Als die Queen Schiller besuchte

24. Mai 1965. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Es ist bedeckt und leicht regnerisch, als meine Mutter und deren Freundin mit mir, dem siebenjährigen Steppke, zur Protokollstrecke Stuttgart – Ludwigsburg – Marbach eilen. Die Queen ist in Deutschland. Welch ein Glanz! Was für ein Ereignis! Ich habe Herzklopfen und zwei selbst gebastelte Union Jack-Fähnchen dabei. Die will ich begeistert schwenken, wenn sie im offenen Mercedes S 600 Pullmann auf ihrem Weg zur Schillerstadt Marbach vorbeikommt. Das muss man sich vorstellen: Queen Elisabeth II aus dem Hause Windsor und Prinz Philip Herzog von Edinburgh bei uns! Höchstpersönlich. Auf ihrer ersten Deutschland-Reise nach dem Krieg. Eine Premiere. Das Königspaar aus dem Vereinten Königsreich beehrt für elf Tage unser besiegtes, westliches Wirtschaftswunderland. Ich bin mehr als mächtig aufgeregt.

 

24. Mai 1965. Queen Elisabeth II im offenen Mercedes auf ihrem Weg durch Stuttgart.

 

Lange vor dem angekündigten Termin stehen wir auf der „richtigen“ Straßenseite, an der die Queen am besten zu sehen sein soll. Sie wird hinten rechts sitzen, heißt es, ihr Gemahl Prinz Philip auf der linken Seite. Eine große Menschenmenge ist zusammengelaufen. Alle sind aufgekratzt, schnattern fröhlich. Die Polizei räumt eine breite Gasse frei. Das Warten gerinnt zu einer gefühlten Ewigkeit. Aus Minuten werden Stunden. Da heißt es, die Queen verspäte sich. Gerüchte verbreiten sich. Der 39-jährigen sei angeblich unwohl geworden, weiß jemand, oder die Luxuslimousine sei stehengeblieben. Kaum vorstellbar, aber dieses Gerücht sollte sich später bewahrheiten. Der schwere Mercedes Pullmann versagte in Stuttgart den Dienst. Er musste unter dem Gejohle der Zuschauer von den Chauffeuren angeschoben werden. Welch ein Schmach in der stolzen Wir-sind-wieder-wer-Daimlerstadt!

 

1965. Mit sieben Jahren wollte ich die Queen sehen.

 

Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. „Die Queen kommt!“, ruft ein Mann, der hinter uns auf einer Leiter steht. Die Menschen rufen wie auf Kommando Hurra. Ich stehe als kleiner Bub in Sonntagsstaat mit meinen Fähnchen bereit für den großen Augenblick. Da drängelt und schubst jemand. Meine beiden Wachsstift-bemalten Union Jack-Fahnen fallen auf das Straßenpflaster. Um Himmels willen! Die Jubelschreie steigern sich zu einem Orkan. Ich versuche im nervösen Gedränge meine Fähnchen zu retten, als ich das Brummen der Motoradstaffel – meine Mutter nannte sie „weiße Mäuse“ – und den tiefen Sound der schweren Mercedes-Limousinen höre. Als ich wieder aufrecht stehe und gleichfalls meine Fähnchen schwenke, ist der Pullmann-Mercedes mit der Queen längst vorbei. Ich sehe nur noch schwarze Begleitfahrzeuge von hinten. Unfassbar.

 

Eine Viertelstunde, nachdem ich die Queen verpasst habe, gelingt einem Amateurfotografen in Marbach diese Aufnahme. Die Queen in Schillers Geburtsstadt. Leserfoto Jones.

 

Meine Mutter lacht. Sie strahlt vor Glück. „Ich habe sie gesehen. Sie hatte einen gelben Hut und ein gelbes Chrysanthemen-Kleid an“. Chrysanthemen sind mir in diesem Moment historischen Versagens schnuppe. Ich war bei der Queen und habe sie verpasst. Schlimmer noch:  Meiner Tante gelang 1965 ein Schwarz-Weiß-Foto. Unscharf ist die Queen im Fond zu erkennen. Auch dieser Beleg, dass die Queen bei uns vorbeikam, ist verschwunden. Was ich im siebzigsten Dienstjahr der Queen noch erwähnen möchte. Sie hat sich für den Dichter Schiller, den ich verehre, zehn Minuten Zeit genommen. Sie studierte einige Handschriften, staunte über die bescheidene Küche. Sie lobte den guten Zustand von Schillers Geburtshaus. Kein Wunder. Die Marbacher hatten das Haus komplett renoviert und aufgehübscht. Geschmückt mit Chrysanthemen-Sträußen. Gelb wie Hut und Kleid der Queen, die ich an diesem Mainachmittag des Jahres 1965 verpasst habe.

 

post image

Achtung! „Germany Calling“  

Propaganda gehört zum Leben. Propaganda kann vieles bewirken. Heute wie damals. Manchmal wirkt Propaganda sofort, meistens jedoch entwickelt das Dauerbombardement toxische Langzeitwirkung. Der Satz: „Der Jude ist schuld!“ gehörte zum Instrumentenkasten der deutschen NS-Propaganda. Genau wie „Swing tanzen verboten“. Ein Kulturkampf der Nazi-Zeit. Jazzmusik galt als undeutsch und war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Bereits 1932 erließ Volksbildungsminister Wilhelm Frick den Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“.  Jazz, also „Negerkultur“ war in Thüringen von nun an offiziell verboten, obwohl sich einige Wirte trauten, das Gesetz zu unterlaufen. Swing war in jenen 30er und 40er Jahren Popmusik. Swing war tanzbar und äußerst beliebt bei der Jugend.

Das Swing-Verbot war ernst gemeint. Freunde der US-Tanzmusik wurden als „Swing-Heinis“ beschimpft oder sogar verprügelt. Ab Oktober 1935 durfte die „entartete anglo-jüdische Seuche“ in den Radiosendern des Dritten Reichs nicht mehr gespielt werden. Nun gab es im ganzen Land ein offizielles „Verbot des Nigger-Jazz für den gesamten deutschen Rundfunk“. Das Schild „Swing tanzen verboten“, das viele kennen, ist allerdings eine gut gemachte Fälschung. Das Schild gab es nicht. Es war die Idee eines Grafikers in den siebziger Jahren, der den Umsatz für eine neue Jazzplatte ankurbeln wollte.

