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Nur für Verliebte

Das märkische Rheinsberg. Ein Spätsommer-Wochenende im Jahre 1911. Claire und Wolf fliehen vor dem Lärm ihres täglichen Lebens aus der großen Stadt Berlin. Sie turteln im fritzischen Provinzstädtchen, genießen das Glück ihrer frischen Liebe. Die Anfang Zwanzigjährigen streifen durch Schloss und Park, rudern hinaus, kuscheln auf der Wiese und staunen abends im Wirtshaus über Stummfilme. Ein junges Paar und drei Tage reinen Glücks. „Das Schloss leuchtete weiß, violett funkelten die Fensterscheiben in hellem Rahmen, von staubigen Lichtern rosig betupft, alles spiegelte sich im glatten Wasser.“ Ein Jahr später, 1912. Das Kaiserreich feiert den 200. Geburtstag des großen Friedrich, genannt der Alte Fritz. Als junger Friedrich verlebt dieser gleichfalls in Rheinsberg seine schönste Zeit. Da erscheint die Erzählung: Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte. „Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben! Kraft! Kraft der Jugend!“ Die fröhlich-frivole Kurzgeschichte macht den 22-jährigen Kurt Tucholsky auf einen Schlag berühmt.

 

„Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“. 1912 Axel Juncker-Verlag Berlin. Tucholsky erzählt von einem Wochenendausflug mit seiner Freundin und späteren ersten Ehefrau Else Weil, genannt Claire Pimbusch. Als Tucholsky die Erstausgabe in der „Bücherbar“ in Berlin verkaufte, bekam jeder Käufer ein alkoholisches Getränk gratis.

 

Die reale Claire hieß Else Weil, eine Medizinstudentin. 1911 reist sie mit ihrem Kurt für ein Wochenende nach Rheinsberg. Im Mai 1920 heiraten sie. Die Ehe hält nicht lange, sie wird im März 1924 wieder geschieden. Tucholsky schmachtet: „Sei du die Welt für einen Mann, weil er nicht alle haben kann.“ Else Weil kontert: “Als ich über die Damen weg steigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.“ Alle Anekdoten, Schnurren und viel mehr erfahren heutige Rheinsberg-Reisende im kleinen, feinen Tucholsky-Literaturmuseum. Seit über dreißig Jahren kann der streitlustige Publizist Kurt Tucholsky im Rheinsberger Schloss besucht werden. Die Ausstellung erzählt von Aufstieg, großen Erfolgen und Niederlagen, aber auch seinem frühen Tod im schwedischen Exil. Tucholsky nimmt sich 1935 verzweifelt das Leben. Seine Rheinsberger Geliebte Else Weil wird 1942 in Auschwitz umgebracht.

 

Muss er Rheinsberg verlassen? Kurt Tucholsky. (1890-1935)

 

Rheinsberg liefert in diesen Tagen schlechte Nachrichten. Das Museum ist in Gefahr. Weil das Städtchen sparen muss und lieber eine Schule sanieren will, soll die Tucholsky-Heimstätte möglicherweise geschlossen werden. Museumsleiter Peter Böthig, als Schriftsteller in der DDR von der Stasi verfolgt, geht Ende Februar 2024 in Ruhestand. Der Gemeinderat beschloss, seine Stelle zu streichen und Tucholsky der örtlichen Tourismusinformation unterzuordnen. Das eigenständige Tucholsky-Museum mit viereinhalb Zeitarbeits-Stellen und einem Gesamtbudget von etwa 350.000 Euro ist bedroht. Das Wendekind hat seit Anfang der Neunziger mit Ausstellungen, Filmen und Lesungen rund 1,2 Millionen Besucher angelockt. Das Blaubuch der Bundesregierung führt das Literaturmuseum als „kulturellen Gedächtnisort mit nationaler Bedeutung“. Die Begegnungsstätte darf nicht lieblos abgewickelt werden. Oder wie Tucholsky bemerken würde: „Seid barmherzig. Das Leben ist schon schwer genug!“

 

Rheinsberg ist zu jeder Jahreszeit einen Ausflug wert. Foto: haraldmk

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Gehirnjogging

Wenn nichts mehr geht, hilft Bewegung. Raus an die frische Luft. Gehen genügt. Es heißt doch Ge-Danke. Geh! Danke! Oder eben Gedanke. Wenn mein Gehirn zu joggen beginnt, rattern Worte los wie Wut, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Krieg, Gewalt und Rückkehr ins Mittelalter. In Gottes Namen werden furchtbarste Verbrechen begangen. „Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung.“

Diesen wunderbaren Gedanken in Form eines Gebets verfasste 1942 der US-amerikanische Dichter Stephen Vincent Benét. Da stand die Welt in Flammen. Der II. Weltkrieg war auf seinem Höhepunkt. Drei Jahre und viele Millionen Tote später wurde Benéts Botschaft zum Leitgedanken der neuen UNO, der Vereinten Nationen. Auferstanden aus den Trümmern des Zweiten Großen Krieges. Benét erlebte die UNO nicht mehr. Er starb 1943 im Alter von 45 Jahren.

