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Noch einen Doppelten!

„Er hat sechzehn doppelte Whiskey getrunken – an einem Abend“, erzählt der junge Kellner im Trubel der vollen, altenglischen Kneipe. An den Tresen lärmt eine Gruppe junger Studenten. „Er hat hier in der Nähe gewohnt, war jeden Abend hier.“ Auf riesigen Flachbildschirmen links und rechts der historischen, hölzernen Eicheneinrichtung aus dem 19. Jahrhunderte flimmert Basketball. NBA-Playoffs. New York Knicks vs. Miami Heat. „Er war ein großer Dichter. Ja, das war er!“, ruft der Kellner noch. Seine Augen leuchten, dann verschwindet er, um seinem Job nachzugehen. Ich entdecke den standhaften Whiskeytrinker seitlich von den Tresen in der linken Ecke. Dort hängt Dylan Thomas im stabilen, goldenen Rahmen. Der Mann wurde 39 Jahre alt. Ein genialer Dichter und begnadeter Trinker. Das White Horse Tavern, seine Lieblingskneipe in Greenwich Village, überlebte er nicht. Der Kellner zwinkert mir noch mal zu. Dylan Thomas lebt weiter.

 

„Unsere Stadt, die unterm Milchwald ruht/die ist nicht ganz schlecht, und auch nicht ganz gut. Oh, lass uns den morgenden Tag noch sehen/ich bitte Dich, lass uns die Nacht überstehen/und wir neigen uns vor deiner Sonnen Pracht/und sagen Lebewohl, aber nur für heute Nacht!“ Dylan Thomas. Unter dem Milchwald.

 

Wer war Dylan Thomas? Der Waliser gilt als Ausnahme-Lyriker des 20. Jahrhunderts, ein gefallener Engel, Trunkenbold und Schürzenjäger. War er der Village Drunk, der Dorfsäufer? Es gibt viele Klischees, die Dylan Thomas (1914 – 1953) angehängt wurden. Er bleibt ein weltberühmter Unbekannter. Bereits zu Lebzeiten war Dylan Thomas ein Multimedia-Star, und er hat mit seinen Versen viele Künstler beeinflusst: Bob Dylan, Igor Strawinsky, die Rolling Stones und die Beatles. Die Schauspielerin Catherine Zeta Jones, selbst Waliserin, nennt ihre eigene Produktionsfirma „Milchwald“. Van Morrison und John Cale haben Songs nach Thomas-Versen komponiert. Van Morrison widmete ihm sein Lied „For Mr. Thomas“. John Cale „Velvet Underground“ vertonte seine Gedichte.

 

Dylan Thomas (1914-1953). Der Waliser war Namenspatron für Bob Dylan, der ihn verehrt.

 

Seine berühmteste Geschichte heißt „Unter dem Milchwald“, übersetzt von Erich Fried. Zwanzig Jahre hat er an jedem Wort gefeilt. Die Kleinstadtgeschichte spielt in Llarregub. Rückwärts gelesen bedeutet Bugger all = Rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Kneipe steht: „Drink till late“, was sollte man auch sonst tun? Ein Frühlingstag. In einer mondlosen Nacht beginnt alles. Stunden, in denen die Toten sprechen, die Ertrunkenen. Bald melden sich die Einsamen und Liebenden in ihren Betten zu Wort. Es ist nur ein Tag von vielen, dem andere vorausgegangen sind und andere folgen werden. Kneipenwirt Sindbad verzehrt sich nach der spröden Schullehrerin Gossemer Beynon, die auch will, aber sich nicht traut. Briefträger Willy Nilly kann den Empfängern immer erzählen, was drinsteht, weil seine Frau alle Briefe aufdampft. Beim aufbrausenden Metzger Beynon gibt´s auch Katze. Den blinden Käptn Cat besuchen seine ertrunkenen Seeleute. Kritikerpapst Friedrich Luft war nach der Premiere 1955 aus dem Häuschen. „Seine quellende Sprache senkt sich wie ein warmer Regen über eine Landschaft des Alltags. Und siehe, nun blühen die Kleinstadtfiguren, werden spektakulär, werden in all ihrer Spießigkeit interessant, rund, tragisch oder komisch.“

 

Das White Horse Tavern. Seit 1880 Hort für Whiskey-Fans und Kneipennostalgiker. NYC. Greenwich Village. 567 Hudson.

 

So klingt der Dylan-Sound: „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt. Sternenlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See.“ Das großartige Stück wird wegen der siebzig Sprechrollen nur selten gespielt. Zu aufwändig. Aber das kleine Theaterdorf Netzeband, knapp hundert Kilometer nördlich von Berlin, zelebriert seit über 25 Jahren das Kultstück des bei uns nahezu unbekannten Dichters. Diesen Sommer wird wieder Ende Juni/Anfang Juli 2023 gespielt. Ein Erlebnis mit überlebensgroßen Puppen, 55 Stimmen vom Band und zum Abschluss die Dylan Thomas gewidmete Hymne: „Stairways to heaven“. Hingehen. Jede Minute lohnt sich.

