Abriegelung?

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Wandgraffiti aus der Zeit der Roten Armee in einer der endlosen unterirdischen Bunkeranlagen.

 

Christianstadt scheint sein Geheimnis bis heute zu hüten. Allen Wechselfällen und Versprechungen der letzten Jahrzehnte zum Trotz. Es ist, als ob das Schicksal diesen vergessenen Ort dazu verdammt hat, genauso geheimnisvoll wie brisant zu bleiben – einst wie heute.

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Christianstadt heute. Das alte Werk ist mit einem neuen Zaun umgeben. Es handelt sich wieder um ein militärisches Geheimobjekt. Der Rest ist Schweigen.

 

Über den Alltag und einen schweren Unglücksfall Ende 1944 in Deutschlands größter Munitionsschmiede der Nazis berichtet zum ersten Mal ein ehemaliger leitender Ingenieur von Christianstadt. Es war sein letztes Interview vor seinem Tod. Dazu ausführlich mehr unter Rückschau Christianstadt.

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Einmal Flüchtling – immer Flüchtling?

Der Vater hat den Koffer gezimmert. Ein Bootsbauer aus Ostpreußen. Auf die Innenseite schrieb er die Adresse seiner Frau: Charlotte Glase. Königsberg. Herzog-Albrecht-Platz 2. Ein paar Habseligkeiten wurden verstaut. Dann hinaus auf die Ostsee bei zwanzig Grad Kälte. Auf einer Schute und mit der Tochter, der kleinen achtjährigen Ingetraud. Bootsflüchtlinge. Der Kampf ums nackte Überleben.

Dieser Koffer blieb Ingetraud Lippmann, heute 89 Jahre alt. Ihre neue Heimat Hamburg. Alles, was sie behielt, war dieser Koffer und Lottchen. Ihre Puppe, ein Jahr jünger als sie, ihr ein und alles. Die alte Frau sitzt im Sessel und erzählt von ihrer Flucht. Auf einem überfüllten Boot. In Zügen, auf deren Dächern sich Menschen klammerten.

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„Uns wurde nichts geschenkt.“ Ingetraud Lippmann. Flüchtlingskind aus Königsberg. Heute in Hamburg.

Sie beginnt zu weinen, als sie vom Schicksal ihres Vaters berichtet. Er blieb an der Kaimauer von Gotenhafen – heute: Gdynia – zurück. „Entsetzlich“. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Vom Tod ihres Vaters in Kriegsgefangenschaft erfuhr sie erst 2003, genau 58 Jahre später.

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„Lottchen“ – ihr großer Schatz. Die Puppe hält sie seit 1937 in Ehren.

Ingetraud Lippmann flüchtete im Januar 1945 von Königsberg nach Kehdingen in der Nähe von Cuxhaven. Sie wurde beim reichsten Altbauern einquartiert. Im Keller mit 13 weiteren Kindern. Willkommenskultur? Von wegen. Der Empfang war eher abweisend und frostig. Nichts wurde ihnen geschenkt. Ihre Milch mussten sie beim Nachbarbauern kaufen. Die Mutter ging übers Land, um zu betteln. Sie bot ihre Arbeit an. Nähen von Kleidern. Gegenwert: vier Eier.

Die pure Not schweißte zusammen. Viele Kinder hungerten. Einzige warme Nahrung war die „Schwedenspeisung“ in den Schulen. Ingetraud erinnert sich an manche hilfsbereite Menschen aber auch an viel Neid. „Die Flüchtlinge brauchen ja nur zur Kleiderkammer zu gehen, um sich etwas Gutes auszusuchen“ hieß es. Oder: „Jetzt kommen noch mehr Polacken.“

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Überfülltes Flüchtlingsboot 1945. Über zwei Millionen Deutsche konnten sich über die Ostsee nach Westen retten.

 

Ingetraud war in der Schule die Beste, obwohl sie keine Bücher hatte. Das ärgerte die einheimischen Kinder. Ihr Flüchtlingsausweis A war anfangs wie ein Makel. Als sie sich bewarb, hagelte es ablehnende Antworten. Die Stelle sei bereits vergeben, hieß es stets. Die ersten verstorbenen Flüchtlinge wurden im Dorf auf dem Hundefriedhof begraben.

 

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Massenunterkünfte für Flüchtlinge 1945. Überleben auf engstem Raum. Das kriegszerstörte Deutschland nahm über 12 Millionen Flüchtlinge auf.

 

Doch Ingetraud gab nicht auf. Sie zog 1953 nach Hamburg, fand Mann und Arbeit. Ihr Lottchen war immer dabei. „Wir hatten alles verloren: Haus, Hof und Heimat. Das Wichtigste aber war: Wir leben!“ Ingetraud lächelt mich an: „Ich habe damals viel geschrieben. Tagebücher. Das viele Schreiben hat mein Herz frei gemacht.“ Und dann sagt sie noch: „Dieser verdammte Krieg. Wir müssen daraus lernen. Es darf nie wieder dazu kommen. Krieg zerstört alles.“

 

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Der Koffer von Königsberg. Heute steht er in Hamburg. „Direkt unter meinem Bett. Man weiß ja nie“, sagt Ingetraud Lippmann