 

 

Während Swing-Größen wie Coco Schumann ins KZ deportiert wurden, gründete Joseph Goebbels 1939 eigens eine staatlich finanzierte Swing-Band. Es war die Einzige in Deutschland, die erlaubt war. Eine streng geheime Band für den Deutschlandsender, um westliches Publikum gezielter ansprechen zu können. So entstand die Propaganda-Swingband Charlie and his Orchestra. Bandchef war Lutz Templin und Sänger Karl „Charlie“ Schwedler gab der Combo ihren Namen. Die Band trat nicht ein einziges Mal öffentlich auf. Die Musiker spielten über 270 Schallplatten ein.

 

Mitglieder von „Charlie and his Orchestra“ nach der Evakuierung aus Berlin an den Reichssender Stuttgart, 1944

 

„Germany Calling“ hieß es seit Hitlers Kriegsbeginn auf Kurzwelle: Cooler Swing aus Deutschland gewürzt mit tumber NS-Propaganda. Bei dir war es immer so schön oder Songs wie I hear music sollte Menschen in Feindesländern für deutsche Kriegsziele begeistern. Der Sound der Band klang durchaus so professionell wie in US-Produktionen. Doch der ungelenke Gesang von „Charlie“ fiel auf. Der Mann war im Hauptberuf Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt für Feindpropaganda. In holprigem Denglisch agitierte er mit Hilfe umgetexteter Songs gegen „jüdischen Kulturbolschewismus“ und die „Angloamerikaner“ in Washington und London. Im Visier besonders Winston Churchill. Textprobe Charlie: „The man with the big cigar, who´s the best friend of the USSR”.

 

 

 

Das war Goebbels Plan: Mit Bebop in den Blitzkrieg. Mit amerikanischem Swing zum deutschen Endsieg. Für Musiker war die Mitgliedschaft im Charlie-Orchester lukrativ. Es gab ordentliche Honorare, dazu coole Musik, vor allem aber die Dienstbefreiung von der Front. Je länger der Krieg dauerte, desto internationaler wurde das Ensemble. 1943 musste das Berliner Orchester wegen der Bombenangriffe zum Reichssender Stuttgart verlegt werden. Der Propaganda-Erfolg der Goebbels-Swing-Truppe jedoch blieb bescheiden. Vielmehr entwickelte sich in vielen besetzten Ländern der Swing zum Symbol des Widerstands.  Viele in Europa bevorzugten den echten Swing, nicht den Propaganda-Swing aus dem Land des Stechschritts und der Durchhalteparolen.

 

 

Swing-Legende Coco Schumann hat die Nazi-Schreckensorte Theresienstadt und Auschwitz nur dank seiner Musik überlebt. Von dem großartigen Gitarristen ist ein wunderschönes Zitat überliefert. „Wer den Swing in sich hat, kann nicht mehr im Gleichschritt marschieren“.

Let´s swing. Der beste Impfstoff gegen Pandemien und Potentaten aller Art.

„Vergangenheit ändert sich ständig“

Zwei Tage vor seinem Überfall auf die Ukraine kündigte Wladimir Putin seine „Befreiungsaktion“ verklausuliert an. Das Brudervolk sei vor dem „Nazismus in Kiew“ zu retten. Putin benutzte ein altes Radio-Eriwan-Bonmot aus Sowjetzeiten. „Die Vergangenheit ändert sich ständig“.  So rechtfertigt der Kreml-Chef seinen Feldzug gegen den Westen auch mit der Vergangenheit. Die Ukraine sei russische Erde. Er beschwört den Mythos der Sowjetunion, den „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Adolf Hitler, den selbsternannten „Größten Feldherrn aller Zeiten“. An dessen Erbe arbeiten sich die Deutschen bis heute ab. Der II. Weltkrieg unserer Eltern, unserer Väter und Großväter. Man könnte meinen, zu diesem Thema sei alles gesagt, geschrieben und gesendet worden. Irrtum.

Alles, was wir nicht erinnern“, heißt ein stilles, großartiges Reisebuch, das in die Vergangenheit von Christiane Hoffmann führt. Die Journalistin begibt sich auf die Spuren ihres Vaters Walter, der im Januar 1945 als neunjähriger Junge mit seinem gesamten Dorf vor den Russen gen Westen flüchtete. „Zu Fuß? Zu Fuß. – Allein?“ Allein.“  Die meistgestellte Frage an die Wanderin auf ihrem 550 Kilometer langen Fußweg, der dem Weg des Flüchtlingstrecks ihres Vaters folgt. Vom heimischen schlesischen Rosenthal (heute das polnische Rózyna) bis nach Klinghart bei Eger (heute Cheb). Dort strandete der Elendszug im März 1945 im damaligen Sudetenland, heute Tschechische Republik. Die Rosenthaler sind kleine Sandkörner im Treibgut des großen Hitler-Verbrechens.

 

Christiane Hoffmann auf den Spuren der Flucht ihres Vaters. Foto Wikipedia

 

Was Hoffmann auf ihrer beschwerlichen Wanderung erlebt, ist so spannend wie erhellend zugleich. Sie merkt rasch: Die Narben des Krieges sind keineswegs vernarbt. Im Heimatdorf ihres Vaters im heutigen Rózyna leben seit drei Generationen einst aus einem Dorf im Gebiet Lemberg umgesiedelte Bauern, damals UdSSR, heute Ukraine. Seit Ende Februar 2022 Kriegsgebiet. Das Ende des II. Weltkrieges löste 1945 in Europa eine riesige Völkerwanderung aus. Allein vierzehn Millionen Deutsche sind geflüchtet oder wurden verjagt. Wichtig ist, was Hoffmann notiert: Alle haben am Krieg gelitten. Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen und viele mehr. Keine Familie, in der „niemand ermordet, verschleppt, gefallen, enteignet, vergewaltigt oder vertrieben“ worden ist.