 

Längst vergessen: Der Schriftsteller Vincent Benét (1898-1943). Er verfasste  1942 mitten im II. Weltkrieg einen bestechenden Leitgedanken für die 1945 aus den Trümmern auferstandene UNO.

 

Jede/r spürt es: Der Optimismus verbrennt – unsere westlich-liberale Demokratie scheint ein Auslaufmodell zu sein. Dabei sind die ideenhistorischen Wurzeln unserer europäischen Aufklärung  im historischen Idealismus Hegels ausbuchstabiert. Der Kerngedanke: Der Gang der Geschichte folge der Entfaltung der Vernunft und ermögliche somit eine stetige Entwicklung zum Besseren. „Vorwärts immer – rückwärts nimmer.“ Das westliche Modell erschien seit dem Ende des Kalten Krieges als Sieger der Geschichte und wurde zum Normalfall definiert. Parlamentarische Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und soziale Sicherung, Pluralismus und Individualismus.

 

St. Agnes. Die Heiligenskulptur überstand den Atombombenabwurf in Nagasaki am 9. August 1945 nahezu unversehrt. Die Rückseite der Statue ist verkohlt. St. Agnes ist im Gebäude der Vereinten Nationen in New York zu sehen.

 

Doch Hegel ist lange tot. China antwortete mit einer Kombination aus Kapitalismus, starkem Staat und konfuzianischer Tradition. In den USA agitiert mit America First eine starke populistische Trump-Bewegung. Im Osten Europas sind Putin-Autokraten an der Macht. Eine Reaktion auf die Enttäuschung hinsichtlich der Folgen der Übernahme des westlichen Modells. Der Westen ist ein Licht, das erlosch, sagen viele.  Besser Putin und Orban statt Kant und Hegel. Mit der Covid-19-Krise verstärkten sich Tendenzen einer Entglobalisierung. Die Folge:  Die Welt hat sich in ein nervöses, krisenanfälliges, multipolares Tollhaus verwandelt. Der Globale Süden wirft im Verbund mit autoritären Staaten dem Westen Doppelmoral, Dekadenz und Entwurzelung vor.

„Öffentlichkeit ist die Bedingung für Gerechtigkeit“, sagte einst Immanuel Kant. Auch in aufgeheizten Zeiten bleibe ich diesem Kerngedanken des Philosophen aus Königsberg treu, wollen wir nicht in ein Mittelalter der Kreuzzüge zurückfallen. Konkret bedeutet das: Befreit Palästina! Von den Terrorkommandos der Hamas und Hisbollah. Befreit Israel! Von Netanjahu und seinen orthodoxen Siedlern. Denn es liegt an uns, unsere Welt nicht zu zerstören, sondern aus der Erde „einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung.“ Das galt 1945 und ist heute gültiger denn je.

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Trost

Wer schaut nicht manchmal verträumt in den Sternenhimmel? Wer sucht dort nicht nach Erleuchtung, Sinn und Hoffnung? Alles Hokuspokus, kontern Realisten. Aber wenn wir nicht mehr nach einem Sinn suchen, dann ist unsere Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben endgültig begraben. Es gibt Bilder, die strahlen. Bilder, die verzaubern und unsere Sehnsucht wecken. Caspar David Friedrich ist darin ein Meister. Er hat das gewisse Etwas, dieser urdeutsche Romantiker. Samuel Beckett nannte seine Werke die „einzig erträgliche Form der Romantik“. Walt Disney verkitschte seine Zeichentrick-Bambis im Caspar David Friedrich-Look. Nur Goethe konnte mit dem Maler aus Greifswald nichts anfangen. 1810 besuchte der Großdichter den Zeitgenossen Friedrich in seinem Dresdner Atelier. Der Dichter notierte ratlos in seinem Notizbuch, die Bilder seien ein „offenes Meer“. Fortan schickte Goethe die ihm zugesandten Bilder postwendend nach Dresden zurück.

 

Caspar David Friedrich. Zwei Männer in Betrachtung des Mondes. 1819/20. Öl / Leinwand, 35 x 44,5 cm. Staatliche Kunstsammlung Dresden. Inspiration für Becketts „Warten auf Godot“.

 

CDF wurde am 5. September 1774 in Greifswald geboren. Er starb am 7. Mai 1840 verarmt und vergessen in Dresden. Früh verliert er seine Mutter, danach seine Schwestern, mit dreizehn Jahren seinen Bruder Christoffer, der beim Versuch ihn zu retten selbst ertrinkt. Ein Trauma. Der junge Casper soll Kerzenzieher oder Seifensieder werden wie sein Vater, doch ihn fasziniert das Malen. Mit zwanzig Jahren beginnt er Malerei in Kopenhagen zu studieren, im Alter von 24 zieht es ihn nach Dresden. Dort bleibt er, um zeitlebens von der Küste zu träumen. Der pommersche Dickschädel züchtet Kanarienvögel und seine Neurosen. Mit über vierzig Jahren küsst er zum ersten Mal eine Frau. Die auserwählte Caroline Bommer wird sogleich seine Frau. Caroline über ihren Ehealltag: „Wenn er Himmel malt, darf man ihn nicht stören, das ist für ihn wie Gottesdienst.“

 

Mönch am Meer. Das Bild ließ Goethe 1810 ratlos werden.

