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Auf ein Neues

Es ist für die meisten von uns üblich, zu reisen. Weit weg. Unterwegs zu sein. Rund um den Globus. In ferne Länder, auf andere Kontinente, bis ans Ende der Welt. Es gehört für viele zum Standard, ständig neue Orte, Menschen und Kulturen kennenzulernen. Die letzte Zeit hat uns gelehrt, dass plötzlich alles sehr anders sein kann. Angehaltene Zeit. Ruheloser Stillstand. Nun sehen wir jeden Tag immer wieder dieselben Menschen, Straßen, Plätze und Orte. Die Pandemie hat unseren Radius verkleinert.  Wenn es uns gelingt, diese vertrauten Menschen, Straßen und Häuser auf eine neue Weise zu entdecken, schreibt der norwegische Autor Tomas Espedal, ist dieser veränderte Blick eine ganz neue Art derselbe zu sein.

Ist doch eine Idee.

 

Alles Gute für 2022.

Viele neue Entdeckungen in nah und fern.

 

Für 2022 Glück, Gesundheit und viele gelassene Tage und Stunden.

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Schau mal

Sie reist gerne. Ein Notizblock ist immer dabei. Was ihr unterwegs auffällt, zeichnet sie. Es sind erste Eindrücke und Ideen, die zu Skizzen oder Entwürfen werden. Manche Anregungen werden zu eigenständigen Werken, die meisten landen im Papierkorb. Die Malerin Cornelia Schleime schaut ganz genau hin. Aus ihren Begegnungen werden Bilder, die eine eigene Sprache sprechen. Porträts vor allem. Ihre Bilder sind ein Akt der Verlangsamung. So kann sie festhalten, was sie wirklich spannend oder aufregend findet. Ihre Frauen sind Spiegel einer überreizten und vergnügungssüchtigen gleichwohl erschöpften wie gelangweilten Gesellschaft. Kann eine Künstlerin mit 68 Jahren noch Punk sein? Cornelia Schleime: „Warum nicht? Ich habe mir meine Wut erhalten.“

 

Cornelia Schleime. Drei Schritte und ein Atemzug. 2021

 

Die Ost-Berlinerin lernte Friseurin, jobbte als Pferdepflegerin. Dabei wollte sie mit 17 Jahren Künstlerin werden. Doch die DDR, in der sie aufwuchs, setzte enge Grenzen. So probierte sie sich aus: als Grenzgängerin. Sie war Punkband-Frontfrau, Friedhofwächterin, Aktmodell und Fotografin. Sie studierte Malerei in Dresden, lernte mit 18 Sascha Anderson kennen, der die Ost-Untergrund-Szene anführte und an die Stasi verriet. Seine Freundin Conny gleich mit. Schleime hatte Berufsverbot, als sie mit dreißig das kleine DDR-Land mit dem großen Anspruch verließ. Das war 1984. Sie reiste „mit Sohn Moritz, einem Koffer und einem Federbett“ nach West-Berlin aus. Zurück blieben rund 100 Ölbilder und 1.000 Zeichnungen, die bis heute nicht mehr aufgetaucht sind.

 

Cornelia Schleime. Kalte Schulter II, 2015

Neu anfangen. Sich nichts vorschreiben lassen. Den eigenen Weg gehen. Ihr Motto: „In der Kunst bin ich die Domina“. Sie eckt weiter an, weil der westliche Kunstbetrieb andere, subtile Grenzen kennt. Hier wird eine Fertigkeit verlangt, die im Osten nicht gelernt wurde: Die Kunst der Selbstvermarktung. Sie bereist die Welt, von New York bis Indonesien, von Kenia bis ins Ruppiner Land. Dort lässt sie sich nieder. Mit Hund, Katzen und Nachbarn, die misstrauisch über den Zaun schauen. „Ich bin nicht in der Berliner Szene. Ich bin gerne allein. Ich brauche die Ruhe, damit die Kunst aus mir herauskommt“. Was denken die Dörfler über den zugeflogenen Paradiesvogel? Sie schweigen, aber sie akzeptieren mich, meint Schleime: „Ach. Ich sage, was ich denke. Das verstehen die Leute.“ Und noch etwas fällt ihr auf: „Die Städter geben sich vital, sind aber melancholisch. Die Brandenburger geben sich starrköpfig, sind aber viel schlauer und flexibler.“

 

 

Cornelia Schleime.Ich sehe was, was ihr nicht seht. 2003.