 

 

 

Die intensive Nähe zu ihren Zufallsbekanntschaften ist die Stärke des Buches. Christiane Hoffmann drängt sich nicht auf. Sie hört zu. Sie erfährt, dass fast niemand etwas von einem deutschen Flüchtlingstreck aus Rosenthal weiß. Die Orte sind geblieben, die Spuren ihres Vaters jedoch verwischt. Die Traumata des Krieges platzen sofort auf, wenn gezielt nachgefragt wird. Hoffmann: „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Häuser sind fest, sie bleiben. Menschen kommen und gehen, werden vertrieben. Menschen kann man umsiedeln“. Auf ihrem langen Fußmarsch genießt sie im Sommer Pflaumen und Mirabellen, die nach Kindheit schmecken. Sie pflückt „die sonnenwarmen Früchte, sie sind weich und schmecken süß wie Kompott“. Im Winter kämpft sie gegen Wind, Eiseskälte und gegen das Aufgeben. Christiane Hoffmann hält durch.

 

Brandenburger Tor am 23. Februar 2022 abends. Wenige Stunden später beginnen Panzer, Geschütze und Granaten zu sprechen. Es herrscht wieder Krieg, Leid und Vertreibung in Europa.

 

Hoffmanns Fazit: „Nichts ist vergangen. Die Geschichte ist wie ein Teig, aus dem sich formen lässt, was man will. Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter“. Hoffmann zieht eine weitere Schlussfolgerung: „Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und deshalb nun fein raus sind“. Noch ein Irrtum! Warum nichts vorbei ist, zeigt uns Christiane Hoffmann eindrucksvoll auf. Ein Buch, das ich verschlungen habe. Sehr empfehlenswert!

post image

Eine Russland-Reise

Ein renommierter Berliner Maler und ein bekannter Schriftsteller reisen für fünf Monate nach Russland. Der Künstler George Grosz will selbst herausfinden, was es mit dem neuen Riesenreich auf sich hat, wie die junge Sowjetunion einen „neuen Menschen“ hervorbringen will. Reiseauftrag: Martin Anderson Nexö soll ein Buch über Russland schreiben und George Grosz die Illustrationen übernehmen. Ihre Reiseroute führt sie über Finnland nach Leningrad und Moskau. Sie erhalten die Ehre einer Audienz im Kreml bei Wladimir Iljtsch Lenin.  Sie treffen auch mit Leo Trotzki zusammen. Doch die Reise nach Russland führt zum offenen Streit zwischen Grosz und Nexö. Das geplante Buch wird nie erscheinen. Die Reise war vor genau 100 Jahren

 

George Grosz. Die Stützen der Gesellschaft. 1926

 

Der gebürtige Berliner Grosz gilt als der genaueste Chronist der wilden Weimarer Jahre. Nach dem I. Weltkrieg tritt der Maler 1919 der KPD bei. Nach einem kurzen Gastspiel als Dadaist streitet er künstlerisch für einen neuen linken Klassizismus. Kernpunkte sind Kollektivität statt Individualismus, Ordnung statt Anarchie, Tradition statt Kunstfeindlichkeit. Seine Russland -Reise verstört ihn. Der Individualist Grosz will nicht Opfer seines politischen Dogmas werden. Für ihn als unabhängigen Künstler ist das Leben in einer normierten Gesellschaft eine absurde Vorstellung. Er möchte kein Kulissenmaler sein, der planmäßig Auftragskunst abliefert – nach der Lenin-Formel „Kommunismus ist gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.

 

„Der Überfall“ von 1912. Der frühe Grosz, als er noch Georg Ehrenfried Gross hieß. Im I. Weltkrieg gab er sich 1916 den Künstlernamen George Grosz.

 

Er bricht mit seinen eigenen Illusionen und tritt 1923 wieder aus der KPD aus. Die Russland-Reise hat ihm die Augen geöffnet. Grosz bleibt sich jedoch treu. Die herrschenden Verhältnisse im eigenen Lande kritisiert er scharfsinnig in Wort, Bild und Karikaturen, auf Theaterbühnen und in Zeitschriften. Grosz: „Der Mensch ist nicht gut, sondern ein Vieh. Die Menschen haben ein niederträchtiges System geschaffen – ein Oben und ein Unten. Einige wenige verdienen Millionen, während Abertausende knapp das Existenzminimum haben. In Südamerika heizt man die Lokomotiven mit Korn, in Russland sterben Viele. Viele vor Hunger.“

Was kann Kunst, was soll sie? Antwort Grosz: „Da wird von Kultur geredet und über Kunst debattiert – oder ist vielleicht der gedeckte Tisch, die schöne Limousine, die Bühne und der bemalte Salon, die Bibliothek oder die Bildergalerie, die sich der reiche Schraubengroßhändler auf Kosten seiner Sklaven leistet, ist das vielleicht keine Kultur? Was hat das aber nur mit „Kunscht“ zu tun? Eben das, dass viele Maler und Schriftsteller mit einem Wort fast alle die sogenannten „Geistigen“ diese Dinge immer noch dulden, ohne sich klar dagegen zu entscheiden. Heute, wo es gilt, auszumisten! …wo es gilt, gegen all diese schäbigen Eigenschaften, diese Kulturheuchelei und all diese verfluchte Lieblosigkeit vorzugehen. Es herrscht der Glaube an die alleinseligmachende Privatinitiative. Diesen Glauben mit erschüttern zu helfen, und den Unterdrückten die wahren Gesichter ihrer Herren zu zeigen, gilt meine Arbeit“.

 

„Siegfried Hitler“. 1923. Mit dieser Karikatur zog sich Grosz  den Hass von Adolf Hitler zu.

 

Ein Jahr nach der Russland-Reise karikiert George Grosz den damals unbekannten Münchner Bierkeller-Redner Adolf Hitler: als Siegfried, der sein Volk in den Untergang führt. Hitler erklärt den Maler zu seinem Intimfeind. George Grosz kann sich kurz vor der NS-Machtergreifung im Januar 1933 nach New York retten. In der USA – seinem Sehnsuchtsland – ist seine Arbeit nicht mehr gefragt. Er fühlt sich als Exil-Künstler überflüssig, seine Existenz ist gefährdet. George Grosz stürzt sich in Alkohol, leidet an Depressionen. Erst 1959 kehrt er nach Berlin zurück. „Einer der wichtigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts“, so Kurator Grosz-Kurator Pay Matthis Karstens, ist selbst in seiner Heimat nahezu vergessen. Er stirbt im Alter von 65 Jahren sechs Wochen nach seiner Rückkehr im Treppenhaus seiner neuen Wohnung am Savignyplatz.