 

Seine kreativste Phase hat der sonderbare Kauz bis 1835. In Dresden malt er seine heute weltberühmten Landschaftsbilder. Der Pinsel führt ihn in seine verlorene Kindheit, weiter zur frömmelnden Suche nach Gott und am Ende des Tages immer wieder in seine alte Heimat an die Küste von Pommern und Rügen. Im Alter von 51 Jahren attackiert ihn ein Schlaganfall, von dem er sich nicht erholen wird. Nach seinem Tod 1840 interessiert sich ein halbes Jahrhundert lang kein Mensch für seine Arbeit. Der Romantiker sei zu altmodisch, heißt es in der Kunstszene, einfach aus der Zeit gefallen. Erst mitten im I. Weltkrieg wird Caspar David Friedrich allmählich wiederentdeckt. Heute ist der arme Schlucker aus dem 19. Jahrhundert ein Superstar. Sein 250. Geburtstag im September 2024 wird vorab in Winterthur/Schweiz mit der großen Ausstellung „Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik“ (bis 19.11.23) gefeiert. Weiter folgen große Ausstellungen in Hamburg (ab 15. Dezember 2023) und im kommenden Frühjahr in der Alten Nationalgalerie Berlin. Später gastiert CDF in Dresden, Greifswald und Weimar. Im Frühjahr 2025 soll der Mann aus Greifswald das Metropolitan Museum in New York erobern.

 

Caspar David Friedrich: „Einsamer Baum (Dorflandschaft bei Morgenbeleuchtung)“. Inspiration für Rainer Maria Rilke.

 

Caspar David Friedrich ist für Florian Illies der „Maler der Stunde“. Der Autor beschreibt in seinem neuen Buch „Zauber der Stille“ CDF als Erfinder der Sehnsucht und bringt seine Bilder auf einen genialen Punkt. „Er atmet zeitlebens Natur ein, um sie als Kunst auszuatmen.“ Wie auch immer. Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Caspar David Friedrich kann Trost spenden. Weil er mein inneres Auge anknipst. Weil er mir Hoffnung auf eine heile und bessere Welt schenkt.

 

Selbstbildnis.

 

Kreidefelsen auf Rügen. Gemalt nach seiner Hochzeitsreise 1818.

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Liebesgrüße aus Russland

Seit mehr als drei Jahrzehnten reist der Potsdamer Frank Gaudlitz nach Russland. Im Gepäck: anfangs ein analoger Kleinbildapparat, später eine moderne Digitalkamera. Das Riesenreich hat den Fotografen nie losgelassen, berichtet er, dessen Alltag, spröder Charme und schleichender Verfall. Etappen des stürmischen Wandel hält er seit den späten Achtzigern mit seiner Kamera fest. Von Schwarz-Weiß bis Farbe. Gaudlitz fasziniert „die Weite des Landes, die das Schwere, das Tiefe hervorbringt.“ Und: „Es sind tolle, warmherzige Menschen“. Er schätzt das Land von Dostojewski, Gorki und Tschechow. Er weiß genau, dass es das Land der kleinen Leute ist, aber auch  der neureichen Oligarchen und Tschekisten mit Putin an der Spitze. Seine beeindruckenden Momentaufnahmen sind derzeit in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf in Berlin zu sehen.

 

Kadett in der Moskauer Metro. 2017. Foto Frank Gaudlitz

 

1988 reiste Gaudlitz in das Perestroika-Russland von Gorbatschow. Ein zweites Mal 1989. Da sind die Vorboten des Untergangs eines totgeweihten Systems zu spüren. Gaudlitz, Jahrgang 1958, sind Nähe und Unmittelbarkeit wichtig. Nichts an seinen Bildern wird arrangiert oder inszeniert. Geduldig wartet er auf den richtigen Moment. Der Potsdamer fotografiert auf Straßen und Plätzen, am Rande von Paraden und bei Hochzeiten, auf Bahnhöfen und Schwarzmärkten, in Fabriken und Sperrgebieten. 1992, bei seiner dritten Exkursion, findet er ein verändertes Land vor. Das Lächeln in den Gesichtern sei verschwunden, erzählt er. In der toxischen Goldgräberzeit der Jelzin-Ära war alles möglich:  Kometenhafter Aufstieg oder freier Fall in Armut, Apathie und Wodkasucht.

 

„Im Krieg bin ich geboren, im Krieg werde ich sterben. Mein Sohn hat in Sewastopol bei der U-Boot-Flotte gedient. Er wohnt in der Ukraine. Jetzt bekämpfen ihn seine eigenen Leute.“ Tamara C., 79 Jahre, aus Sokrjany, Ukraine, jetzt in Stolniceni, Moldau. Oktober 2022. Foto Frank Gaudlitz, 2022.