 

So schreibt sie Geschichten, aus denen ihr fröhliches Kichern, Klappern und Küssen tropft. „Weit fort“, zum Beispiel, ihre Lebensgeschichte als Roman, als Einstieg sehr zu empfehlen. Und sie malt, was das Zeug hält. Auch den Papst, wenn es sein muss. Den polnischen Wojtyla, der an Parkinson litt. Conny Schleime war als junges Mädchen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Sie bleibt sich treu. Nimmt kein Blatt vor den Mund. Ihre Porträts erzählen von selbstbewussten, ungebrochenen Menschen, die nicht aufgeben. Der Blick ihrer meist weiblichen Heldinnen ist in die Zukunft gerichtet. Sie schauen uns an: Was wird? Die Antworten sollen wir selbst finden. Cornelia Schleime malt weiter, weil die Kunst ihr Leben ist. So wichtig wie das Licht und unser tägliches Brot.

Cornelia Schleime. Drei Schritte und ein Atemzug. Galerie Schlichtenmaier. Stuttgart. Bis 7. Januar 2022

 

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„Meine ersten 100 Jahre“

Vor kurzem war ein weitgereister, älterer Herr zu Besuch in Wien, in seiner Geburtsstadt. Georg Stefan Troller. Autor, Filmemacher und Weltbürger mit amerikanischem Pass und Wohnsitz in Paris. Sein neues Buch wollte er persönlich vorstellen, das ließ er sich nicht nehmen. Titel: „Meine ersten 100 Jahre“. Natürlich wurde er sofort gefragt, wie sich denn die heutigen Zwanziger Jahre anfühlen. Troller: „Da ich die alten Zwanziger und Dreißiger erlebt habe, bin ich persönlich etwas pessimistisch”, sagte er. “Es kommt wieder eine Zeit, in der die Leute lieber glauben wollen als wissen, sich lieber einer schönen Illusion anheimgeben, als sich der miesen Realität zu stellen.”

 

 

Miese Realität und schöne Illusionen. Troller hat sich stets für beide Seiten interessiert – als Menschenfreund und Menschenfresser, wie er sich einmal nannte. Für seine Fernsehporträts hat er über 2.000 Interviews geführt, mit Herz und Hirn. Troller besuchte die Berühmten des 20. Jahrhunderts, die Stars und Sternchen, die Mächtigen und Eitlen, aber auch Außenseiter und Unangepasste wie einen kriegsversehrten Vietnam-Veteranen oder den Ost-Berliner Schriftsteller Thomas Brasch.

 

 

Troller, 1921 geboren, ist ein waschechtes Wiener Kind. Der Sohn eines Pelzhändlers wächst in einer Metropole der Melancholie auf, der Glanz der alten K.u.K.-Zeit der Habsburger ist verblichen. Jüdisch-spießig beschreibt Troller seine Kindheit. Die Eltern sind ehrgeizig, aus dem Bub soll was werden. Motto: „Tu was für deine Bildung!“ Als die Nazis 1938 Wien übernehmen, kann die Familie in letzter Sekunde nach Frankreich flüchten. Später emigriert Troller in die USA, um als amerikanischer Soldat ins zerstörte Nazi-Reich zurückzukehren. Hassgefühle hegt er nicht, allenfalls Verachtung für diejenigen, die uneinsichtig bleiben.

Das neue Fernsehen der Nachkriegsjahre wird sein Medium. Über ein halbes Jahrhundert sammelt er Geschichten ein. Unbestechlich und mit genauem Blick. Er dreht über 150 Porträtfilme, trifft Romy Schneider oder Woody Allen. Seine Begegnungen sind stets anders, immer ungewöhnlich. Wenn es sein muss, interviewt er Undergroundpoet Charles Bukowski auf dem stillen Örtchen. Oder fängt sich von Boxerlegende Muhammad Ali für sein freches Nachfragen ein paar Hiebe ein. Filmemachen sei für ihn wie eine Therapie gegen Kontaktscheu und das Gefühl, das eigene Leben sei nichts wert. Seine Arbeiten sind zeitlos sehenswert, ein Stück Fernsehgeschichte. Sein Geheimnis? Er hat die Wirklichkeit nicht glattgebügelt, sondern mit Humor und Menschenliebe einen Blick hinter die Oberfläche riskiert, auf das Absurde und das Grundsätzliche.

