post image

Alle Jahre wieder

Für viele war dieses abgelaufene 2022 ein anstrengendes, beschwerliches und beängstigendes Jahr. Pandemie, Klimakrise, Krieg, Energieteuerung und Inflation haben uns Grenzen vorgeführt. Was mich am meisten beschäftigt: Unsere Eliten wirken erschöpft, sie sind offenbar nur noch mit Machterhalt und dem eigenen Wohlergehen beschäftigt, ob beim kleinen RBB oder der großen FIFA. Dazu eine UNO, die wie ein gelähmter, kranker Riese hilflos durch eine Welt in Flammen, Hunger und Not stolpert. Da muss sich was ändern.

Alternativen gibt es immer. Im privaten wie im gesellschaftlichen Leben. Ich wünsche angenehme Weihnachtstage zum Durchatmen, tolle Erlebnisse mit Familie, Freunden, Nachbarn oder Überraschungsgästen. Viel Zuversicht, Kraft und Energie für 2023.

Vielen Dank für Eure/Ihre Treue.

Christhard Läpple

 

Wer mag, ein junges Trio, das mich 2022 überrascht hat.

post image

Oh, Sister

Es ist ihr Abend. Hanna Kopylova läuft nervös durch den Saal, der sich gleich füllt. Ihr Film „Oh, Sister“ hat Deutschland-Premiere. Wer wäre da nicht aufgeregt? Doch die Frau aus Kiew, die in der Berliner Staatsoper eine Nobelpreisträgerin, eine Kulturstaatsministerin und ein neugieriges Publikum erwarten kann, ist aus einem anderen Grund „total gestresst“. Ihre beiden Kinder (12 + 9 Jahre alt) verbringen in Kiew den Tag nicht in der Schule, sondern im Bunker. Luftalarm! Zum x-ten Mal. Putin schickt seine Raketen und Drohnen zur „Befreiung vom Nazismus“. Die ukrainische Luftabwehr hat alle Hände zu tun. Sie kann viele der 72 Geschosse abfangen, aber eben nicht alle. Wieder sterben Menschen. Wieder gibt es in weiten Teilen kein Strom, keine Wärme, kein Wasser. „Ich wäre jetzt viel ruhiger, wenn ich bei meinen Kids in Kiew wäre“, sagt die 34-jährige. „Hier in Berlin ist Weihnachtsmarkt. Es riecht nach Glühwein. Die Menschen sind sorglos. Das stresst mich.“ Das Licht geht aus. Ihr Film „Oh, Sister“ beginnt.

 

 

Hanna Kopylova hat im Juni 2022 die drei Nobelpreisträgerinnen Leymah Gbowee aus Liberia, Tawakkol Karmen aus dem Jemen und Jody Williams aus den USA auf einer Reise durch ihr geschundenes Heimatland begleitet. Alle drei Frauen setzen sich vehement für Friedenslösungen ein, kämpfen zum Beispiel für das Verbot von Landminen. Die Ukraine ist mittlerweile ein Land voller Minen und noch mehr Leid, aber auch ein Land mit mutigen, unbeugsamen Frauen. Deren Geschichte erzählt der nur zwanzigminütige Streifen mit eindrucksvollen Beispielen. In diesem berührenden Film berichten eine 24-jährige Sanitäterin, eine Apothekerin, eine Juristin, zwei Schaffnerinnen und die Leiterin einer Kindeshilfsorganisation ohne Pathos von ihrem täglichen Kampf ums Überleben. An der Front, dahinter, mittendrin. Putins Raketen fliegen ihnen um die Ohren. Die Frauen nähen Tarnnetze, verbinden Wunden, evakuieren Kinder aus größter Not. Sie riskieren ihr Leben und halten stand: Sie sind wie ein „Fels in der Brandung“.

Irgendwann stellt die US-Amerikanerin Jody Williams die Frage, die unausweichlich zu stellen ist. Warum müssen Frauen den Schlamassel wegräumen, den Männer anrichten? „Wir Frauen müssen klar Schiff machen. Männer müssen endlich zur Seite treten“.  Die jemenitische Menschenrechtlerin Tawakkol Karmen stimmt zu: „Wer macht den ganzen Müll, das ganze Chaos? – Männer. Und wer räumt den Schlamassel weg? – Wir Frauen!“ Das Wichtigste, was jetzt zu tun sei, formuliert Oleksandra Matviychuk, die Friedensnobelpreisträgerin von 2022: „Wir brauchen einen Internationalen Gerichtshof, der die Kriegsverbrechen anklagt. Ja, wir brauchen ein zweites Nürnberg, wie nach dem II. Weltkrieg. Putin und alle Verantwortlichen, auch die Generäle, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die ukrainische Anwältin Oleksandra Matviychuk sagt noch: „Bisher haben wir 27.000 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert.“ Mehr Infos unter #TribunalForPutin.

post image

Amour fou – Teil 3

Frühjahr 1958. Da bin ich im Mai geboren. Meine Mutter meinte, ich sei ein Spätstarter gewesen. Meine Mutter war Musikerin. Sie liebte, nein, sie verehrte in jenen Tagen Ingeborg Bachmann.  Die Lyrikerin und Preisträgerin der Gruppe 47 hat in diesem Frühling 1958 ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ veröffentlicht. Max Frisch arbeitet zeitgleich an den Inszenierungen von Biedermann und die Brandstifter. Frisch schreibt der »jungen Dichterin«, wie begeistert er von ihrem Hörspiel ist. Mit Bachmanns Antwort im Juni 1958 beginnt der Briefwechsel, der, so der Suhrkamp-Verlag, „vom Kennenlernen bis lange nach der Trennung in rund 300 überlieferten Schriftstücken Zeugnis ablegt vom Leben, Lieben und Leiden eines der bekanntesten Paare der deutschsprachigen Literatur“.

Beim dritten Teil vom Amour fou befinden wir uns im Jahre 1959. Der Rausch der ersten Liebe ist verflogen. Der Ton wird abwägender, distanzierter und misstrauischer. Die Briefe sind verletzender und verletzbarer. Es geht um das Verhältnis von „Herr und Magd“. Beide schenken sich nichts. „Wir haben es nicht gut gemacht.“

 

Die Liebe. Ein Versprechen, ein Versuch, ein Glück… ein Fluch?