 

Bei seinen nächsten Reisen 2012 und 2017 hatte sich Russland ein weiteres Mal verändert. Im Alltag zeigen sich mehr Symbole von Pathos und Patriotismus. Alte Sowjetmuster blühen auf.  Selbst in der Ballettschule wird den Kindern militärische Erziehung nahegelegt. 2021 folgte der Fotograf den Spuren Alexander von Humboldts, reiste von St. Petersburg bis ins sibirische Tobolsk. Der zweite Teil von Omsk nach Astrachan war für 2022/23 geplant. Daraus wurde nichts. Putins Überfall auf die Ukraine stoppte alle Pläne. Seitdem sprechen die Waffen. Gaudlitz machte sich stattdessen in den einstigen Unionsrepubliken Moldau, Georgien und Armenien auf die Suche nach Kriegsflüchtlingen. Die Gesichter der Exilanten aus Russland und der Ukraine haben eines gemeinsam: sie sind von Angst und Trauer gezeichnet.

Was hat der Krieg mit den Menschen gemacht, frage ich den Potsdamer Fotografen zum Abschluss. „Putin hat ihnen die Zukunft genommen.“

 

Russische Emigranten nach ihrer Flucht in Tiflis, Georgien im Exil. April 2023. Foto Frank Gaudlitz

 

Frank Gaudlitz. Kosmos Russland. Kommunale Galerie Berlin-Wilmersdorf bis 5. November 2023.

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Kain und Abel

Nicht zu ertragen. Im Namen Gottes werden Menschen gequält, gefoltert, gefangengenommen, abgeschlachtet. Wie einst SS-Einsatzgruppen metzeln schwarzuniformierte Isadin-al-Kassam-Brigaden Juden nieder. Weltweit verbreitet mit Hilfe unzähliger Body- Handy- oder Dashcams. Ein stundenlanges Massaker am frühen Sabbat-Morgen des 7. Oktober 2023. Auf Straßen, in Kibbuzen, bei einem alternativen Nova-Festival. Dort hatten sich junge Menschen zum israelischen Wüsten-Rave „Sukkot Gathering“ getroffen, um bei Yoga, Goa-, Psy- und Trance-Techno in eine „Reise der Einheit und Liebe einzutauchen. An einem neuen und spektakulären Ort, der die beste Musik der Welt, außergewöhnliche und vielseitige künstlerische Darbietungen und viele andere atemberaubende Inhalte kombiniert“, so der Einladungstext. Für 260 junge Menschen wurde das Nova-Fest eine Reise in den Tod. Mittlerweile ist die Gesamtzahl der Toten in Israel auf 1.300 gestiegen. In Gaza sind – Stand: 14. Oktober 2023 – rund 1.800 Opfer zu beklagen.

Was in diesen Stunden folgt, ist alttestamentarische Vergeltung – gleichfalls im Namen Gottes. „Denn es ist Haschem, dein Gott, der mit dir geht, um deine Feinde zu bekämpfen, damit du gerettet wirst“. Mit diesem Gebet zieht die Israelische Armee IDF in die Schlacht, um alle Hamas-Terroristen zu „vernichten“. Die Gewaltspirale dreht sich weiter. Stopp! Wir schreiben das Jahr 2023. Warum bekämpfen sich Konfliktparteien im Namen des Schöpfers wie in den Kreuzzügen des Mittelalters? Mir fehlen die Worte. Wo ist Gott? Warum lässt er das zu? Das frage ich mich als gläubiger Dreiviertel-Christ. Woran kann ich mich klammern? Wer zeigt den richtigen Weg? Wo ist die Reset-Taste bei dieser Höllenreise?

Der britische öffentlich-rechtliche Sender Channel 4 hat einen nüchternen Bericht über den Ablauf des Hamas-Massakers in Israel veröffentlicht. Vorab eine Warnung! Es sind sehr verstörende Szenen zu sehen Doch kurz vor Ende flackert ein Hoffnungsschimmer auf. Ab ca. Minute 5 erzählt ein Rentnerpaar aus dem überfallenen Ort Ofahim, wie sie das Morden und Brandschatzen überlebt hat. Die beiden verwickeln die fünf Kämpfer in ihrem Haus in Gespräche. „Du bist mein Bruder. Wir wollen Frieden“, sagt die Frau in Todesangst. „Nein, ich bin nicht dein Bruder“, entgegnet der Hamas-Mann. Er hält seine Pistole an den Kopf des Hausherrn. Die Alten versorgen ihre Feinde mit Cola, Hühnchen und Reis. Stunden später kann sie die israelische Armee unversehrt befreien. Das Paar überlebt das Massaker. Ein Wunder? Ja. Wenigstens ein kleines.