 

 

Was macht das Leben aus? Er sagt: Die Summe der intensiv erlebten Augenblicke. Troller hat sie eingefangen, wie kein anderer. Nun hat er seine Autobiografie veröffentlicht: „Meine ersten 100 Jahre“. Das passt. Typisch Troller.

 

Georg Stefan Troller in: Zeugen des Jahrhunderts mit Gero von Böhm.  2016

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Zauber des Anfangs

„Ich bin ein Mädchen. Ein Baum in der Sonne. Eine Blume aus dem Himmel. Ich bin eine Botschafterin aus dem Land der Hoffnung. Ein Vogel, der immer singen wird. Ich stehe auf gegen Unterdrückung.“ So heißt der Refrain in einem afghanischen Kinderlied über einen Neuanfang nach Krieg, Chaos und Zerstörung. Es wird nicht mehr gesungen. Der Kinderchor des „Afghanistan National Institute of Music“ ist seit August 2021 verstummt. Wo man singt, da lass dich nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder. So lautet ein deutsches Sprichwort. Doch wer braucht nicht etwas, was einen trägt? Es kann ein Lied sein, das uns Menschenkindern hilft, über uns selbst hinauszuwachsen. Oder eine Idee. Oder einen Moment, der einen herauszieht, aus Angst, Not oder Verzweiflung. Jeder und jede sehnt sich danach – nach einer Berührung, die unsere Seele weckt. Wir brauchen geistige Zugpferde, um zu wachsen. Wir müssen nur beginnen.

Vielleicht hilft ein Gedicht. Es kann auch gesungen werden. Den Auftakt wage ich mit den Stufen von Hermann Hesse und seiner Botschaft vom Zauber des Anfangs. Und vom Herzen, das gesunde. Gewidmet den Mädchen aus der Musikschule von Kabul.

 

 

Stufen. Hermann Hesse. 1941. Geschrieben nach langer Krankheit.

 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

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Ein weites Feld

Buchhändler Kaspar hat eine Menge erreicht. Er hat seinen Traumjob, ist an der Welt interessiert und wähnt sich in der Regel auf der richtigen Seite. Nur mit seiner Frau, da läuft alles schief. Seine erste große Liebe stirbt früh, an Alkohol, Kummer und Verzweiflung. Die Frau, die der Mann aus dem rheinischen Westen im Osten kennengelernt hatte. Auf dem Bebelplatz in Berlin-Mitte, während eines FDJ-Treffens in den Sechzigern. Birgit, so heißt sie in Bernhard Schlinks neuem Buch „Die Enkelin“, ist strahlend, schlagfertig, einfach anders als die anderen. Nicht ideologisch borniert, sondern offen und neugierig. Er organisiert einen Fluchthelfer. Sie lässt die DDR zurück und ihre Tochter. Das verschweigt sie bis zu ihrem frühen Tode. Kaspar fällt aus allen Wolken. Er macht sich auf die Suche nach der unbekannten Tochter.

 

Die verschwiegene Svenja wächst in einer SED-treuen Familie auf. Auch sie erfährt hier nur ein kurzes Glück. Sie flüchtet wie ihre Mutter. Nicht in den Westen, sie begehrt im Osten auf. Nimmt im Nachwende-Land Drogen, surft in der S-Bahn und verprügelt Menschen, die anders aussehen oder nicht in ihr Weltbild passen. Sie heiratet einen rechten Siedler, zieht zu ihm aufs Land. Sie hält den Holocaust für ein „Wessi-Ding“ und feiert Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess als Märtyrer. Svenja rebelliert nicht aus Sattheit, auch nicht aus Langeweile oder weil es gerade cool ist, sondern weil sie es ernst meint. Die völkischen Eltern nennen ihre gemeinsame Tochter Sigrun. Auch sie ist ein heranwachsendes Mädchen, das stolz ist auf ihr Land und die Tagebücher der Anne Frank für eine Fälschung hält. Sigrun ist die Enkelin des Buchhändlers.