 

4. Juli 1959 – Rom Ingeborg Bachmann

„eben kam Dein Expressbrief, diesmal ein geschwinder, es scheint, als wolle die Post die Briefe rascher bringen, die einen verzweifelt machen. Und vor zwei Tagen habe ich Dir noch geschrieben, dass ich nicht zornig bin. Jetzt bin ich doch voll von einem hilflosen Zorn, zumindest voll Auflehnung, und die wird noch öfter kommen, denn man lässt sich doch nicht einfach ein Gefühl vernichten, das für einen das Wichtigste ist, ein abgewiesenes, verurteiltes Gefühl, aber für mich ist es da und es will sich nicht umbringen lassen. Glaubst Du, ich würde sonst seit Ende April herumgehen wie eine Wahnsinnige und jetzt noch jede Nacht herumgehen bis 4 Uhr und 5 Uhr und 6 Uhr früh, – es ist nur, weil ich davon nicht loskomme. …

O Max, aber das ist so schwer, diesen Gedanken zu ertragen, es ist furchtbar zu glauben, dass man dem Mann, den man liebt, nicht genügt hat und keine wirkliche Freude war. Es ist so schlimm wie verstoßen zu werden und es gehört, ganz tief unten, vielleicht zusammen. Wenn ich an alles das denke, meine ich unterzugehen, so viele Steine haben sich an mich gehängt, so wenig Selbstvertrauen ist zurückgeblieben; ich werde nie mehr glauben können, dass jemand imstande ist, mich zu lieben, werde immer denken müssen an diese Aussätzigkeit. …

bist so grausam gegen mich, dass ich manchmal einfach mitten auf der Straße zu schreien anfangen möchte, so fürchterlich schreien, dass alles zusammenfällt oder hier in dieser finsteren angeräumten Wohnung, bis sie nicht mehr da ist und ich selbst nicht mehr und überhaupt nichts. … Rom ist öde, nebenbei natürlich schön wie immer, aber man müsste Augen dafür haben. Es war eine der größten Dummheiten, jetzt hierher zu gehen, einen Grund sage ich Dir erst später, aber nun ist nichts mehr zu machen und ich werde es schon durchstehen.

Deine Ingeborg“

10. Juli 1959 Freitag nachts – Rom Ingeborg Bachmann

„Du hast dieses Wort aufgebracht von „Herr und Magd“, das mich zuerst verwundert hat, aber es ist etwas Richtiges dran, und seit ich alles hundertmal durchsuche in der vergangenen Zeit nach Fehlerquellen, glaube ich, diese eine gefunden zu haben. Freilich kann man sie kaum aus der Welt schaffen, denn sie hängt für mich mit dem Altersunterschied zusammen, mit dem sonst ja nichts zusammenhängt. …

Max, es ist so schwer zu erklären, aber ich habe nur ganz selten das Gefühl der Gleichberechtigung, der gleichen Stufen zwischen uns. Ich stehe von Anfang an etwas unter Dir oder hinter Dir, Du hast es bestimmt nicht gewollt und ich auch nicht, aber es bringt Dich dazu, mit mir zu reden manchmal wie zu einer Schülerin, bald liebevoll, bald tadelnd. Ich bin aber, wenn ich nicht bei Dir bin, auch erwachsen, einem Mann gewachsen und lasse mir, wie die Brechtmädchen sagen würden, nichts gefallen. …

Deine Ingeborg.

Ich hoffe, dieser langweilige Nachtbrief ohne Inhalt langweilt Dich nicht zu sehr! Verzeih.“

 

Max Frisch und Ingeborg Bachmann. 1962 in Rom. Foto: Mario Dondero. Max-Frisch-Archiv/SV

 

16./17. Juli 1959 – Uetikon/Schweiz Max Frisch

„Es ist entsetzlich, Ingeborg, was du mir berichtest, dass du überhaupt nicht arbeiten kannst. Ich verstehe es, indem ich die äußeren Umstände erfahre. Rom wird für mich der Name einer Schuld. Im Winter dachte ich, Rom sei der Name unseres Sommers. Ich sah dich, als ich im Krankenbett lag und Rom sagte, unter fröhlichen Freunden in einer Stadt, wo Du am ehesten, so meinte ich immer, heimisch bist, ich war schon eifersüchtig auf deine Heiterkeit ohne mich. …

Wo habe ich dich, was das Geld betrifft so gekränkt? Du bist zutiefst gekränkt überhaupt, voll Hader gegen mich und wie ein Opfer. Inge, es ist seltsam, wenn ich deine Briefe wieder lese deine Briefe jetzt; zuerst freue ich mich über jedes Zeichen von Dir, bin bestürzt, wenn ich dich in so widrigen Umständen sehe, und froh um jeden Satz, der uns eine Zukunft lässt. Beim Wiederlesen dann suche ich nach Spuren der Zärtlichkeit, erschreckt, es ist, als habe ich sie mir nur eingebildet; hervortritt aus jeder Zeile, scheint mir dann der unausgesprochene Vorwurf, der zunehmende Groll, die Anklage mehr und mehr. …

Wir sollten einander nicht verklagen, wenn wir nicht arbeiten können; mir jedenfalls ist die Unfruchtbarkeit in allen Lebenslagen vertraut. Wir sollten nicht zusammenwohnen, sagte ich, und es war ein Schock für Dich, Du schriebst, dass ich Dich nicht liebe, dass ich keine Liebe habe zu deinem Körper; Du fühlst dich verstoßen, und in jedem Brief, fast in jedem, lese ich deine Bitterkeit darüber, indem Du dich unterwirfst wie eine Erniedrigte, dem Gedanken an getrennte Wohnungen unterwirfst, der Dir im Grunde unannehmbar ist, sagst Du, und ich bin es, der das Unannehmbare fordert. Wäre es doch so. …

Betroffen hat mich, Inge, was Du über „Herr und Magd“, sagst. Nicht wegen Altersunterschied, womit Du es begründest. Betroffen, weil Trudy mir öfters dasselbe gesagt hat. Ich weiß es nicht, dass ich unterdrücke; ich muss es glauben es kommt mir kurios vor, dass jemand mich fürchtet. Ich muss es glauben, da man es mir in meinem Leben mehr als einmal sagt.  …

Bin ich eine Mimose ein Tyrann aus Mimosenhaftigkeit? ein Grobian aus verlorener Spontaneität, mag sein. Erinnerst Du dich, wie ich mich, wie es mich nervös machte, als du immer einen Schritt hinter mir gingst? Ich wünsche es mir von keiner Frau, Dir glaube ich es auch gar nicht. Woher fragst du soll die Gleichberechtigung bei uns kommen? Einiges ließe sich im Vordergrund erklären. Du bist nicht nur ungewöhnlich gescheit, Du bist eine Dichterin, dazu bist du auch noch eine Frau; Du bist gewöhnt, dass Du auf Händen getragen wirst, wobei die Hände es leicht haben; es musste dich vorerst irritieren. Inge, dass ich dich nicht auf Händen trage. Hat sich Gleichberechtigung nicht oft für dich so ausgenommen, dass Du, ohne dich in Szene zu setzen, der Mittelpunkt bis? Du brauchst das, und das ist kein Übel; aber, dass ich mich zu Hause zum Herrn mache dir gegenüber, das ist ein Übel. … So grüßt Dich, Geliebte, dein Herr.“

 

Leonard Cohen übernimmt mit Suzanne Anfang/Mitte der sechziger Jahre einen Song über eine unerfüllte Liebe.