 

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Putins Geburtstag

Am 7. Oktober 2023 feiert Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen 71. Geburtstag. Vor siebzehn Jahren, am 7. Oktober 2006 fallen an seinem Ehrentag gegen 17 Uhr vier Schüsse in einem Moskauer Treppenhaus. Die Journalistin Anna Politkowskaja wird direkt vor ihrer Wohnung ermordet. Mit Hilfe einer Überwachungskamera kann der unmaskierte Täter gefilmt und identifiziert werden, doch er wird von der Polizei nie gefasst. Der Mord ist das tragische Ende einer jahrelangen Verfolgung durch russische Sicherheitsbehörden. Bis heute gilt Anna Politkowskaja als eine der wichtigsten Kritikerinnen von Putins Regime. 2004 schrieb sie: „Russland steht davor, in einem von Putin und seiner politischen Kurzsichtigkeit gegrabenen Abgrund zu stürzen.“

 

Als ihre Mutter im Kugelhagel starb, war Vera Politkowskaja 26 Jahre alt und schwanger. In ihrem Buch Meine Mutter hätte es Krieg genannt“, beschreibt sie Anna als mutige, traurig-entschlossene, aber auch bisweilen strenge Mutter „Mit schlaflosen Augen“ habe sie unerschrocken über den grausamen Tschetschenien-Krieg berichtet. Sie schilderte wie Soldaten und Offiziere, Banditen, vor allem aber gewöhnliche Menschen in den Fleischwolf des Feldzuges gerieten. Anna deckte Amtsmissbrauch, Willkür und Korruption in Armee, Wirtschaft und im russischen Alltag auf. Kritisch begleitete sie Putins Aufstieg zum uneingeschränkten Herrscher. Vera über ihre Mutter: „Sie war fast immer Überbringerin schlechter Nachrichten“. Die unbequeme Kassandra hat Putin keine Sekunde vergessen. Die bis zur völligen Erschöpfung arbeitende Journalistin wurde zur Staatsfeindin. Vera zieht mittlerweile eine deprimierende Bilanz: Ihre vielen Berichte hätten am Ende „nichts geändert“.

 

Mit Anna Politkowskaja in Leipzig auf der Buchmesse. März 2005. Foto: Christiane Munsberg

 

Auch den Ukraine-Feldzug, so schätzt Vera Politkowskaja, unterstützen 75% der Russen, obwohl längst massenweise Gefallene in Polyäthylen-Säcken von der Front zurückkehren. Im Volksmund heißen die Transporte „Fracht 200“. Der Siegeswahn werde den Menschen durch ständige Propaganda in den Staatsmedien eingeimpft So werde der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis täglich beschworen. Dieser Kult sei barbarisch und bizarr. Was bringt die Zukunft?  „Nichts wird besser, wenn Putin weg ist“, sagt Vera.

 

Banksy. März 2022.

 

Was wird aus Russland? Die Opposition ist zerschlagen, verhaftet oder im Ausland. Mehr als sechzigtausend Kreative, Künstler und Dissidenten hätten das Land verlassen, heißt es. Niemand kennt die genaue Zahl. Zudem: Außerhalb des Moskauer Autobahnrings beginnt das eigentliche Russland. In den Weiten des riesigen Landes leben viele Menschen in Armut, nicht wenige von Kindergeld und Schwarzarbeit. Die Not ist groß. Kinder gehen nicht zu Schule. Sie sammeln Pilze, Fallholz, Beeren und Altmetall. „Im Dorfladen gibt es nur noch Fusel, gestreckten Glasreiniger“, notiert die Journalistin Jelena Kostjutschenko in ihrem gleichfalls neuen Buch Das Land, das ich liebe. Jelena bewundert die ermordete Anna Politkowskaja. Die junge Journalistin berichtete wie ihr großes Vorbild für die Nowaja Gaseta. Die letzte unabhängige Tageszeitung Russlands stellte im März 2022 wenige Wochen nach Kriegsbeginn ihr Erscheinen ein. Seit Putins Überfall lebt Jelena Kostjutschenko im Exil. Genau wie Vera Politkowskaja. Sie sind zwei von Hunderttausenden, die für das andere Russland stehen.

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Typisch Berlin

Rotz an der Backe? Na, und! Was soll´s? – Wirklich große Städte haben ihre eigenen Gesetze. Die Melodie lautet: Anonymität, Massen, Tempo, Vielvölkergemisch. Es ist bunt, laut, schmutzig. Was geht? Große Klappe, schräge Typen, merkwürdige Gestalten. Ein Käfig voller Narren: Außenseiter, Glückssucher, Selbstdarsteller. Der Bühnenvorhang öffnet sich jeden Tag. Die hektische Metropole mitten in der märkischen Streusandbüchse pflegt seit einem Jahrhundert, seit den schmutzig-goldenen Zwanzigern den Mythos von Babylon Berlin. Die Stadt an der Spree spült die besten und die schlimmsten Seiten der Menschheit nach oben. Freiheit und Toleranz vs. Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit. Wer regiert die Stadt? Die politische Elite? Lobbyisten? Springers Bild? Oder die Woken, der rot-grüne Latte Macchiato-Mittelstand? Oder vielleicht etwa Nationalisten, Clans und Strippenzieher im Hintergrund? Jeder nach seiner Façon, ist das Einzige, worauf sich Berlin einigen sollte, einst wie heute.