 

 

Die Legende erzählt, Dylan Thomas habe den Riesenerfolg seiner ersten szenischen Lesung in New York im November 1953 drei Tage und Nächte lang im White Horse Tavern gefeiert. Danach sei er tot umgefallen. Die Bühnenpremiere hat Dichter Thomas jedenfalls nie erlebt. Ich trinke mein 9-Dollar-Bier aus und gehe mit meinem Freund hinaus in die laue Nacht von New York. Die Stadt grüßt mit dem nervigen Sirenensound vorbeirasender Rettungswagen.

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Was Nationen vereint

Was treibt uns an? Glaube, Liebe, Hoffnung! In New York steht ein Haus, in dem Menschheitsträume wahr werden sollen. Eine Welt ohne Kriege, ohne Hunger, Armut, Ausbeutung und allmächtige Despoten. Ohne unvorstellbaren Reichtum und himmelschreiende Not. Dieses Haus hat viele Etagen, steht trotzig-mächtig am East River von New York. Hier gelten eigene Gesetze und Regeln, die der Vereinten Nationen.  Was für eine großartige Idee. 193 Staaten treffen sich hier – von Afghanistan bis Zambia (englische Schreibweise), um Lösungen zu suchen, um Umweltzerstörung, Genozide und immer wieder neue Kriege zu verhindern, wie gerade in der Ukraine, im Sudan oder Jemen. Das große Haus, entworfen vom Brasilianer Oscar Niemeyer, entstand nach 1945 auf den Trümmern des II. Weltkrieges mit der atomaren Eskalation von Hiroshima und Nagasaki.

 

Das Haus am East River. Seit 1945 gibt es die Vereinten Nationen.

 

Wer die UNO besucht, wird von einer Pistole mit verknotetem Lauf begrüßt. „Non Violence“ heißt die Skulptur des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd. Sie ist John Lennon gewidmet. Errichtet 1988, ein Jahr vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, als Luxemburg „The knotted gun“ der UN schenkte. Im Innern des Weltparlaments sind Friedensbotschaften in Form und Ausstellungen und Gemälden anzutreffen. Im Untergeschoß heißt es zur ambitionierten „UNO-Agenda 2030“: „One child, one teacher, one book and one pen can change the world”. Auf jedem Schritt grüßen Mahnzeichen. Holocaust, Genozide in Ruanda, Kambodscha, Bosnien-Herzegowina oder die fatalen Langzeitfolgen von Landminen in Vietnam, in der Ukraine und anderswo. Das ganze Haus atmet ein Stück Weltgewissen. Doch stets klingt die Botschaft mit, eine bessere Welt ist machbar. Wirklich?

 

Schwerter zu Pflugscharen. Skulptur im Garten der UN. (nicht öffentlich zugänglich)

 

„Willkommen im Haus der Vereinten Nationen. Hier werden alle wichtigen Fragen der Menschheit behandelt“, begrüßt der Guide die Besuchergruppe. Der junge Mann führt uns bei seiner einstündigen Tour sogleich in das Heiligtum: Der Saal des Ständigen Sicherheitsrates. Gedämpfte, geradezu weihevolle Atmosphäre. Mit blauen (für die UNO), roten (Krieg/Konflikte) und grünen (Hoffnung) Stühlen. Über 9.300-mal hat der Sicherheitsrat getagt. 15 Mitgliedsstaaten verhandeln hier, fünf mit Vetorecht in sechs Verhandlungssprachen. Hier wird gestritten, gefordert und blockiert. Eine bessere Welt? Weniger Kriege? Eine Reform des Sicherheitsrates? Klingt unmöglich. Ist die UNO also ein Papiertiger? Der kompetente Guide spürt unsere Skepsis. Die Gruppe ist so vielfältig wie die Besatzung der Arche Noah. Menschen aus allen Kontinenten sind zusammengekommen.

 

Sitz des Sicherheitsrates. Herzstück der UNO. Zahnloser Tiger oder wichtiges Instrument der Krisenlösung?