Amour fou – Fortsetzung folgt

post image

Amour fou – Teil 2

Zürich. 2011. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle öffnet mit zwei Schlüsseln ein Schließfach in einer Großbank. Im untersten Fach findet er Schachteln. In einer entdeckt er den Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine literarische Bombe. Das Dokument „einer Jahrhundertliebe“, titelt die ZEIT in ihrem Aufmacher. Es braucht weitere zehn Jahre, bis alle vorhandenen Briefe editiert und von den Angehörigen freigegeben werden. Der Briefwechsel ist im Verhältnis 2:1 zugunsten Bachmanns erhalten. Ingeborg Bachmann hatte in den sechziger Jahren viele Briefe von Max Frisch vernichtet. Nun ist bei Suhrkamp die Geschichte einer verrückten Liebe veröffentlicht worden. Titel: „Wir haben es nicht gut gemacht“.

Die beteiligten Herausgeber/innen legen Wert darauf, dass mit Hilfe dieser Briefe viele Gerüchte und Legenden widerlegt werden können. So habe Macho-Max Frisch die hypersensible Bachmann mit seinem „Blutbuch“ Gantenbein nicht in den Tod getrieben. Die Bachmann arbeitete von Beginn am Skript mit. Alle ihre Korrekturwünsche wurden eingearbeitet. Auch ihre Tabletten- und Alkoholsucht habe lange vor der Trennung eingesetzt. Die Briefe über ihre knapp vierjährige Beziehung erzählen von der Unmöglichkeit einer Offenen Beziehung mit Seitensprüngen, Intrigen, Versöhnungen und Zerwürfnissen. „Du machtest mich zum Arschloch!“ schreibt er, oder sie: „Ich will alle meine Briefe zurückhaben. Damit die Tortur ein Ende hat.“

Die Briefe sind von literarischem Rang, voller Gefühlsaufwallungen und poetischer Kraft. Es wird geliebt, gestritten und gelitten. Die Bachmann/Frisch-Affäre war eine Amour Fou, eine tragische Liebe. Mit ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe, ihrer Eifersucht. Wer will am Ende Richter sein?

 

Max Frisch (1911 Zürich – 1991 ebenda) Porträt von Otto Dix.

 

3. Januar 1959 – Zürich Max Frisch

„Lieben wir einander? Die Gewissheit, dass du heute nicht nach Hause kommst, nicht früher und nicht später, ist abendfüllend verheerend. Sag mir, Weise, was ist Sehnsucht, was ist Macht der Gewöhnung? Was ist Liebe. Ich bin froh, eine Brille von dir zu finden, einen Morgenrock, Bücher, die du gelesen hast, froh um Indizien, die ich jetzt so gerne einem Polizisten zeigen würde: Ja gewiss, hier wohnt eine Frau! … und vielleicht wäre es gescheiter, ich ginge jetzt schlafen. Ich werde mir dafür, dass ich ohne Genie bin, voraussichtlich nicht mehr das Leben nehmen, dafür habe ich es zu lange ausgehalten: ist es das, was human macht, dieses Ausgehaltenhaben, das man doch nicht aushält, wenn es genannt wird vom anderen? Jetzt geh ich schlafen…“

 6. Januar 1959 – Klagenfurt Ingeborg Bachmann

„Ich frage mich, ob du fühlst, wie sehr Du nach einer Verlust-Einstellung zu mir suchst; ich meine nicht in der scherzhaft-ernsten Stelle über Abreisen, Verlieren etc, sondern wo du vom „Humanen“ sprichst, oder von Celan, also in dem, was scheinbar nicht dazugehört. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das ein Giftwort für dich ist … aber es ist vielleicht trotzdem besser, wenn man es nicht zurücknimmt, obwohl es so nicht gemeint war und ein Unsinn unter vielem, hingesagt. …

Mein Lieber, warum kommst du mir trotzdem wie ein Geliebter vor – und doch wie ein Feind heute? Ich will aber nicht kalt mit dir reden und mit dir rechten, um mich erhalten zu können. Ich will das wirklich nicht und komme gleich, nachsehen, wie du da liegst und weiter haderst mit mir – oder vielleicht liebst du mich und es kommt Tauwetter. Deine Ingeborg.“

 

Ingeborg Bachmann (1926 Klagenfurt – 1973 Rom) Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt

 

1. Juli 1959 – Rom Ingeborg Bachmann

Lieber Max! Nein, ich bin nicht zornig, nur glaube, ich endlich begriffen zu haben, spät genug und es ist zu viel Schmerzvolles darunter, als dass ich Freude über Weltflüge und Universitäten heucheln könnte. Dein Zorn hingegen, Zorn gegen mich? … ich weiß nicht, womit ich ihn herausgefordert haben sollte, ich war dir vollkommen ergeben, habe kein anderes Leben mehr gehabt und gewollt als eines mit Dir. Du kannst mir nur vorwerfen, dass ich nicht rechtzeitig gegangen bin, aber ich habe es bis zuletzt nicht glauben können, dass du mich forthaben willst und mich nicht mehr liebst.

Aber man kann über solche Dinge gar nicht zornig sein, nur traurig, und ich kann auch heute, in diesem Rom und mit all diesen Plänen, Arbeiten rundherum, nicht verhindern, dass die Traurigkeit mich immer wieder überschwemm, sie kommt von allen Seiten und aus vielen Gründen, und jetzt, weil Dir andere näherstehen und ich überflüssig geworden bin. Trotzdem muss ich natürlich froh sein für Dich, dass Du bei Madeleine bist, dass sie sich um Dich kümmert, und du bei Friedi wohnen kannst. Wenn Du nur gesund wirst, wenn es nur besser geht. Dein Brief ist auch schon viel klarer und lebendiger als die Vorherigen. … Deine Ingeborg

 

 

1.– 3 Juli 1959. – Thalwil Max Frisch

Geliebte Ingeborg! Unser Ferngespräch (vorgestern) hat Dich in einer Enttäuschung zurückgelassen. Du hattest eine bestimmte oder unbestimmte Erwartung, die ich nicht erfüllt habe; ich fühlte es erst nachher. Deine Stimme nach so langer Zeit! Ich liebe Dich, Ingeborg, und ich sehne mich nach Dir oft, aber ich bin verzweifelt; ich kann dich nicht rufen, nur weil ich verzweifelt bin.