Bernhard Schlink gehört zu den Autoren, die bei ihren erzählerischen Abenteuern in die Abgründe des Alltages aufmerksam in den Rückspiegel schauen. Dort entdeckt er Beunruhigendes. Schon lange kümmert sich der Jurist und Bestseller-Autor („Der Vorleser“) um die Frage, was sich im rechten Spektrum zusammengebraut hat. Die Szene der völkischen Siedler ist ein großes, weites Feld. Es reicht von Impfgegnern über Verschwörungsanhänger bis zu einem militanten rechten Kern, der Gewaltmärsche organisiert und sich auf den Tag X vorbereitet. Die Völkischen haben ihre eigenen Foren und Codes. Bei ihnen heißt es Handtelefon statt Handy, Weltnetz statt Internet. Denn: „Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache“. Bei aller Volkstümelei sind sie jedoch vernetzt von Bautzen bis Boston. Von Bologna bis Budapest.

 

Jurist und Autor Bernhard Schlink. „Wiedervereinigung noch nicht vollendet.“ Foto: Diogenes

 

Der Großvater kämpft um die Seele der verlorenen Enkelin. Er will Sigrun zurückgewinnen. Er holt sie vom Land, zeigt ihr seine Buchhändler-Welt. Er setzt auf Bach, Brahms und Beethoven. „Du hast ein Ohr für Musik, Sigrun, und Hände fürs Klavier. Du hast etwas Besonderes, etwas Kostbares – lass die Politik raus.“ Mach was aus deinem Leben, fleht der Mann des Wortes. Das Klavierspiel als Ausstieg aus der Welt der völkischen Siedler mit ihrem Hass und ihren Hakenkreuzen, gepierct am Ohr, getragen bei Gemeinschaftsfeiern unterm wallenden Haar? Es hat etwas Berührendes, wie Schlink seinen Buchhändler auf die Ideale von Goethe und Schiller setzen lässt. Die Aufgabe der Deutschen sei nicht die Entfaltung von Macht und Zerstörung, sondern die Erneuerung und Weiterentwicklung von Kultur. So will er die Enkelin aus dem Reich der rechten Verführer entreißen. Mit Bach und Rilke. Ob das gelingt? Es lohnt sich, dem versierten Erzähler Bernhard Schlink bis zur letzten Zeile zu folgen.

Bernhard Schlink. Die Enkelin. Diogenes.

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„Drei-Treppen-hoch-Leute“

Eine schöne Wohnung. Hell, geräumig, bezahlbar. Mitten in Berlin. Am besten mit Dachterrasse. Blick auf Fernsehturm, Park und Spree. In der verkehrsberuhigten, begrünten Straße Kneipe, Club und in der Nähe einen gepflegten Italiener. Dazu nette Nachbarn. Hausfeste. Stets ein Parkplatz vor der Tür. Wenn´s sein soll, Nightlife – bis der Arzt kommt. Wer will das nicht? Alles eine Frage des Portemonnaies. Wer zahlungskräftig ist, kann in der Hauptstadt eine Menge haben. Der Boom will nicht enden. Wer nicht mithalten kann, hat Pech gehabt. Alles neu? Von wegen. Geschichte wiederholt sich.

 

Theodor Fontane gehörte mit seiner Familie zu den „Trockenbewohnern“ in Berlin. Kunstdruck: Jürgen Wölk

Der Mann – ein renommierter Dichter, aber knapp bei Kasse – ist Anfang fünfzig, im besten Alter. Frau, vier Kinder. Die Familie ist „Trockenbewohner“ einer feuchten Parterrewohnung am Landwehrkanal. Der Eigentümer, ein Holzhändler, erhöht kräftig die Miete. „Geht nicht anders. Ich will auch vom Leben was haben.“ Der arme Poet bittet um Gnade. Es hilft kein Betteln, kein Klagen. Die sechsköpfige Familie in der Tempelhofer 51, parterre, muss raus. Wir schreiben das Jahr 1871. Berlin ist im Gründerrausch. Der gekündigte Parterrebewohner heißt Theodor Fontane. Nun beginnen seine mühsamen Wanderungen auf dem Wohnungsmarkt.