 

George Grosz. Mann mit Zigarre.

 

Mehr im neuen Privatmuseum im „Das kleinen Grosz-Museum“. Berlin. Bülowstraße 18. Ab 15 Mai 2022 geöffnet. Sehr empfehlenswert!

Mister „Master of the Universe“

Ein Mann will nach oben. Nichts kann ihn aufhalten. Einfach nichts. Kein tyrannischer Vater. Keine drei Frauen, keine drei Scheidungen. Kein schwerer Schicksalsschlag, nicht einmal der frühe Tod seines ersten Sohnes nach zehn Wochen. Seine Geschichte könnte einem Hollywood-Drehbuch entspringen. Ist sie aber  nicht. Die Wirklichkeit erzählt die besseren Geschichten. Der Mann heißt Elon Musk. Er ist kein Mittelschichts-US-Boy aus Brooklyn, er stammt aus Südafrika. Der Raketenfan besitzt drei Staatsbürgerschaften: die von Südafrika, der Heimat seines Vaters, die kanadische aus seinem Mutter-Land und die der USA, seiner neuen Heimat. Aber Musk versteht sich als Weltbürger.

 

Elon Musk. *1971. Vom gemobbten und verprügelten Schüler zum reichsten Mann der Welt. Foto Wikipedia

 

Mittlerweile ist der Junge aus Südafrika der reichste Mann der Welt. Die Erde ist ihm längst zu klein. Mit seinem ehrgeizigen SpaceX-Programm will er Menschen zum Mars befördern. Mit seinen hochkomplexen Starlink-Nachrichtensatelliten hilft er seinem ukrainischen Freund W. Selenskyj die Russen zu stoppen Mit seiner Tesla-Giga-Factory in der brandenburgischen Taiga will er den Deutschen einen neuen Elektro-Volkswagen bescheren. Mit Twitter schenkt sich der einstige Paypal-Besitzer für 44 Milliarden $ einen eigenen Kommunikationskanal. Nichts kann ihn derzeit stoppen. Der Fünfzigjährige steht im Zenit seines Lebens. Ein Selfmade-Mann ruhelos unterwegs, ohne festen Wohnsitz. Eigentlich fehlt ihm nur noch das Weiße Haus. Elon Musk auf den Spuren Donald Trumps? Es scheint, als könne er nur noch an sich selbst scheitern.

Elon wächst in Pretoria auf. Mit einem goldenen Löffel im Mund. Sein Vater Errol ist Immobilien- und Smaragdhändler. Er besitzt die Hälfte einer Mine in Sambia. Ein reicher Mann. Elons Kindheit muss ein Albtraum gewesen sein, glaubt man den Musk-Biografen. Da ist ein ehrgeiziger Vater, dessen Gebaren zwischen Genie und Gangstertum pendeln. Ein Kerl, der nicht lange fackelt. Ehefrau Marve verlässt 1980 die Familienhölle. Das Model lässt sich scheiden und kehrt mit ihren Kindern Enol, Kimble und Tosca zurück in ihre Heimat Kanada. Vater Errol hingegen zeugt im Alter von 72 Jahren mit seiner dreißigjährigen Stieftochter ein weiteres Kind. Der Patriarch erschießt drei Einbrecher und wird freigesprochen. Recht auf Notwehr, befindet das Gericht. Elon Musk. „Mein Vater ist ein schlimmer Mensch – kaum vorstellbar, wie schlecht er ist. Fast alle Verbrechen, die man sich ausmalen kann, hat er begangen“.

 

 

Elon ist zehn als sich die Eltern trennen Eine Zeitlang pendelt er zwischen Südafrika und Kanada, zwischen Vater und Mutter. Es folgt ein Jahrzehnt der relativen Armut, jedenfalls für die alleinerziehende Mutter. Marve kann sich nur noch Secondhand-Klamotten leisten. Ihre drei Kinder muss sie mit Gelegenheitsjobs durchbringen, weil der Geizhals in Südafrika offenbar keinen Cent Alimente überweist. Aus der Not macht Marve eine Tugend. Sie schreibt einen Bestseller über „erfolgreiche Kindeserziehung“. Elon hingegen studiert Volkswirtschaftslehre und Physik. Sein Idol ist der Erfinder Nikola Tesla. Als er an die renommierte Stanford-Uni in Kalifornien wechselt, merkt er nach zwei Tagen: „Das ist nichts für mich.“ So beginnt sein atemberaubender Aufstieg vom Computerfreak zum einflussreichsten US-Bürger, vom gemobbten Schüler, der krankenhausreif verprügelt wurde, zur „Person des Jahres 2021“ (Time Magazine).

 

Elon mit Mutter Marve Musk. Foto NBC-Screenshot „Saturday Night live“

 

Dieser Elon Musk kennt alles, außer Grenzen. Der sechsfache, heimatlose Kindsvater, der seinen jüngsten Spross aus dritter Ehe einfach nur „XAE-A XII“ genannt hat. Die Welt ist für einen wie ihn form- und beherrschbar. Er will den kränkelnden Planeten mit seinen Erfindungen verbessern, das Böse bekämpfen und die Natur schützen. Jetzt plant er, Twitter zu revolutionieren. Der Multi-Milliardär kündigt an, dass jede und jeder wieder seine Meinung frei sagen dürfe. Willkommen, Mister Master of the Universe. Die Erde ist eine Scheibe. Wir müssen sie retten.