Inge! Ich bin nicht dein Herr, der dir erlaubt oder nicht erlaubt, und du bist nicht die Magd; Du bist eine Junggesellin, die zuweilen Lust hätte einfach zu gehorchen, einfach hinzunehmen. Wie lange? Bis die Lust aufhört, bist du als Ingeborg Bachmann erwachst und tust, was dir als Ingeborg Bachmann passt. Lass uns also nicht Herr und Magd spielen! Es hätte den Vorteil, dass die Magd keine Ahnung haben muss, warum der Herr so launisch ist und dass der Herr, sich der sich mit einer Magd begnügt, keine Ahnung erwartet, aber diese Rollen sind uns nicht bestimmt. …

Ich kann nicht allein sein. Das ist der Fluch. Oft denke ich auch, dass darin ein Missbrauch der Liebe liegt: ich will von der Liebe, dass sie das Alleinsein aufhebe und daher die Katastrophen. Es genügt mir nicht, dass ich geliebt werde; ich glaube es nicht, wenn ich dabei allein bleibe. Und während die Liebende denkt, ich sollte tanzen vor Glück, dass sie mich liebt, und ich sollte mich auserkoren fühlen durch ihre Liebe, scheint mir, sie irrt sich: sie liebt nicht mich, so wenig wie einen anderen, sondern sie liebt die Liebe und sich selbst als Liebende. …

Erinnerst du dich an unser Gespräch auf der grünen Dachterrasse über Portovenere damals? Ich hocke vor dir auf den Boden, ich sehe dich und das Geländer, das Meer durchs Geländer; war es nicht sehr schön? Ich sprach von deinem Bewusstsein, auserlesen zu sein. …

Heute vor einem Jahr haben wir uns getroffen. Ob du den kleinen Rosengruß, den ich zum heutigen Tage schickte, bekommen wirst? Die Metzger aus den Hallen, erinnerst Du dich, die mit den blutigen Schürzen, unsere Küsse auf der Straße zwischen Kisten und voll Gemüse, das Morgengrauen mit deinem Schrecken. …  Vielleicht sollte man nur am Meer sitzen und schweigen, ohne am Schweigen zu verderben, ohne ein Du zu erwarten, Hand in Hand allein, zärtlich-beziehungslos, ohne Hoffnung. Ob ich´s je so weit bringe? Ich küsse Dich.“

Fortsetzung folgt.

post image

Für ein Stück Brot

Endlich ist sie wieder da. Die kleine Gedenktafel, die an einen vergessenen Aufruhr von großer Tragik erinnern soll. Viele Jahre war das blau-weiße Emaille-Erinnerungs-Stück für zwei hingerichtete Menschen verschwunden. Eine Tafel für Menschen, die in den letzten Kriegstagen in Plötzensee unter dem Fallbeil sterben mussten, weil sie Brot wollten. Einfach nur ein Stück Brot. Brot, das kurz vor Kriegsende 1945 in Berlin nur noch an NS-Genossen verkauft werden durfte, um den „Endsieg“ zu sichern. Verschwunden war die alte blau-weiße Tafel von 1998, weil der neue Eigentümer die Bäckerei kaufte, sanierte und für die Wiederanbringung keine Notwendigkeit sah. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Es dauerte auch so viele Jahre, weil die Berliner Bürokratie unschlagbar ist: im Nichtzuständig-Erklären, in großen Reden und im wurstigen Aussitzen.

 

Happy End nach langem Ringen. Die neue Gedenktafel vor der ehem. Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf. Carolin Weingart, stellv. Bezirksbürgermeisterin von Treptow-Köpenick, Dunja Wolff (SPD-Abgeordnete), Dietrich Elchlepp (Freiburg, ehem. MdB + MdEP, Angehöriger) und Gion Voges (Bürger für Rahnsdorf)

 

Jetzt steht wieder eine Gedenktafel vor der ehemaligen Bäckerei. Sie wurde vom tüchtigen Vorsitzenden des Bürgervereins Rahnsdorf Gion Voges und Dietrich Elchlepp, dem Freiburger Neffen der hingerichteten Margarete Elchlepp eingeweiht. Mit dabei waren einige Vertreterinnen des zuständigen Bezirksamtes Treptow-Köpenick, dazu eine Abgeordnete der SPD, sogar der Hauseigentümer und Bürgerinnen und Bürger des Berliner Vororts Rahnsdorf. Allesamt froren. Denn es war kalt an diesem Novembertag, neblig und trübe. Die Musiker trotzten tapfer den widrigen Bedingungen. „Eine Gedenkfeier auf einem Parkplatz, aber eine würdige Sache“, meinte eine Teilnehmerin.

Die Tafel erinnert an den 6. April 1945. An diesem Freitag, vier Wochen vor Kriegsende, schnappt schicksalhaft die ganze Grausamkeit des NS-Regimes in einer kleinen Bäckerei zu. In Rahnsdorf, ein ländlicher Vorort im Osten Berlins, geht das Brot aus. Verzweifelt drängen mehrere hundert Menschen, vor allem Frauen, in die Verkaufsstellen. Der alarmierte NS-Ortsgruppenführer geht dazwischen. Mit gezückter Waffe drängt er in der Bäckerei Deter die Menge zurück. Die Rache des Regimes folgt auf den Fuß. Systemtreue Frauen stellen Listen zusammen. Die Gestapo verhaftet 15 Personen. Am Tag darauf werden die 45-jährige Hausfrau Margarete Elchlepp und der 54-jährige Tischlermeister Max Hilliges in Plötzensee als „Rädelsführer“ enthauptet.

 

Berliner Gedenktafel für die Opfer des „Rahnsdorfer Brotaufstands“. Enthüllt am 25.11.2022. Zugegeben: ich wäre gerne dabei gewesen, aber eine Bronchitis setzte klare Grenzen.

 

Nur zwei Wochen später marschiert die Rote Armee ein. Der NS-Ortsgruppenführer wird von den Sowjets wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erschossen. Die neue Stadtverwaltung ermittelt bis 1952 zum sogenannten Brotaufruhr von Rahnsdorf. Nun werden die Denunzianten selbst denunziert. Gegen acht Helferhelfers des NS-Ortsgruppenleiters wird ermittelt, eine Frau zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Danach legt sich der Mantel des Schweigens über die Sache mit dem „Brotaufruhr“. In den Familien bleibt das Drama ein gut gehütetes Geheimnis – bis in unsere Tage. Ich erfuhr von meinem Schwiegervater vom vergessenen Brotaufstand. Auf seinem Sterbebett bat er 2018, mich der Sache mit der verschwundenen Gedenktafel anzunehmen, die er 1998 mit enthüllt hatte.