Nur wenig später, im März 1872 müssen die Fontanes auch ihre nächste Bleibe am einstigen Anhalter Bahnhof in der heutigen Stresemannstraße verlassen. Wieder zu teuer. Familie Fontane macht ein weiteres Mal Bekanntschaft mit drastischen Mietsteigerungen, Verdrängung und herzlosen Vermietern. Fontane schreibt an seine Freundin Mathilde von Rohr: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon schrieb, dass unser Haus verkauft ist, dass die Mieten mindestens verdoppelt werden, und dass wir alle ziehen.“

 

 

Am 3. Oktober 1872 ziehen die Fontanes in die Potsdamerstr. 134 c. Drei Treppen links. Hier tanzen Kakerlaken auf den Dielen. Es stinkt erbärmlich. Sohn Friedrich beschreibt die neue Bleibe als schäbig und furchtbar heruntergekommen. Egal. Die Familie wohnt nun immerhin im Vorderhaus. Doch die Vormieterin, eine ältere alleinstehende Frau muss weichen. Sie zischt beim Auszug dem neuen Nachmieter Fontane zu: „Na, Freude soll er hier nicht erleben.“ Fontanes sind von nun an „Drei-Treppen-hoch-Leute“. Fontane ist zufrieden. „Drei Treppen hoch wohnt sich´s gut“. Der soziale Aufstieg. Hier schreibt er seine letzten großen Romane über den Untergang einer ganzen Epoche. Effi Briest lässt grüßen. Hier bleibt der Mieter Fontane bis zu seinem Tode 1898.

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Wenn der Schuh drückt

Es riecht nach Leder und nach frischem Kleber. Endlich geschafft! Ein Schuster, der noch besohlt. Mittlerweile sind Handwerker gefragt wie eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt. Schuhmacher sind mindestens so begehrt wie faire Vermieter. Schnaufend erbarmt sich Meister Luschanski aus dem hinteren Teil seiner kleinen Werkstatt in den Verkaufsraum. Mit Kennerblick zieht er seine buschigen Augenbrauen kraus, als er meine desolaten Treter auf dem Ladentisch begutachtet. Es ist ein dänischer Markenschuh, keine Billigware. Er ist mir an den Fuß gewachsen. Ich will mich nicht trennen. Die Gummi-Sohle hat sich an der Schuhspitze aufgerollt. Akute Solpergefahr. Mmh, meint der Meister. „Alles Plastik! Keine Qualität. Das hält höchstens drei, vier Jahre.“ – „Vor genau zwei Jahren gekauft“, entgegne ich. „Sehnse, das ist das Elend. Ein Wegwerfartikel.“

 

 

Ich bereite mich auf das Schlimmste vor. Ich muss wohl Abschied nehmen von meinen bequemen Fußgefährten. „Macht 89 Euro! Mit Ledersohlen, die auch halten“, sagt der Meister und sieht meine überraschten Augen sprechen. „Gut. Ich mach´s für 80,-. Gegen Vorkasse aber nur in bar. Kartengerät habe ich nicht. Zwei Wochen Wartezeit. Ich habe viel zu tun.“ Ein „Noch“ schiebt er rasch hinterher. Schuster seien ein aussterbender Beruf, wie früher die Kohlekumpel. Die Zeiten seien längst vorbei, als es für seinen Berufsstand hieß „Handwerk hat goldenen Boden.“ Dann legt er los. Erzählt, dass er von einigen anhänglichen älteren Herrschaften aus den besseren Berliner Vierteln lebe, die ihre Schuhe bis zu zwölf- oder dreizehn Mal besohlen lassen. „Gute Schuhe können ein Leben lang halten“, betont er. „Drei bis vier Paare reichen. Mehr braucht kein Mensch“. Aber die Generation Greta trage nur noch Turnschuhe oder Sneakers. Die landen zum Saubermachen in der Waschmaschine, wenig später im Mülleimer.

 

Schuhe zum Lüften. Gesehen in Flensburg.