 

Hausnachrichten in Berlin-Neukölln.

 

Im Alltag prallen alle menschlichen Gefühlslagen aufeinander. Viele Emotionen haben sich längst in die Jagdgründe des Internets verlagert. Doch in Altbauten oder Plattenburgen, in engster Nachbarschaft gibt es umso mehr Gelegenheiten, worüber jede/r sich freuen, ärgern, anbandeln oder ausrasten kann. Überraschung: Die gute alte Zettelwirtschaft hält sich selbst im Chatbot-Zeitalter. Der gebürtige Münchner Joab Nist fotografiert und sammelt seit über einem Jahrzehnt solche Nachrichten an Türen, Hauswänden und Treppenhäusern. Es ist eine wunderbare Fundgrube. Der Neuköllner Nist schreibt: „Die Notizen sind wie die Menschen, die hier leben: direkt, laut, kreativ, tolerant, freiheitsliebend, skurril, einsam, romantisch und definitiv nicht auf den Mund gefallen. Und die Themen, die kommuniziert werden: Pure Alltagskultur in ihrer reinsten Form.“

 

Berlin. Prenzlauer-Berg.

 

Es geht um alles, was Menschen in nächster Nachbarschaft gemeinsam aushalten, erdulden und ertragen müssen. Laute Partys, falsche Klaviertöne, stinkende Katzenklos, geklaute Utensilien aller Art, heftige Liebesgeräusche bei offenen Fenstern, verschwundene Pakete, Müll. Kurzum: Die angeklebten Haus-Nachrichten künden von großen Kleinkriegen direkt vor der Haustür, von den täglichen Zumutungen, wenn Menschen (zu) dicht aufeinander leben und irgendwie miteinander klarkommen müssen. Eine Entdeckung: Notes of Berlin. Eine Seite, die jede Menge über das heutige Berlin und sein Personal erzählt. Im Guten wie im Schlechten. „Spiel endlich leiser, es nervt…!“

 

Berlin. Friedrichshain.

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Neue Wege

Es war ein 14. Mai. Mein Geburtstag. Doch als Rotterdam 1940 in Schutt und Asche gelegt wurde, war ich noch lange nicht auf der Welt. Erst achtzehn Jahre später sollte es so weit sein. Da waren die Trümmer von Rotterdam längst beiseite geräumt. Viele Städte in Europa erlitten das gleiche Schicksal. Dresden zum Beispiel im Februar 1945, oder Berlin. Der Krieg kehrte dorthin zurück, wo er angezettelt wurde. 1945 bauten die Holländer ihre zerstörte Stadt an der Maas wieder auf. Im Zentrum Rotterdams blieb nur die Ruine der Laurenzkirche (Laurenskirk) stehen. Verloren zeugte sie von einer gigantischen Zerstörungsorgie. Die Deutschen hatten Rotterdam in Grund und Boden bombardiert, um die Kapitulation zu erzwingen. 57 Bomber der I. Gruppe des Bombergeschwaders von Oberst Walter Lackner machten 2.6 qkm der Innenstadt dem Erdboden gleich. Mehr als 800 Zivilisten kamen ums Leben. Die Laurenskirk aus dem 16. Jahrhundert blieb. Sie wurde wieder aufgebaut.

 

Die Laurenskirk in Rotterdam, nach dem deutschen Bombenangriff vom 14. Mai 1940. Quelle: Wikipedia

 

Rotterdam ist die niederländische Stadt, die im II. Weltkrieg am heftigsten zerstört wurde. Damit hatten die Rotterdamer – ungewollt – die Chance, eine neue, moderne Stadt aufzubauen. Die Laurenskirk steht heute mutterseelenallein in einer Umgebung aus zugigen Plätzen, Fußgängerzonen, Hochhausburgen aus Beton und Glas. Wer enge Grachten und hübsche Patrizierhäuser sucht, ist in Rotterdam fehl am Platze. Trotz aller Modernisierungsschübe sind die Wunden des Krieges bis heute zu spüren. Es fehlt der Stadt etwas entscheidendes: die Seele. Tradition, Heimeligkeit, gemütliche Cafés und Plätze zum Verweilen wie zum Beispiel in Amsterdam sind Fehlanzeige.