 

Margarete Elchlepp (1899-1945). Sie gab im Verhör zu, ein Brot mitgenommen zu haben. Margarete wurde als „Rädelsführerin“ verurteilt. Sie wurde in Plötzensee am 8. April um 0.45 Uhr enthauptet. Die letzten Todesurteile wurden am 18. April 1945 vollzogen.

 

Tischlermeister Max Hilliges. Er war mit Reparaturen in der Bäckerei beschäftigt, als die Menge den Laden stürmte. Hilliges sagte dem NS-Mann Gathemann, der die Pistole gezogen hatte: „Gib den Frauen Brot.“ Und: „Du wirst Deinen braunen Rock bald auch ausziehen müssen“, so Witwe Elise 1947 bei einer Vernehmung.

 

Jetzt erinnert wieder eine Tafel an diese winzige Begebenheit im großen Strom der Menschheitsgeschichte, die davon erzählt, wozu verzweifelte Menschen in der Lage sind. Möge die Tafel lange stehen bleiben. Möge sich so etwas nie wiederholen. Möge es immer Brot für alle geben.

 

post image

Amour fou

Die Menschen strömen an einem kalten Novemberabend ins Berliner Ensemble. Am Eingang bitten Besucher auf Pappschildern um Karten. Das Brecht-Haus am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte ist restlos ausverkauft. Ein erwartungsfrohes Publikum im gehobenen Alter wartet sehnsüchtig auf Neues, Intimes, Klatsch und Tratsch, kurz auf Szenen einer Ehe. Es geht um eine verrückte Liebe. Um Lust und Leidenschaft, Eitelkeit und Eifersucht, um das kleine und große Glück, das wir alle suchen. Im Mittelpunkt zwei längst verstorbene Größen des deutschen Literaturbetriebs: Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Zwei Ikonen der Dichtkunst, für knapp vier Jahre ein gemeinsames Paar. „Wir haben es nicht gut gemacht“, steht auf einem Transparent, das über der Bühne des großen Hauses hängt. Das ist der Titel des nun erschienenen tausendseitigen Briefwechsels zwischen dem einstigen Spiegel-Covergirl Ingeborg Bachmann und Macho-Max Frisch.

Als nach einem Vorwort von Herausgeber Thomas Strässle Constanze Becker und Matthias Brandt die Bühne betreten, brandet dankbarer Vorschuss-Beifall auf. Die beiden schlüpfen in die Rolle der beiden Nachkriegs-Literaturhelden Bachmann & Frisch. Und los geht es mit den ersten zarten Anbandelungsversuchen vom Frühjahr 1958. Als der dreißig Jahre ältere Max der „jungen Dichterin“ Ingeborg den Hof macht, während sie überraschend bereitwillig auf seine Avancen eingeht. Was sich nun entwickelt, ist eine Amour fou, eine Hass-Liebe zwischen „Herr und Magd“, zwischen Anziehung und Abscheu, Erotik und Enttäuschung. Es geht zur Sache. Sehr persönlich, intim, literarisch auf höchstem Niveau. „Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider“. Das geneigte Publikum im BE-Saal lacht, stöhnt, zischt und kichert, als im schnellen Wechsel aus den Briefen voller Anklagen, Wutausbrüchen und Versöhnungsversuchen vorgelesen wird. Eine Frau in der Reihe hinter mir raunt unüberhörbar: „Richtig so!“ Soeben hatte Ingeborg ihrem „Bär“, so nennt sie zeitweise ihren Ehemann Max, die kalte Schulter gezeigt, nachdem er wieder seine Pfauenfedern gespreizt hatte.

 

Ingeborg Bachmann und Max Frisch, ca. 1960. Foto-Collage: Buhs/Remmler/Ullstein, Picture Alliance/Keystone.

 

Die Liebe zwischen Ingeborg und Max kann nicht funktionieren. Das wird an diesem Abend rasch klar. Zu hoch die Ansprüche, zu empfindlich die Gemüter. Aber wie sie scheitert, das ist von einmaliger Größe; zeitlos, aufwühlend und leidenschaftlich. Unser Glück ist, dass immerhin dreihundert Briefe erhalten blieben, obwohl Ingeborg viele Max-Briefe vernichtet hat. Unser Glück ist auch, dass sich die beiden nicht auf WhatsApp schrieben, sondern Briefe austauschten, die tagelang zwischen Klagenfurt und Zürich, Berlin, Paris und Rom unterwegs waren. Am Ende des Abends ist die „Große Liebe“ verloschen. Matthias Brandt und Constanze Becker erhalten ihren verdienten langen Schlussbeifall. Sie kassierten im Fluge die Botschaft des Banners auf der Bühne: „Wir haben es nicht gut gemacht“. Es war ein nicht nur ein guter, es war ein grandioser Abend. Einige Stellen aus dem Briefwechsel will ich in loser Folge vorstellen, weil es spannend und vergnüglich ist, was sich die beiden Briefeschreiber Ingeborg Bachmann und Max Frisch in ihrer fulminanten Zweierbeziehung zu sagen hatten.

 

 

Max Frisch in Montauk. Eine Erzählung (1975)

„Ich hatte zu tun beim Sender in Hamburg und ließ mir das Hörspiel vorführen, dann schrieb ich einen Brief an die junge Dichterin, die ich persönlich nicht kannte: wie gut es sei, wie wichtig, dass die andere Seite die Frau sich ausdrückt. Sie hörte Lob genug und großes Lob, das wusste ich, trotzdem drängt es mich zu dem Brief. Ich wollte sagen wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.“

 

9. Juni 1958 München – Ingeborg Bachmann an Max Frisch

„Verehrter, lieber Max Frisch, Ihr Brief ist mir schon so vieles gewesen in dieser Zeit die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den argen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat. (…) So will ich den Brief rasch abschicken mit der Frage, ob ich Sie, wenn ich Sonntag nach Zürich komme, sehen darf. Ich könnte 2, 3 oder 4 Tage bleiben, und ich hoffe so sehr ohne rechte Überlegung, dass auch Sie es wünschen könnten. (…)  Es wäre zu schön und ist nur fast zu viel verlangt. Sie haben mich schon sehr glücklich gemacht! Meine besten Wünsche sind bei ihnen und ihrer Arbeit. Ihre Ingeborg Bachmann.“

 