Krieg der Bilder

Vor etwas mehr als fünf Wochen, genau am 12. März 2022, veröffentlichte ich hier Passagen eines Interviews mit der Autorin Natascha Wodin. Die Russin wurde 1945 als Flüchtlingskind in Deutschland geboren, denn: „Sie kam aus Mariupol.“ In ihrem gleichnamigen, erschütternden Roman schildert sie das Schicksal ihrer Mutter. Ihr Leid war untrennbar mit dem russisch-ukrainischen Drama verknüpft, das schon ein ganzes Jahrhundert währt. Am 16. März 2022 bombardierte ein russisches Kampfflugzeug das Theater von Mariupol. In dessen Keller suchten etwa 1.500 Menschen Schutz. Nach ukrainischen Angaben seien 300 Menschen getötet worden, darunter viele Kinder. Russland behauptet, im Schauspielhaus hätten sich Kämpfer des berüchtigten nationalistischen Asow-Regiments verschanzt. Die 24-jährige Viktoria Dubowyzkij, die mit ihren beiden Kindern den Angriff im Keller überlebte, widerspricht entschieden. Zum Zeitpunkt des Angriffs sei kein einziger Soldat im Gebäude gewesen. „Jeder wusste, dass Kinder im Theater waren“.

 

 

Auf veröffentlichten Satellitenbildern war zu sehen, dass das Wort „Deti“ (Kinder) in großen weißen Buchstaben auf beiden Seiten des Theaters stand. Dennoch warf die russischen Armee gezielt Bomben. Diese Bilder waren nur möglich, weil US-Firmen der Ukraine ihre Kommunikationstechnik zur Verfügung stellten und stellen. Unmittelbar nach Putins Überfall hatte der ukrainische Minister für digitale Transformation Mykhailo Fedorov Tesla-Chef Elon Musk per Twitter um Unterstützung gebeten. Innerhalb weniger Stunden sicherte Musk die Hilfe seines Dienstleistungsunternehmens Starlink zu. Milliardär Musk verfügt über rund 2.000 Starlink-Satelliten im Rahmen seiner SpaceX-Mission im Orbit. Die Russen sind offenbar nicht in der Lage, diese Nachrichtensatelliten auszuschalten.

 

 

Die Ukrainische Armee nutzt das SpaceX-Netzwerk von Elon Musk für Drohnen-Einsätze. Daraus reultieren unter anderem die hohen Verluste der Russen. Zudem kann Präsident Wolodymyr Selenskj weltweit Live-Schaltungen mit Hilfs-Appellen weltweit in Ländern und Parlamenten durchführen, die es wünschen. Möglich sind die Übertragungen auf der Basis sog. Cubesats. Das sind hochkomplexe, aber nur knapp 50 Kilogramm schwere Hightech-Würfel, die in 400 bis 600 Kilometern Höhe um die Erde kreisen. Sie liefern auch Fotos von Truppenbewegungen mit einer Auflösung von maximal 20 Zentimetern. Die russischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, die Kommunikationsstruktur der Ukraine zu zerstören.

Putin hatte am 24. Februar 2022 seine Kriegsmission folgendermaßen begründet: „Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren. Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang vom Kiewer Regime misshandelt und ermordet wurden. Die wahre Stärke liegt in der Gerechtigkeit und Wahrheit, die auf der Seite Russlands stehen.“

 

 

Die Cubesats-Satellitenaufnahmen, die weltweit jederzeit verbreitet werden können, sprechen eine andere Sprache. Sie dokumentieren Kriegsverbrechen und Gräueltaten (auch wenn wie in jedem Krieg jedes Bild sorgfältig zu prüfen ist). Diesen Krieg der Bilder hat Moskau längst verloren. Putin führt seinen Feldzug mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts gegen einen unterlegenen, gleichwohl technologisch hochintelligenten Gegner. Was dabei herauskommt, ist massive Zerstörung. Mariupol droht das Stalingrad des 21. Jahrhunderts zu werden. Die Unglücksstadt an der Wolga war 200 Tage umkämpft. Mariupol ist seit 57 Tagen belagert. Stalingrad stand für die Wende des Zweiten Weltkrieges. Für den Anfang vom Ende, für den Untergang von Adolf Hitler. Wofür wird Mariupol stehen?

post image

„Nur wer nicht geliebt wird, hasst“

Propaganda ist die Kunst, andere von etwas zu überzeugen, was man selbst nicht glaubt“. Ein Gedanke von Abba Eban, dem einstigen hochgebildeten israelischen Diplomaten. Der deutsche Experte für „Volksaufklärung und Propaganda“, der promovierte Germanist und gläubige Antisemit Dr. Paul Joseph Goebbels, brachte es auf eine ähnliche Formel: „Das ist das Geheimnis der Propaganda; den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne dass er überhaupt merkt, dass er durchtränkt wird“. Derzeit erlebt die Welt das Comeback der klassischen Propaganda des 20. Jahrhunderts. Putins Kriegskampagne folgt im Kern der Lenin`schen Revolutionstheorie. Propaganda heißt demnach: „Aufklärung, Agitation und Organisation der Massen.“ Gleichgeschaltete Medien verwandeln einen Angriffskrieg in eine „Militär-Spezialoperation“. Und ein Brudervolk in ein Naziland, dass befreit werden muss.

Das Tragische: Die Putin-Propaganda verfängt. Sie hat Erfolg. In diesem Sinne erzielt das PR-Dauerfeuer tödliche Wirkung. In der Tat können Worte verbrecherischer sein als ein einfacher Mord, weil verbrecherische Worte Taten vervielfachen lassen können. Wenn Lügen und geschickte Verdrehungen eine Massenpsychose mobilisieren, stellen sie die Grundlagen der Menschlichkeit in Frage. Die Kriegsverbrechen von Butscha, Borodjanka, Mariupol oder Tschernihiw sind logische Konsequenz. Mitten im aufgeklärten Internet-Zeitalter erobern Echtzeit-Bilder mit explodierenden Panzern und echten Toten unsere Köpfe. Per Mausklick.

 

Mai 1945. In der Nähe von Berlin. Damals kamen sie als Befreier und Sieger der Geschichte. Russen im besiegten Deutschland. Foto: Valery Faminsky

 

Der Zentralangriff auf unsere Psyche bleibt die Verführung durch Desinformation. Mit Hilfe perfider Propaganda konnte zum Beispiel Hassprediger Dr. Goebbels ein kultiviertes Volk wie die Deutschen in die „Endlösung“ und den „totalen Krieg“ führen, bis zum totalen Untergang. Die große Mehrheit des deutschen Volkes hat an Hitler im gleichen Maße geglaubt, wie es diese Tatsache nach dem 8. Mai 1945 energisch geleugnet oder verdrängt hat. Heutzutage sollten wir hellwach sein und sogenannte „einfache Wahrheiten“ oder „Lösungen“ besser drei- als zweimal hinterfragen. Putin hat Europa in dieses Dilemma geführt. Er stellt die Gewissensfrage: Krieg führen mit immer härteren Waffen oder sich lavierend heraushalten?