 

Tja. So ist das, sagen seine Augen. Er prüft noch einmal die kaputte Plastiksohle. Dann lehnt sich der Meister über den Ladentisch. Nachhaltig soll alles sein, erklärt er, die Umwelt wolle man schützen, aber die Menschen trügen heutzutage zusammengeklebte Plastiktüten um die Füße. Gesund sei das nicht. Nicht für die Füße. Nicht für die Umwelt, nicht für den Mittelstand, der noch repariert und bewahrt. Schuhmacher befänden sich auf verlorenem Posten. Von der eigenen Hände Arbeit könne keiner mehr richtig leben, sprudelt es weiter. Vielleicht wird aus seinem Laden bald ein Sushi-Lieferservice oder ein Späti.

 

Frisch besohlt? – Nur gegen Vorkasse.

 

Ob er Hoffnung habe, dass sich was ändere? Meister Luschanski lacht kurz laut und gallig auf. „Christian Lindner verspricht uns ja alles. Aber am Ende denkt er nur an sich selbst. Kannste abhaken!“ Ich gebe ihm meine Anzahlung. Er überreicht mir den Abholschein wie eine Reliquie und dankt für mein Vertrauen. Ach, was für ein schönes altmodisches Wort: Vertrauen.

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Wünsch Dir was

Die Landstraße wird schmaler, die Wiesen werden weiter. Kraniche ziehen am Himmel vorbei. Irgendwann hinter abgeernteten Kornfeldern taucht das unscheinbare Lögow auf. Ein kleines märkisches Dorf im Nordwesten Brandenburgs zwischen Neuruppin und Kyritz. Eine gute Autostunde von Berlin entfernt. Am Dorfanger neben der Feldsteinkirche steht ein langgezogenes, geducktes Haus. Knapp 350 Jahre ist es alt, jedoch frisch und hübsch renoviert. An einem der Fenster zur stillen Schulstraße Nummer 2 hängt ein kleines Schild. Dorfkino Lögow. Hereinspaziert! Im alten Klassenzimmer der ehemaligen Schule laufen neue Filme aus aller Welt.  In Lögow befindet sich das kleinste Kino Brandenburgs. Ein Kleinod mit Katze, Glockenläuten der Kirche von nebenan, 16 Plätzen auf gepolsterten Kinositzen und breiten Sofas von Oma.

 

Film ab. Das Dorfkino Lögow ist Brandenburgs kleinstes Programmkino.

 

Klein, aber fein. Das ist das Konzept von Andreas Hahm-Gerling. Der Kino-Narr hat Fotografie- und Film in Bielefeld studiert und später selbst einmal einen Film gedreht. Er war jedoch eher als Kritiker für Zeitschriften unterwegs. Das Dorfkino in Lögow ist sein großes Wagnis, sein ganz spezielles Kind. Seit Anfang Januar 2019 lockt er Gäste mit einer Kino-Leinwand, Popcorn, Getränken und kostenlosen Salzstangen in sein kleines Kino der großen Gefühle, ganz am Ende der Welt. Die Atmosphäre ist fast wie zuhause auf dem Sofa und doch anders. Vorführungen gibt es donnerstags und freitags. Kinderkino sonntags. Hahm-Gerlings Versprechen: „Programmkino, Dokumentarfilme, internationale Filme. Mitmach-Kino: Kinder-Kino, Frauen-Kino, Kochen und Kino. Musik und Kino“. Für jede(n) soll etwas dabei sein. Vor allem sind ihm Austausch, Begegnungen und Kommunikation wichtig.

 

 

Etwas Besonderes des Schmuckstücks in der Kyritzer Provinz ist das sogenannte Privatkino. Besucher können sich ihre Filme selbst wünschen. Oder den Saal für eine Vorführung mieten. Soweit irgend möglich, werden Wünsche erfüllt. Natürlich ist die Pandemie den ambitionierten Plänen dieses Mini-Programmkinos mächtig in die Parade gefahren. Der Corona-Stillstand traf Lögow unmittelbar nach dem ersten vielversprechenden Auftaktjahr. Durchhalten lautet daher jetzt die Devise. Filme in Gemeinschaft sehen und erleben ist das Konzept. Gespräche über das Gesehene sind das große Plus dieses familiären Kinos im Klassenzimmerformat. Zehn Besucher pro Film kommen derzeit im Schnitt. Und noch eine Lögower Spezialität: Vorgeführt werden die durchweg neuen und anspruchsvollen Filme wie „Ich bin dein Mensch“ oder „Der Rausch“ auch dann, wenn nur ein einziger Besucher die ehemalige Schule von Lögow besucht. Dann heißt es im Dorfkino exklusiv: Vorhang auf, Licht aus und: Film ab.