6. Juli 1958 Paris – Max Frisch an Ingeborg Bachmann

„Ich liege neben dir Ingeborg, und du bist nicht da. Wirst du je wieder da sein? ich bin glücklich und ratlos. Ich liebe eine Frau, die mich liebt, und Du trittst in mein Leben, Ingeborg, wie ein lang gefürchteter Engel, der fragt Ja oder Nein. Und ich bin glücklich und ratlos und zu feig, um über die Stunde hinaus zu denken. Ich will den Sommer mit dir. Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn man dich liebt, und ich liebe Dich.“

 

28. Juli 1958 Neapel – Ingeborg Bachmann an Max Frisch

„Und ich bin sehr allein und nicht traurig drum im Augenblick, sondern nur, wenn ich weiterdenke. Die Fahnen vom Verlag sind gekommen, vom „Guten Gott“, ich kann nicht mehr viel verändern, was uns alles neu gesetzt werden müsste, aber sie haben das Buch nicht schlecht gemacht, glaube ich – es sieht viel besser aus als die Fahnen, die Du gesehen hast, und einiges kann ich doch noch so machen, wie Du´s mir geraten hast. Ich ginge so gern zu dir hinüber ins Nebenzimmer, um Dich zu fragen wegen der Beistriche, und für jeden müsste ich Dich dann einmal umarmen, oder viele Male, und für die Rufzeichen bekämst Du lauter Küsse. Gute Nacht! Ingeborg.“

Fortsetzung folgt.

Ihre Pfandflasche bitte!

Als Großstädter legt sich man sich im Laufe der Jahrzehnte eine dicke Haut zu. Sonst dreht man durch. Überall Tempo, Hektik, Enge, Glanz und Elend. Blitzschnelle Wechsel der Gefühle. Wer unterwegs ist, trifft im Zeitraffer Paradiesvögel, Aufschneider, schräge Typen und sonderbare Zeitgenossen. Armut ist ein ständiger Begleiter in U- und S-Bahnen. Geschnorrt und gebettelt wird überall: an Bahnhöfen und Übergängen, vor Geldautomaten und Supermärkten. Die Habenichtse versuchen es mit Musikeinlagen, Straßenzeitung oder einem treuherzigen Hund. Geld kannst du loswerden: morgens auf dem Weg zur Arbeit, abends auf dem Nachhauseweg. Ratsam ist ein gehöriger Schuss Gleichgültigkeit. Problem nur: Die Seele vernarbt. Aber wer kann schon allein die Welt retten?

 

Morgens am S-Bahnhof Savignyplatz in Berlin. „Schau mal, der fotografiert einen Penner mit Bier“, zischelt eine Touristin. Am Abend dieses 10. Novembers 2022 lerne ich am Bahnhof Friedrichstraße eine Rentnerin kennen.

 

Neulich war alles wie immer und dann doch ganz anders. Den Tag über wurde ich vier- oder fünfmal um einen Obolus gebeten. Wie immer die Strategie Kragen hoch, Blick ins Nichts und zügig weitergehen. Bloß keine Reaktion zeigen. Da spricht mich plötzlich auf dem Bahnsteig in den abendlichen Rushhour-Stunden eine ältere Dame an. Sie wirkt ausgesprochen ordentlich. Sie wird mich wohl nach dem Weg fragen, hat sich vielleicht in Berlin verlaufen. Irrtum! Sie fragt mich nach einer Pfandflasche, ob ich ihr eine geben könne. Ich verneine. Was ist mit Ihnen los, frage ich. „Meine Rente ist so klein“. Ob sie keine Familie habe? – „Ja, doch. Eine Tochter. Sie ist mit ihren beiden Kindern ausreichend beschäftigt.“ Ich frage, ob sie Berlinerin ist. – „Ja, aus Lankwitz“. Dieser Stadtteil im Südwesten ist so ordentlich wie die Frau, die mich mit großen Augen überrascht anschaut. Ich blicke vermutlich genauso perplex zurück.

 

Gibt es Zufallsbegegnungen? Oder ist es doch mehr? Ein Fingerzeig… vielleicht. Foto: Dirk_Kortus

 

Nach einer kurzen Pause setzt sie an: „Ich bin Rentnerin, davon kann ich einfach nicht leben.“ Sie spürt meinen kritischen Blick. „Ich bin seit 17 Jahren Erwerbsminderungsrentnerin. Da bleibt nicht viel übrig. Ich muss von 579 Euro im Monat leben.“ Ich biete ihr ein Fisherman Friends-Bonbon an. „Geht nicht“, wehrt sie ab. „Zucker ist für mich Gift. Ich habe den Magen einer Hundertjährigen. Alles rausgeschnippelt. Ich darf praktisch nichts mehr essen und trinken. Keine Süßigkeiten, kein Fleisch, kein Alkohol, einfach nichts.“ Wir schauen uns ratlos an. Die Frau wird vermutlich Ende sechzig sein. „Ich bekomme keine Hilfe. Ich bin ganz auf mich allein gestellt.“ Ich krame in meinem Portemonnaie, gebe ihr einige Euros und meine Visitenkarte. Ich sage, ich kenne einige gute Sozialeinrichtungen, die helfen könnten. Sie schaut auf den Boden. Mein Zug fährt ein. Wir verabschieden uns grußlos. Ihr Blick sagt: An wen bin ich denn da geraten? Ich steige in die Bahn, schaue nach ihr. Die Frau mit dem hundertjährigen Magen ist verschwunden.

 

 

Diese Zufallsbegegnung geht mir bis heute nach. Ich muss an Hans Fallada denken, der die Not der Menschen vor hundert Jahren so eindrucksvoll geschildert hat. Einfache Menschen, die unverschuldet in den Strudel der großen Krisen geraten sind. Menschen, die anständig bleiben wollten in Zeiten, in denen die Dreisten glänzende Geschäfte machten. Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« erschien 1932. Auf Seite 372 heißt es:

„Was soll man tun in einer Stadt, die einen nichts angeht, als hübsch bei sich zu Haus zu bleiben, bei den eigenen Sorgen? Läden, in denen man nichts kaufen kann. Kinos, in die man nicht rein kann, Cafés für Zahlungsfähige, Museen für Anständiggekleidete, Wohnungen für die anderen, Behörden zum Schikanieren – nee Pinneberg bleibt hübsch bei sich zu Haus.“

post image

Unter Nachbarn

Unser Haus ist ein typisches Berliner Mietshaus. Gründerzeit. Anfang des 20. Jahrhunderts in die märkische Erde gepflanzt. Schickes Vorderhaus, enger Hinterhof, begrünte Brandwand. Zwei Seitenflügel, drei Aufgänge, kein Fahrstuhl. Vorne bürgerlich-großzügig, typisch Wilmersdorf. Die Treppenhäuser in den beiden Seitenflügel sind deutlich schmaler, die Hinterhofwohnungen kleiner, aber preiswerter. Die gut vierzig Mitbewohner – groß und klein, alt und jung, sind so unterschiedlich wie die Stadt. Vom BVG-Ruheständler über die Bosnierin, parterre rechts, die vor Krieg und Vertreibung geflüchtet ist, bis zu mir als Fernsehmenschen ist eine bunte Mischung vertreten. Wir kommen in der Regel gut klar. Einmal im Jahr gibt es ein Hoffest. Jede/r bringt etwas mit, bis Würstchen, Kartoffelsalat, Bier und Wein, Klatsch und Tratsch erledigt sind. Das Aufräumen machen immer nur einige wenige und die immer gleichen. Egal. Ein Haus zum Wohlfühlen? „Hier kannste nicht meckern“, meint eine unserer Wilmersdorfer Witwen. Mehr Lob geht nicht.