London. Januar 1945. Ein Waisenkind nach dem Einschlag einer V2-Rakete. Wiederholt sich Geschichte doch? Foto: Toni Frisell

 

Auf dem Höhepunkt der Hitler-Herrschaft kam Charlie Chaplins erster Tonfilm in die Kinos. Die Verwechslungsgeschichte „Der große Diktator“ erzählt vom kleinen Friseur Anton Hynkel und dem großen Diktator Hinkel. Chaplins bitter-böse Parodie traf den Nerv der Zeit. Er siedelte den Plot im Tomanischen Reich an. Mit dabei sind Gorbitsch-Goebbels und der dicke Hering-Göring. Diktator Hinkel benutzt sein Lieblings-Schimpfwort Schtonk. „Demokratie ist Schtonk! Free Sprecken ist Schtonk!“ Die bewegende Schlussrede im Film hält der falsche Hitler, der kleine jüdische Friseur Hynkel. „Nur wer nicht geliebt wird, hasst“, erklärt er. Erst 1958, dreizehn Jahre nach Kriegsende konnten die (West-)Deutschen die Hitler-Parodie in ihren Kinos sehen. Charlie Chaplin musste sich zeitlebens gegen Vorwürfe wehren, er habe Hitlers Verbrechen verharmlost: „Hätte ich von dem Grauen in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte ‚Der große Diktator‘ nicht machen können.“

„Der Große Diktator“ aus dem Kriegsjahr 1940 ist ein Meisterwerk gegen die Verführungskraft der Propaganda. In Putin-Zeiten aktueller denn je und genau der richtige Film zum friedlosen Osterfest 2022.

post image

Für ein Stück Brot hingerichtet

*** AKTUALISIERT am 6. April 2022 ***

Es ist wieder Krieg in Europa. Diesmal haben die russischen Streitkräfte unter Putin das Völkerrecht gebrochen und die Ukraine überfallen, um „das Land zu befreien“. Vor 77 Jahren kamen die Russen und deren Rote Armee tatsächlich als Befreier. Anfang April 1945 kehrte der Krieg nach Berlin zurück, in die Stadt, in der Hitler millionenfaches Unglück wegen seiner Eroberungsgelüste vom Zaun gebrochen hatte. Die Rote Armee setzte zur Entscheidungsschlacht an. Hitler erklärte im Führer-Bunker: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Am 1. April 1945 um 20.00 Uhr meldete der neue Sender „Radio Werwolf“: „Lieber tot als rot! – Siegen oder sterben! – Hass ist unser Gebet, Rache unser Feldgeschrei.“ Die allermeisten Berliner wollten nicht mehr kämpfen. Sie versteckten sich in Kellern, hungerten und kämpften ums Überleben. „Reichsverteidigungskommissar für den Gau Berlin“ Joseph Goebbels verfügte eine Sonderbrotverteilung nur noch für NS-Parteigenossen.

 

„Der Brotaufstand von Rahnsdorf“. NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann: „Es gibt kein Brot mehr. Nur für Parteigenossen!“ Hunderte Menschen versuchten am 6. April 1945 verzweifelt an Brot zu kommen.  Schauplatz: Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf. Foto: Bürger für Rahnsdorf, vermutlich aus den 70er Jahren

 

Die Nachricht erreicht Berlin-Köpenick am 6 . April 1945. Es ist ein frühlingshafter Freitag. Im Ortsteil Rahnsdorf wird bekannt, dass die Bevölkerung kein Brot mehr erhalten soll. Hunderte Frauen, Kinder und Alte eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Zwei verkaufen das Stück zu 50,- Pfennig, bis alles weg ist. Beim zentralen Bäcker in der Fürstenwalder Allee 27 weigern sich die nazitreuen Bäckersleute Brot an die Bevölkerung abzugeben.  Sie alarmieren NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann.  – „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ – Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Lage eskaliert. Erregt versucht eine vielköpfige Menge den Bäckerladen zu stürmen.  Reinhard Heuback war damals zehn Jahre alt. Der damalige Schüler erinnert sich genau. „Der komische Gathemann stand mit der Pistole in der Hand. Ich durfte noch gehen. Andere wurden verhaftet, in den Knast gesperrt.“

 

Margarete Elchlepp (1899-1945). Mit dem Tischler Max Hilliges als  „Rädelsführer“ enthauptet.  Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Der Nazifunktionär meldet die Frauen Margarete Elchlepp (45) und deren Schwester Gertrud Kleindienst (36) sowie den Tischler Max Hilliges (53) der Gestapo als „Aufrührer“. Sie seien „Volksschädlinge“. Hilliges war im Laden mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Er lieferte sich mit dem NS-Mann, der mit der Waffe herumfuchtelte, ein kurzes Wortgefecht: „Gib den Frauen Brot, sie wollen es ja nicht für sich, sondern für ihre Kinder.“ Dann setzt Hilliges nach: „Es dauert nicht mehr lange, dann musst du deinen braunen Rock auch ausziehen.“ Noch am gleichen Abend gegen 18 Uhr wird der Tischler in seiner Wohnung verhaftet. Die Gestapo nimmt insgesamt 15 Personen fest, die zum Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht werden. Ein Standgericht verurteilt den Tischler und die beiden Schwestern Margarete und Gertrud am nächsten Tag als „Rädelsführer“ zum Tode.

Keine drei Stunden nach dem Todesurteil werden Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht des 7. April 1945 gegen 0.45 Uhr in der Haftanstalt Plötzensee enthauptet. Die dritte als „Rädelsführerin“ zum Tode verurteilte Gertrud Kleindienst, Mutter von drei Kindern, wird  von Gauleiter Goebbels in letzter Sekunde zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Hitlers Propagandaminister notiert in seinem Tagebuch am 8. April 1945: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“ Am Tag darauf werden die Hinrichtungen „unter Trommelwirbel“, so Augenzeuge Heubeck, auf dem Bismarckplatz vor der Bäckerei verkündet. „Zur Abschreckung“ kleben NS-Genossen Flugblätter mit der Nachricht von den vollzogenen Todesurteilen an Laternen und Bäume.