 

Kino mit Kirchenglocken. Das kleine Lögow lockt mit großer Kunst.

 

Reservierungen online unter  Dorfkino Lögow.

Die Kunst des Verhüllens

Paris genießt in diesen Tagen Christos letztes Werk: die Verhüllung des Arc de Triomphe. Seit 1962 wollte der Künstler das Nationalheiligtum im Herzen der Stadt verpacken. Erst kurz vor Christos Tod im Mai 2020 gab Präsident Macron grünes Licht. Im zweiten und letzten Teil einer Annäherung an den bulgarischen Aktions- und Performancekünstler, der mit seiner französischen Frau Jeanne-Claude die Kunstwelt umkrempelte, soll an den Sommer 1995 erinnert werden. Als die Deutschen einmal beschlossen, für genau vierzehn Tage ein glückliches Volk zu werden. Als sich der mächtige, damals leerstehende Berliner Reichstag in ein leichtes, schwebendes Gebäude verwandelte. Als dieser geschichtsträchtige Klotz an der einstigen Mauer verhüllt wurde, um Neues zu enthüllen. Als Berlin einmal anders war.

 

„Wrapped Reichstag“. Sommer 1995. Christo und Jeanne-Claude.

 

Am Anfang war eine Postkarte. Im Sommer 1971 schickte der Historiker Michael S. Cullen eine bunte Ansichtskarte des Reichstages nach New York. Wäre der leere Kasten nicht ein ideales Kunstobjekt, fragte Cullen, ein Amerikaner im damaligen West-Berlin. Dann passierte erst einmal nichts. Anfang November 1971 antwortete überraschend das Ehepaar Christo und Jeanne Claude in einem förmlichen Schreiben. Jeanne-Claude teilte mit, sie seien interessiert, hätten aber frühestens 1972 Zeit. Daraus wurden am Ende 24 Jahre zähen Ringens. Die Widerstände waren groß, wie bei allen Christo-Projekten. Cullen traf das Ehepaar Christo im Hotel Savoy in Zürich. Das Trio verstand sich prächtig. Der US-Amerikaner in Berlin, der bulgarische Künstler und seine französische Frau mit Wohnsitz in New York.

 

Christo und Michael S. Cullen 1993. Cullen, ein Amerikaner in Berlin, schickte 1971 eine Postkarte nach New York – mit Folgen.

 

Das war die Grundidee: Kunst für jedermann! Kostenlos. Ohne Werbung. Ohne staatliche Förderung, Christo kam 1976 zum ersten Mal in das geteilte Berlin. Im Mai 1977 lehnte der damalige Bundestagspräsident Karl Carstens die Verhüllung strikt ab. Unvorstellbar! Der Reichstag sei ein Sakrileg. Mit insgesamt sechs Bundestagspräsidenten verhandelte das Christo-Team in den folgenden Jahren. Daraus entstanden sechzig Aktenordner Briefverkehr, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg archiviert sind. Erst der Mauerfall öffnete eine reelle Chance. Die damals amtierende Bundestagschefin Rita Süßmuth wurde zur großen Unterstützerin, während Helmut Kohl zeitlebens ein Gegner blieb. Er hielt die ganze Aktion für blanken Unsinn. Der heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble war gleichfalls dagegen. Erst im Angesicht des verhüllten Reichstages Ende Juni 1995 um vier Uhr früh im Morgenlicht wurde er zum Fan.