In unserem Haus Gieselerstraße 16 wohnten einmal zwanzig Menschen, die allesamt Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre verschwanden. Sie hießen Marie Eisner, Albert Fraenkel, Johanna Friedmann, Julius Hans Heymann, Cere Jacobsohn, Edith, Marianne und Walter Koeppler, Lange, Gertrud Moll, Hugo Philipps, Louise Schönlank, Leo Schlesinger, Gertrud Schumlowitz, Irma und Wolf Max Silberstein, Hilde Traugott, Alice Vandsburger, Meta Wisztnicki und Irma Wolfsohn. Auch sie träumten vom kleinen und großen Glück. Was diese früheren Bewohner unseres Hauses vereint: sie wurden abgeholt, verschleppt, viele in den Tod geschickt, weil das NS-Regime es so wollte. Ihre Namen stehen in einer kleinen Broschüre aus dem Jahre 1987 von Udo Christoffel. Berlin-Wilmersdorf. Die Juden. Was aus den Menschen geworden ist, wissen wir nicht. Nur drei Schicksale konnte mittlerweile unsere kleine  Anwohnerinitiative klären.

 

Liste der gemeldeten Juden in den Häusern der Gieselerstrasse 16, Berlin-Wilmersdorf im III. Reich. Vor ihrer Deportation. Quelle: „Berlin Wilmersdorf. Die Juden, Leben und Leiden“ Kunstamt Wilmersdorf. Hrsg. Udo Christoffel 1987.

 

Das Ehepaar Phillips wurde gegen ihren Willen in eine Einzimmerwohnung zwei Häuser weiter umquartiert. Weiterer Verbleib unbekannt. Am 5. August 1942 holte die Gestapo zwei Bewohner aus unserem Haus ab: die 64-jährige Irma Silberstein und ihren 71jährigen Ehemann Max. Das Ehepaar wurde nach Theresienstadt deportiert, schließlich im KZ Treblinka ermordet. Ein Nachkomme aus den USA besuchte vor einigen Jahren unser Haus. Für die beiden Silbersteins konnten vor unserer Haustür zur Erinnerung zwei zehn auf zehn Zentimeter große Messingschilder verlegt werden. Diese kleinen Mahnmale, besser bekannt als Stolpersteine, werden jedes Jahr geputzt. Am 9. November, dem Jahrestag der Reichpogromnacht, zünden Nachbarn Kerzen neben den Stolpersteinen an. In unserer Straße leuchten in dieser Nacht viele Kerzen vor den Häusern. Manchmal werden sie umgestoßen.

 

 

Die Stolpersteine sind das Verdienst von Gunter Demnig. Der Mann mit dem Filzhut hat mittlerweile über 96.000 Stolpersteine in mehr als dreißig Ländern verlegt. Was vor über dreißig Jahren mit einem ersten Erinnerungsschild auf dem Pflaster vor einer Kölner Haustür begann, zum Ärger der damaligen Behörden, hat eine große Laiengeschichtsbewegung in Gang gesetzt. Die Stolpersteine sind inzwischen weltweit das größte dezentrale Mahnmal an die Nazi-Verbrechen. Jeder Stein ehrt ein Opfer. Genau dort, wo die Menschen zuletzt lebten. Jeder Stein ist handgemacht. Ein Messingblech aus einem Millimeter Stahl wird in Beton verankert, um einen gewissen Schutz gegen Diebstahl oder Vandalismus zu gewährleisten.

Demig sagt gegen alle Kritik: „Die Stolpersteine sind keine Grabsteine.“ Sie sollen die aktive Erinnerung fördern: Wer hat hier gewohnt? Was wurde aus meinen früheren Nachbarn? Der gebürtige Berliner Gunter Demnig erntete Auszeichnungen, aber auch immer wieder Ärger mit Hauseigentümern, Behörden sowie mehrere Morddrohungen. Rund 800 Steine wurden beschädigt, sie sind längst ersetzt. Ein Kölner Pfarrer ermunterte den in Hessen lebenden Künstler, als er mit der Aktion begann: „Die Million wirst du wohl nicht schaffen, aber man kann ja klein anfangen.“ Demnig ist nun 75 Jahre alt geworden. Seine Mission will er fortführen, solange die Knie mitmachen. Im Juni 2023 plant er, mit seinem elfköpfigen Team den 100.000 Stolperstein zu setzen.

 

Germany, Berlin. 09.11.2022. Zwei Stolpersteine vor dem Haus Gieselerstrasse 16, in 10713 Berlin-Wilmersdorf. In Gedenken an Irma und Wolf Max Silberstein. Ehem. Bewohner, die als Juden 1942 nach Theresienstadt deportiert  und spŠäter in Treblinka ermordet wurden.  Foto: Mike Minehan

 

Vor unserem Haus sind zwei Stolpersteine verlegt. Es sollen mehr werden, sobald wir genaueres über das Schicksal der anderen verschollenen Nachbarn wissen.

post image

Mambo, Mozart und mehr

Wann gibt es das in der Berliner Philharmonie? Heiße Rhythmen, rhythmisches Klatschen, kreisende Hüften und tanzende Menschen im Foyer. Ausgelassen, spontan, begeistert zwischen Ausgang und Garderobe, ohne Programmankündigung und Sitzplatzreservierung. Die kubanischen Musiker des Havana Lyceum Orchestra verlängerten ihr zweistündiges Konzert im Kammermusiksaal und zogen in der Zugabe fröhlich-beschwingt aus dem Saal in die Empfangshalle. Dort sangen und improvisierten sie weiter, Chan Chan und Guantamera. So viel Lebensfreude, so viel Energie war schon lange nicht mehr in der eher hüftsteifen Philharmonie. Ein Konzerttempel, in der das gesetzte Publikum höchstens in Satzpausen mit einem spontanen Hustenkonzert auffällt. Mitten in der tanzenden Menge Hornistin Sarah Willis, lachend, ohne ihr Instrument, dafür mit neuen CDs, die sie dem Publikum hüftkreisend entgegenstreckt. Als wollte sie die ganze Welt umarmen. Was für ein wunderbarer Abend! Musik kann Flügel verleihen.