 

Ein Dokument des Schreckens. Das Kammerbuch der Hinrichtungsstätte Plötzensee vom 8. April 1945. Akribisch werden die letzten Habseligkeiten von Margarete Elchlepp festgehalten. Wintermantel, 1 Paar Halbschuhe, 3 Taschentücher usw. Das rote Kreuz (unten) neben der Unterschrift bedeutet: Enthauptung vollzogen. Margaretes Leichnam und der von Max Hilliges wurden wenige Tage vor der Kriegsende auf dem Friedhof Wilmersdorf verscharrt.  Repro: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Zwei Wochen nach dem Brotaufstand marschiert am 21. April 1945 die 1. Weißrussische Front der Sowjetarmee im Berliner Vorort Rahnsdorf ein. NS-Ortsgröße Gathemann verschwindet in den Nachkriegs-Wirren. Gertrud Kleindienst überlebt. Sie wird am 2. Mai 1945 aus dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel befreit. Im September 1945 kehrt sie nach Rahnsdorf zurück.

Was wurde aus dem fanatischen NS-Mann Gathemann? Die Spuren führten nach Moskau. Über ein dreiviertel Jahr ließ der angefragte Militärstaatsanwalt auf eine Antwort warten. Ende 2021 teilte der kommissarische Leiter der Abteilung IV des russischen Militärstaatsanwalts in Moskau mit, dass NS-Ortsgruppenführer Gathemann am 1. August 1945 hingerichtet wurde. Er habe sich an „Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit schuldig“ gemacht. Das bedeutet: Auch der Denunziant Gathemann war nach Kriegsende denunziert worden. Wo genau das Urteil „Tod durch Erschießen“ vollzogen wurde, teilte die russische Justizbehörde nicht mit.

 

Die erste (fehlerhafte) Gedenktafel wurde 1998 an der ehem. Bäckerei Deter angebracht. Sie verschwand nach einem Eigentümerwechsel. Jetzt soll nach über sechs Jahren Streit eine neue Gedenkstele aufgestellt werden, um an den „Brotaufstand von Rahnsdorf“ zu erinnern. Foto: Bürger für Rahnsdorf

 

1998 organisierten einige couragierte Bürger eine Gedenktafel am Ort des schrecklichen Geschehens. Die ehemalige Bäckerei wurde mittlerweile verkauft, das Haus vorbildlich renoviert, doch die Tafel verschwand. Seit 2016 versucht der Verein Bürger für Rahnsdorf  wieder eine Gedenktafel am Haus anzubringen. Der neue Hausbesitzer weigert sich beharrlich. Nach mehr als sechs Jahren Debatten, Petitionen und üblichem Berliner Behördenbingo soll „noch in diesem Jahr“ eine neue Gedenk-Stele vor der ehemaligen Bäckerei aufgestellt werden. Diesen Informationsstand teilte der Bürgerverein Rahnsdorf mit. Stand: Anfang April 2022.

post image

Z

Moskau. Ende Februar 2022. Eine kalte Winternacht. Eine Frau eilt mit einem Rollkoffer zu einem bereitstehenden Auto. An ihrer Wohnungstür ist ein großes Z aufgesprüht. Z steht für für „Za Pobedu“ – „Für den Sieg„. Überwachungsvideos halten die überstürzte Abreise fest. Die Frau flüchtet zur russisch-litauischen Grenze. Nach Verhören durch Geheimdienstmitarbeiter wird die Ausreise gestattet. Ihre Flucht stempelt sie für die offiziellen Medien zur „Nationalverräterin“. Für Marina Dawydowa, Chefredakteurin der renommierten Zeitschrift „Teatr“ und prominente Regisseurin ist Exil die einzige Alternative. Sie verlässt ihre Heimat wie viele tausend andere Kreative, die das Putin-Regime nicht mehr ertragen können. Marina Davydova hatte am ersten Kriegstag eine Protestresolution verfasst. Sofort reagierte der Apparat. Die Folge: Morddrohungen und das groß aufgesprühte Z an ihrer Wohnungstür. Die mutige Theatermacherin wurde quasi für vogelfrei erklärt. Bittere Ironie: Kriegsgegnerin Marina Davydova ist mittlerweile im Westen in Sicherheit, darf aber ein lange geplantes Theaterfestival in Finnland nicht leiten. Begründung: weil sie Russin ist.

 

Marina Davydova, 1966 geboren in Baku, ist Theatermacherin. Davydova lehrte zur Geschichte des westeuropäischen Theaters und gab Kurse für Theaterkritik an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität. Sie war Theaterkritikerin der Zeitung „Iswestija“ und ist heute Chefredakteurin der russischen Zeitschrift „teatr“. Außerdem ist sie künstlerische Leiterin des Moskauer Festivals NET sowie Kolumnistin auf www.colta.ru. Für ihre Arbeit erhielt Davydova zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Stanislawski-Preis für die beste Buchpublikation. Foto: Thalia-Theater Hamburg

 

Das Ende einer Moskauer Künstlerkarriere?  Was wird aus Marina Davydova, deren Mann in Moskau geblieben und deren 21-jähriger Sohn gleichfalls geflohen ist, um nicht zur Armee eingezogen zu werden? „Ich will arbeiten und mein eigenes Geld verdienen“, sagt die vielfach ausgezeichnete Theaterfrau, deren Stücke in Moskau, Wien oder Berlin gefeiert wurden. „Ich bereue nichts“, sagt sie. „Wir sind Geiseln. Wir brauchen Netzwerke in Europa. Eine Internationale der Künstler gegen Politischen Terror“. Für sie ist Europa eine Hoffnung. Nicht das EU-Europa in Brüssel, sondern die europäischen Ideen der Aufklärung, der Kritik und des Rechtsstaates. „In Russland wünscht man sich beim Abschied unter Freunden nicht mehr Gesundheit. Sondern Freiheit. Seelische, materielle, existenzielle Freiheit. Schaffensfreiheit, Meinungsfreiheit“.