 

Ein gelber Kubus-Riegel grüßt im neuen, modernen Zentrum von Rotterdam. Quelle: Wikipedia

 

Dennoch: Ein Häuserkomplex auf Stelzen unweit der Laurenskirk überrascht. Über einer riesigen, äußerst ungemütlichen Verkehrskreuzung schieben sich 51 gelbe Kubushäuser. Die Überbauung fällt sofort auf. Häuser würfelartig aufeinandergestapelt, auf bizarre Weise in sich verdreht und verschachtelt.  Dazu schräge, stürzende Außenwände. Sicher: Ein wenig ist die Anlage in die Jahre gekommen. Fast vierzig Jahre sind seit ihrer Fertigstellung 1984 vergangen. Doch die gelben UFO-Kisten mitten im geschundenen Zentrum zeugen von Mut und städtebaulicher Risikobereitschaft. Die laute Kreuzung wird gedeckelt. Im öffentlich zugänglichen Raum der ersten Etage finden sich erstaunlich lärmgedämpft Läden, Restaurants und ein Hostel, ein Kinderspielplatz und insgesamt 38 Wohneinheiten.

 

Neues Leben, mitten in der Stadt. Piet Bloms Kubushäuser in Rotterdam.

 

Küche mit stürzenden Wänden und Fenstern.

 

Eine Musterwohnung kann besichtigt werden. Der holländische Architekt Piet Blom orientierte sich am Vorbild eines Baumhauses. Auf drei Etagen sind 100 qm Wohnfläche aufgetürmt. Es geht wie in alten Grachtenhäusern über schmale, steile Treppen nach oben. Fit sollte man sein. Bilder aufhängen ist kaum möglich. Doch die Perspektiven auf die Stadt sind faszinierend. Ganz oben auf der Dachetage lohnt ein Panorama-360-Grad-Rundblick über Rotterdam, Hafen und die restaurierte Laurenskirk. Rotterdam ist längst aus Ruinen auferstanden. Die Kubushäuser stehen für eine Vision. Sie versprechen eine menschengerechte Stadt zum Leben und Wohnen. Es wäre schön, wenn nicht wieder vierzig Jahre vergehen, bis neue, zukunftsweisende Projekte auf den Weg gebracht werden. Rotterdam, oft als hässlich und seelenlos geschmäht, zeigt, dass es geht. Man muss nur neue Wege gehen.

 

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Wir sind Weltmeister

Acht Spiele, acht Siege. Ein deutsches Team ist zum ersten Mal Weltmeister. Kein hochbezahltes DFB-Fußball-Team. Weder Herren noch Damen. Keine Handballer, keine Leichtathleten, die ohne eine einzige Medaille bei der letzten WM blieben. Es ist eine deutsche Randgruppensportart: Basketball. Früher nur in Uni-Städten oder US-Stützpunkten gespielt. Die Vorbilder kamen aus den dem früheren Jugoslawien oder – ganz klar – aus den USA. Jetzt hat eine deutsche Auswahl die Lehrmeister des Sports besiegt. Erst gewannen die Deutschen gegen die USA, dann im Finale gegen Serbien. Eine Sensation, melden die Medien, die bis zum WM-Titel die Erfolge der Korbjäger konsequent ignoriert hatten. So läuft das Geschäft. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Plötzlich werden in unserer erschöpften Gesellschaft wieder Teamgeist und Leistungswille gefeiert. Basketball ersetzt ausgebrannte Fußballstars. Wie schön, wie wunderbar.

Höhepunkte aus dem besten Spiel der WM: Deutschland vs. USA. Halbfinale

 

Sport konnte schon immer Außenseitern eine Chance geben. Die Bereitschaft sich zu quälen, um besser zu sein, wird mit Aufmerksamkeit und Anerkennung entlohnt. Später mit Profi-Verträgen und sozialem Aufstieg. Basketball bleibt wohl in Deutschland weiter eine Schattensportart. Zwar haben viele aus der WM-Mannschaft in den USA oder in der Euro-League gut dotierte Verträge. Doch Kicker verdienen mittlerweile utopische Summen. Nur ein Beispiel: Für die 100 Mio. Euro, die Bayern München für Harry Kane hingelegt hat, könnte man etwa 21 Millionen Kinder ein Jahr lang ernähren. Vielleicht erklärt sich das fehlende Engagement der kickenden Stars für ihre Nationalmannschaften mit dem totalen Triumph des Kommerzes über Ideale, Sport und Mannschaftsgeist. Wenn am Ende nur das Ich zählt, dann geht es nur noch um die optimale Vermarktung.

 

Die Basketball-Kathedrale von Moerdijk. Aus einer Kirchenruine entstand 2019 ein Sportzentrum. Entdeckt in Süd-Holland.

 

Der Weltmeister-Titel der Basketballer setzt eine Begeisterung frei, wie einst bei den Fußballern in Bern 1954. Motto: Ihr müsst zusammenhalten und ein Team sein. Doch der Erfolg mobilisiert reflexartig digitale Miesepeter und Heckenschützen. In Internetforen wird gegen farbige Spieler im deutschen Team gestichelt und gehetzt. Gott bewahre! Was für armselige Kleingeister! Ohne diese Mischung hätte das Team nie eine Chance gehabt. Isaac Bonga ist in Neuwied geboren. Sein Vater stammt aus dem Kongo. Johannes Thiemann stammt aus Trier, sein Vater kommt aus Kamerun. Zu ihm hat er nur wenig Kontakte. Superstar Dennis Schröder ist in Braunschweig aufgewachsen. Seine Mutter führte in Gambia einen Friseursalon. Der Vater ist Deutscher. Sein Talent hat ihn in die beste Liga der Welt geführt: in die NBA der USA.