 

Arc de Triomphe. September 2021. Foto: Mike S. Cullen

 

Der Reichstag wurde 1995 ein weltweit beachtetes Kunstwerk. Es verzauberte die Welt und veränderte den Reichstag. Wie bei Christo und Jeanne-Claude üblich, wurde das Projekt nach zwei Wochen beendet und alle verwendeten Materialien recycelt. Am Reichstagsgebäude sollten keinerlei Spuren der Verhüllung bleiben. Den „Wrapped Reichstag“ erlebten rund fünf Millionen Besucher. Die Aktion kostete etwa 7,5 Millionen Euro. Die Finanzierung erfolgte ausschließlich über den Verkauf von Zeichnungen, Skizzen und die Vergabe von Filmrechten. Handsignierte Motive brachten bei Versteigerungen in späteren Jahren bis zu 300.000 $. Der Stoff, der in diesen Tagen den Pariser Triumphbogen verhüllt, stammt von einer deutschen Firma und ist aus dem gleichen recycelbaren Material wie einst in Berlin. In solchen Fragen blieb sich Christo treu. Der Mann, der mit Kunst die Welt ein wenig verändern konnte. Wenn auch nur für zwei Wochen.

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Wen wählen?

Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler, brummte einmal der konservative Winston Churchill über die Tücken von Wahlen. Und heute? Fast vierzig Parteien stehen demnächst auf dem Zettel. Eine Vielfalt, die alles verspricht. Sie heißen Liebe, Demokratie in Bewegung, V-Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer, Gartenpartei, Tierschutzpartei, Die Urbane HiphopPartei, Bürgerbewegung für Fortschritt und Wandel, Die Pinken, Der Dritte Weg oder Menschliche Partei für das Wohl und Glücklichsein aller. Das Blaue vom Himmel und ewiger Jahrmarkt auf Erden verheißen die Programme. Natürlich stehen die Etablierten ganz oben auf der Liste. Von CDU, SPD, FDP, Grüne, AfD bis Linke. Aber wen wählen?

 

#imaginemagritte Schirn Frankfurt/Main

 

Man kann es sich leicht machen. Über Dilettanten-Personal, Bullerbü-Wahlkampf, 16-Jahre-Merkel-sind-genug und Nicht-schon-wieder-SPD schimpfen und digital herumholzen.  Über eine Politik des Zu-Spät und des Zu-Wenig klagen. Über eine Gesellschaft, die immer stärker ihren Zusammenhalt verliert und dabei ständig neue Verlierer produziert. Zetern wie einst Nietzsche über den Pöbel der höheren Stände. Das altvertraute Populismus-Modell aus der Schublade holen: Das Volk ist gut, die Eliten sind verdorben. Dabei wissen wir: Alles wird knapp. Rohstoffe, intakte Umwelt, Gerechtigkeit und besonders die Fähigkeit, neu zu denken und für andere zu handeln. Das Bequemste in Zeiten der „verwirrenden Unübersichtlichkeit“ ist daher einfach nichts zu tun. Keine Experimente. Weiter so! Wird schon werden…

 

#imaginemagritte Schirn Frankfurt/Main

 

Wir können weiter die Augen verschließen und den Kopf in den Sand stecken. Das hat den Vorteil, dass es kuschelig bleibt. Man sieht, hört und fühlt nichts. Dummerweise wächst die Chance, in dieser Pose kräftig ins Hinterteil getreten zu werden. „Traumtänzer sind die, die glauben, dass alles so bleiben kann, wie es ist,“ sagen die Initiatoren der Freiburger Diskurse. Sie rufen ins Land: „Wahlprogramm sucht Partei!“ Sie sagen, es reiche nicht, den Müll zu trennen, ab und zu mal ein veganes Schnitzel zu bestellen oder eine Solaranlage subventioniert aufs Dach zu stellen. In der Mitte sei es noch zu vielen zu gemütlich, um auch nur irgendetwas zu ändern. Klima, Katastrophen, Pandemie und Desaster wie in Afghanistan hin oder her. Solange die Krise draußen vor der Tür bleibt, ist doch alles gut.

 

#imaginemagritte Schirn Frankfurt/Main

 

Die Freiburger Diskurse bieten frischen Wind für eine runderneuerte Gesellschaft in Politik, Gesellschaft und Umwelt. Neu denken, nachdenken, vordenken. Die Freiburger Denkschule fordert uns und die Parteien auf, sich zu ändern. Ist dieser Aufwand nicht ein wenig Lebenszeit wert, bevor das Kreuzchen mit schlechtem Gewissen wieder beim kleinsten aller Übel gemacht wird? Eine funktionierende Demokratie sollte uns doch mehr als fünf Minuten wert sein. Der alte Griesgram Churchill muss nicht immer recht behalten.