 

 

„Ich bin eine Speiche im roten Rad“, lässt sie eine ihrer Protagonisten in ihrem Stück Eternal Russia (2017) sagen. Davydova erzählt die Geschichte ihres Landes mit Zaren und Kremlführern, mit einem russischen Volk, das immer aus Sklaven und Leibeigenen bestand. Russische Revolutionen seien stets aus einem Schuldkomplex gegenüber den Unterdrückten versucht worden. Einen ähnlichen Schuldkomplex sieht sie heute im Westen im Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus. Modernisierungsphasen waren in Russland von kurzer Dauer und stets zum Scheitern verurteilt. Das letzte Tauwetter in der Kultur von 2008 bis 2012 in der Ära Medwedjew sei von Putin abrupt beendet worden. Seitdem herrsche wieder ein „kalter Bürgerkrieg“ gegen alles Fremde. Faschismus beginnt für sie mit dem Hass auf die Moderne und Avantgarde-Kunst.

 

Wladimir Wladimirowitsch Putin. Präsident der Russischen Föderation. Sein Stasi-Ausweis von 1985 aus dem Dresdner MfS-Archiv. Putins Amtszeit soll bis 2036 dauern.

 

Widerspruch führt zur Strafkolonie. Dieses ungeschriebene russische Gesetz hat Daviydova in Eternal Russia aufgezeigt. In der heutigen Version des 21. Jahrhunderts richte sich der staatlich verordnete Patriotismus gegen das „Gay-Europa“ und gegen alle „Feinde der Gesellschaft“. In dieser Atmosphäre der Angst werden Gegner mundtot gemacht. „Unsere Elite sind wie Vampire. Sie saugen das Blut aus, agieren im Dunkeln, scheuen Licht und Öffentlichkeit“. Eine deutliche Mehrheit des russischen Volkes scheint Putins Kriegskurs zu unterstützen. Grund zur Verzweiflung? „Nein. Ich liebe Moskau. Ich liebe die russische Sprache, die russische Kultur“, betont Marina Davydova im einzigen Interview nach ihrer Ausreise. Seit Wochen ist von der mutigen Theaterfrau nichts mehr zu hören. Ihre Resolution ist nicht mehr zu lesen. Facebook und Twitter sind in Russland gesperrt.

Sie schweigt.

post image

Brot für die Welt?

Der Krieg in der Ukraine zieht Kreise. Bei uns fürchten Menschen höhere Energiepreise und nicht wenige ein Tempolimit. In vielen anderen Ländern dieser Erde sitzen Familien längst vor einem leeren Teller. Es gibt kein Brot mehr. Alle Grundnahrungsmittel werden teurer und für viele nahezu unbezahlbar: Weizen, Mais, Bohnen, Reis, Zucker. Der Grund: Russland und die Ukraine versorgten bisher vor allem die ärmsten Länder mit nahezu einem Drittel der globalen Weizenlieferungen und 16% der Mais-Exporte. Diese Lieferungen sind in Gefahr. Der Hunger kehrt zurück. Dramatisch ist die Lage in Äthiopien. Yakob Michael Mekowanent lebt seit langem im deutschen Exil. Der Ingenieur berichtet am Telefon: „Die einstige Kornkammer Äthiopiens liegt im Gebiet der Amharas. Es wird nicht mehr produziert. Der Brotpreis ist in den letzten Wochen um 300% gestiegen. Ein Liter Speiseöl verteuerte sich von 300 (äthiopische) Birr auf 1.200 Birr. Offiziell hungern 1.5 Millionen Menschen. Tatsächlich sind bis zu 10 Millionen Äthiopier direkt betroffen“.

 

Yakob Michael Mekowanent kümmert sich um sein Heimatland Äthiopien. Foto: St. Christophorus Berlin-Neukölln

 

Yakob, der leidenschaftlich gerne und gut kocht, ist verzweifelt. „Die dreijährige Dürre ist eine Katastrophe. Alle machen die Augen zu. Schon vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine haben sich die Lebensmittelpreise drastisch verteuert. Hauptgrund war bislang die Pandemie“.  Weltweite Lockdowns kappten Lieferketten. Steigende Energiekosten für Traktoren und vor allem für die Düngemittelproduktion ließen Preise explodieren. Yakob: „Die Inflation ist nicht mehr kontrollierbar. Der Bürgerkrieg mit Korruption, Vertreibung und Zerstörung ist allgegenwärtig. Die Regierungspartei hat sich Mitte März gespalten. Das Land versinkt in Anarchie und Chaos.“ Yakob, der in Opposition zur Regierung in Addis Abeba steht: „Am Ende kommt nichts mehr in die Schale. Große Teile Äthiopiens hungern wieder“.

 

 

Hungrig überleben. Täglich. Eine Mahlzeit pro Tag. Mehr nicht. Nomaden trinken Kamelmilch, backen entweder aus Hirse Getreidefladen oder kochen einen Linsen-Bohnen-Brei. Kuhmilch ist eine Delikatesse, genau wie Erdnüsse. Viele Äthiopier haben nichts mehr, außer Dürre. Yakob gehört zum Stamm der Amharas, einer in Äthiopien drangsalierten Ethnie. Sein Land am Horn von Afrika zählt zu den Ärmsten der Welt. Gebeutelt von Bürgerkrieg, jahrelanger Trockenheit, Pandemie, Inflation und dem jetzt drohenden Ausfall der Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine. „Es ist ein Feuer-Ring aus Konflikten, Krisen, Massenflucht und politischer Destabilisierung“, bestätigt der Direktor der Welternährungsorganisation (WFP) David Basley. „Die Zahl der akut Hungernden ist weltweit auf über 810 Millionen gestiegen“.

Jetzt drohen Kriege um Brot. „Es ist niemals zu spät“, betont Yakob. Das heißt: Unterstützen, Helfen, Spenden. Besser als mit 200 Sachen über die Autobahn zu brettern. Alle Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Doch davon nimmt die Öffentlichkeit kaum Notiz. Helfen kann jede/r: Von Brot für die Welt über UNICEF bis zur Welthungerhilfe.

Wer Yakob und sein Volk mit über zehn Millionen hungernden Menschen in Äthiopien unterstützen möchte, findet hier bei der Welthungerhilfe eine seriöse Möglichkeit.