 

 

„Mozart y Mambo“ ist eine Erfolgsgeschichte. Das Crossover-Projekt ist ein Kind von Sarah Willis. Die Hornistin der Berliner Philharmoniker küsste nach einem ersten privaten Kubabesuch 2017 eine Idee. Warum nicht Mozart und Mambo miteinander verbinden? Warum nicht europäische Klassiker mit kubanischen Rhythmen würzen? Geht das? Das Waldhorn, das sie spielt, ist ein lautes, dominantes Instrument. Wer ins Horn bläst, muss ständig üben, sitzt im Orchester ganz hinten, braucht viel Puste und noch bessere Zähne. Lippenstift ist tabu. Seit 2001 riskiert die Amerikanerin bei den Philharmonikern eine „dicke Lippe“, um das Publikum mit ihrer Spielfreude zu erfreuen. Der Schritt zum Salsa war für sie ein sehr kurzer. Es hat sie einfach gepackt. Angeregt durch Wim Wenders Buena Vista Social Club-Doku besuchte sie Kuba und verliebte sich in Musik und Insel.

 

 

Die gebürtige US-Bürgerin aus Bethseda, Maryland hat keine Berührungsängste. Musik ist ihre Sprache. So knüpfte sie in der Trump-Ära Bande zum Havana Lyceum Orchestra. Das 2020 veröffentlichte Album setzte sich in vielen Ländern sofort an die Spitze der Klassikcharts. Jetzt ist „Mozart y Mambo“ erschienen. An diesem wunderbar leichten Berliner Abend, fernab vom Krisenmodus dieser Welt, legte das Orchester unter Leitung von José Méndez los. Hier ein „klassischer“ Mozart, dort kubanische Volkslieder, dazwischen fetzige Jazz-Improvisationen vom Feinsten, mittendrin die Weltbürgerin Sarah Willis, die mit Waldhornsoli und ihrem Mozart y Mambo-Projekt Herz und Seele verzauberte.

 

 

What a wonderful world! Lasst Musik sprechen. Eine andere, bessere Welt ist möglich.

post image

„Sein oder Nichtsein“

Die Hitlers kommen und gehen. Das Theater bleibt. Das ist die Geschichte von Sein oder Nichtsein. Shakespeare at its best. Polen, zu Beginn des II. Weltkrieges. Ein kleines Ensemble probiert, parodiert und präsentiert pointiert Hamlet. Das Team steht mit dem Rücken zur Wand, gibt alles, in den besten Momenten bringt es die Allmächtigen dieser Welt zum Wanken. So entsteht eine Parabel mit viel Galgenhumor, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. New York 1942. Vor genau achtzig Jahren, als die Nazis auf dem Höhepunkt ihrer Macht sind, feiert die Tragikomödie Sein oder Nichtsein Premiere. Im Mittelpunkt eine Theatergruppe im von Deutschland überfallenen und besetzen Polen. Der Film wurde damals kein Kassenschlager. Das Echo auf die Hollywood-Produktion von Ernst Lubitsch war geteilt. Die Hitler-Parodie wurde vielfach als geschmacklos bezeichnet. Heute heißt es über den Klassiker: „Der Antifaschismus war niemals witziger“.

 

 

Regisseur Ernst Lubitsch, ein deutscher Jude, war 1922 in die USA ausgewandert. Auf die Kritik antwortete er: „Ich gebe zu, dass ich die Nazis nicht so dargestellt habe, wie das Filme und Theaterstücke sonst tun, wenn sie Naziterror zeigen. Keine Folterkammer, keine Auspeitschung; meine Nazis sind anders: Brutalität und Tortur sind ihre Alltagsroutine. Sie reden darüber wie ein Geschäftsmann über den Verkauf einer Handtasche. Sie machen ihre Witze über das KZ und die Leiden ihrer Opfer.“ Lubitschs Film basiert auf dem Theaterstück „Noch ist Polen nicht verloren“ des ungarischen Dramatikers Melchior Lengyel. Der Plot handelt von einer Warschauer Schauspieltruppe, die in verschiedenen Rollen und Verkleidungen die deutschen NS-Besatzer überlisten will.

 

Ernst Lubitsch. Deutscher Regisseur in den USA. (*1892 in Berlin. 1947 in Los Angeles) Foto: Wikipedia

 

Im Mittelpunkt das Schauspielerpaar Joseph und Maria Tura. Joseph freut sich, auf der Bühne, statt einer abgesagten Hitler-Parodie mit Hamlet glänzen zu können. Doch merkwürdigerweise verlässt immer bei seinen entscheidenden Worten Sein oder Nichtsein ein junger Mann den Saal. Dieser Leutnant ist ein aktiver Widerstandskämpfer und pflegt ein inniges Verhältnis mit seiner Frau. Bühne frei für Verwechslungen und überraschende Wendungen mitten in der NS-Besatzung. Längst geht es für alle im Ensemble ums nackte Überleben. Lubitsch: „Ich hatte die zwei etablierten und anerkannten Rezepte satt: Drama mit entlastender komödiantischer Einlage und Komödie mit dramatischen Elementen. Ich wollte niemanden zu keinem Zeitpunkt von nichts entlasten: Es sollte dramatisch sein, wenn es die Situation verlangt, und Satire und Komödie dort geben, wo sie angebracht sind.“

 

 

Beispiel gefällig? Hamlet-Mime Joseph Tura trifft als Fake-Professor den Gestapo-Chef: „Sie sind in London sehr berühmt. Wissen Sie, wie man Sie nennt? Man nennt Sie Konzentrationslager-Erhardt.“ – „Ach wirklich? Tatsächlich?“ – „Also man nennt mich Konzentrationslager-Erhardt!“ – „Ich habe doch gewusst, dass Sie so reagieren!“ Um den Warschauer Widerstand aber auch sich selbst zu retten, muss das Ensemble alles geben – und buchstäblich um Sein oder Nichtsein spielen.  Tatsächlich gibt es ein Happy End. Das Team wächst über sich hinaus. Dem Ensemble gelingt das Stück des (Über-)Lebens. Lubitschs Film ist eine zeitlose Komödie über die Kraft der Kreativität in Zeiten einer übermächtigen Besatzungsmacht, die am Ende mit Mut und Witz ausgetrickst werden kann. Das Ensemble kann sich nach England retten. Sein oder Nichtsein. 80 Jahre jung und kein bisschen veraltet.