 

Mit der Künstlerin Elvira Bach und ihrem Sohn Maodo Lo im Kreuzberger Atelier.

 

Maodo Lo ist ein typischer Berliner Junge. Sein Vater aus dem Senegal studierte an der Spree. Er verliebte sich in die Künstlerin Elvira Bach. Maodos Mutter ist eine renommierte Malerin, ihre Ideen setzt sie in einem Kreuzberger Atelier um. Elvira Bach hat ihren Sohn nie zum Training geschickt. Heute malt sie ihn und ist von seinem Erfolg begeistert. Was zählt im Leben? Selbstvertrauen plus Teamgeist. Besonders Jugendliche aus Brennpunktbezirken können davon profitieren. Streetball, „der kleine Bruder“ vom Profi-Basketball, wird genau dort gespielt, wo sich niemand um Kids kümmert. Der Ball muss in den Korb. Das ist entscheidend. Niemand trifft immer. Aber es gibt stets die zweite Chance. Im Basketball wie im Leben.

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Ach, lass liegen!

Aufräumen, To-do-Listen abarbeiten, Lästiges erledigen. Oh, Gott! Ordnung ist das halbe Leben, sagt der Volksmund. Über die andere Hälfte hat sich Nele Pollatschek  Gedanken gemacht. Die streitbare und talentierte Journalistin beschäftigt sich in ihrem neuen Buch „Kleine Probleme“ mit der Last des ständigen Aufschiebens. Wer kennt das nicht?  Im Mittelpunkt steht ein 49-jähriger Lars. Durchschnittstyp, verheiratet, eine Tochter. Der Vorstadt-Schluffi hat – genau genommen – nur YouTube studiert. Er ist keine Trans, kein cooler, queerer Zeitgenosse. Er ist eine Stimme, die schon lange nicht mehr gehört wird. Auch Lars sucht den Weltrettungsknopf, träumt von einer Karriere als Bestsellerautor oder wenn es dazu nicht reicht, wenigstens vom Aufstieg zum Homeshopping-Milliardär.

 

Wäre es niicht an der Zeit, ein paar Dinge in Ordnung zu bringen?

 

Nele Pollatschek kümmert sich um Durchschnittsmenschen. Das ist gegen den Trend. Für sie ist ihr Held Lars „ein alter Sack, der in einem Drecksloch sitzt und raucht und davon erzählt, was er morgen machen wird.“ Aufräumen ist eine Qual. Dreizehn Punkte muss er bis zum Jahresende unbedingt erledigen. Steuererklärung, Wohnung putzen, Bett für die Tochter zusammenschrauben, Lebenswerk schreiben, mit dem Rauchen aufhören, Klima retten. Nicht mehr prokrastinieren, nichts mehr aufschieben. Zauberwort und Kernproblem der Instagram-Generation. „Wie beschissen ist es bitte, wenn alle Türen offenstehen und man trotzdem stehenbleibt.“ Pollatschek erzählt vom Wunsch nach Perfektion, dem “Nudelsalat mit Geschmacksexplosion“ und der kinderleichten Steuererklärung. Sie breitet uns die Dramen des Alltags aus. Ein Leben zwischen Ordnung und Chaos, mal profan, mal hoch-Philosophisch, irgendwo zwischen Tragik und Komik. Motto: Spannend ist, was nicht funktioniert.

 

Nele Pollatschek, Jahrgang 1988, schreibt gerne gegen den Strich. Foto Wikipedia

 

Pollatschek balanciert in „Kleine Problem“ souverän zwischen wokem Zeitgeist und der Sehnsucht der normalen Smartphone-Junkies, die wir längst alle sind. Stets auf der Suche nach dem Kick, nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Wisch für Wisch, unterwegs mit, Google, Tinder und YouTube. Ach, wenn nur nicht das versiffte Bad zu putzen wäre oder die Sache mit der Beziehung, die endlich angegangen werden muss. Zu guter Letzt: Das Finanzamt wartet. Mist: „Eine Steuererklärung ist wie eine Schachtel Pralinen, nur ohne Schokolade. Man greift in die Belege und weiß selbst nicht, was man bekommt.“

Nele Pollatschek erblickte ein Jahr vor dem Mauerfall in Ost-Berlin das Licht der Welt, zog in die Welt hinaus, studierte an britischen Eliteunis. Sie schreibt frohgelaunt gegen den Strich. Die 35-jährige SZ-Autorin bevorzugt das generische Maskulinum. Durch die weibliche Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“ fühle sie sich auf ihr Geschlecht reduziert: „Wer aus meinem ‚Schriftsteller‘ ein ‚Schriftstellerin‘ macht, kann auch gleich ‚Vagina!‘ rufen.“

Nele Pollatschek. „Kleine Probleme“. Galiani. Macht Spaß. Ab 7. September 2023.