 

„Die UNO hat viel erreicht“, betont der UN-Mann, als wir den Sicherheitssaal verlassen haben. 1945 seien mehr als die Hälfte der Länder dieser Erde Kolonien gewesen. Die UNO habe das Ziel der Dekolonisation erreicht, das letzte Land – die Inselgruppe Palau – habe 1994 ihre Unabhängigkeit von den USA erreicht. „Ist das nichts?“ Wir streifen über teppichgedämpfte Flure zum Großen Plenarsaal. Sitz der UN-Vollversammlung. Vor einem Bildschirm mit den 17 Zielen der UN bis 2030 – Abschaffung des Hungers bis sauberes Wasser für alle – sagt der Guide: „Heute haben wir weltweit das Wahlrecht für Frauen. Wer hat das Stimmrecht als erstes eingeführt?“ – Eine Französin ruft Neuseeland. „Richtig, 1893. Und wer als Letztes?“ – „Das waren wir, erst 1971“, bemerkt ein Ehepaar aus der Schweiz, verlegen lächelnd. Der Guide grinst: „Sehen Sie. Die Welt ändert sich. Das Beste: alle können sich auf die UN-Charta berufen. Ist doch eine Menge!“

 

Die Statue Saint Agnes hat im August 1945 wie durch ein Wunder den Atomschlag von Nagasaki überstanden. Nur die Rückseite ist verkohlt.

 

Im großen Saal erzählt der UN-Guide von Fidel Castro, der statt fünfzehn Minuten vier Stunden geredet hat. Danach folgt die berühmte Anekdote von Sowjetführer Nikita Chruschtschow. Als der philippinische Delegierte dazwischenrief, zog Chruschtschow den Schuh aus und polterte mit ihm auf das Rednerpult. „Mehr Gewalt gab es in diesem Saal nicht“, lacht der Guide. Die Stunde ist um, die Tour zu Ende. Es geht zum Ausgang, vorbei an der Statue von Saint Agnes aus Nagasaki, die wie durch ein Wunder die Atombombe am 9. August 1945 heil überstand. Nur ihre Rückseite ist rußgeschwärzt. „Noch Fragen?“ –  Nein. Beifall brandet auf. Auf Wiedersehen in dem Haus, das so viele Hoffnungen schürt und mindestens so viele Enttäuschungen produziert hat. Eine große Menschheitsidee, langsam wie eine Schnecke. Aber eine UN, die dennoch unverzichtbar ist. Ein Besuch, der sich lohnt.

 

The Arc of Return. 2015 weihte die UN das Mahnmal für die Opfer der Versklavung ein. (nur mit Besucherausweis zugänglich)

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Thank you for travelling

Geschafft. Endlich zuhause. Mit exakt 84 Minuten Verspätung von Hamburg nach Berlin. „Sänk yu for träveling with Deutsche Bahn“, trö(s)tet die Stimme aus dem knarzenden Bord-Lautsprecher. Egal. Hauptsache angekommen. In den letzten Wochen bin ich viel gereist. Kreuz und quer durch Deutschland. Berlin, Hamburg, Stuttgart, Leipzig, Jena, Bodensee. Ein Genuss in vollen Zügen. Die Bahn mein Freund und Helfer. Halleluja!  Ich gehöre zu den rund 155 Millionen ICE-Reisenden in diesem Jahr. Ich bin Teil der Verkehrswende. – Und? Es ist auf jeden Fall nie langweilig. Ich habe viel gesehen, noch mehr erlebt, mehr als einmal gestaunt und mich manches Mal geärgert. Bereits die Abreise ist ein Abenteuer. Warten am vollen Bahnsteig. Die Wagenreihung ändert sich. Funktionierende Hinweistafeln: Fehlanzeige. Also Konzentration: strategisch positionieren, durchatmen, losrennen, den Waggon entern, zum reservierten Platz durchkämpfen. Den bereits sitzenden Mitreisenden höflich zum Aufstehen bewegen. Wenn es klappt, dankbar in den Sitz sinken. Wie schön.

 

 

Die Reise beginnt. Doch nach kurzer Fahrt fährt der ICE langsamer, bleibt stehen. Jetzt heißt es: „Verspätung durch vorausfahrenden Zug oder dichte Zugfolge oder Notarzteinsatz oder betriebsfremde Personen im Gleisbett“. Kurzum: Man steht wie auf der vollen Autobahn. Meine Bilanz: Mehrere Male Anschlusszüge verpasst. Notwendig sind ferner: Training der Schließmuskeln, Unterdrückung des Harndrangs bei häufig geschlossenen oder verstopften Toiletten. Proviant vorab sichern, das hochpreisige Bordrestaurant ist entweder voll, ausverkauft oder wegen Personalmangel ganz geschlossen. Kein Wunder, dass das neue 49-Euro-Ticket nicht ICE-kompatibel ist. Der versprochene Deutschland-Takt? – jede Stunde in jeder größeren Stadt ein überregionaler Zug –. Er wurde von 2030 auf 2070 verschoben. Verkehrswende? Was ist das?

Was erstklassig am Bahnreisen ist. Der Fahrgast genießt Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Landes. Ein Stimmen-Potpourri: „Das ist mein Platz. Sorry, den habe ich auch reserviert.“ – Der Lauttelefonierer: „Jawohl, Frau Krause, so machen wir das. Ist mein Hotel storniert?“ Die Ehegattin: „Hasilein. Du hast heute noch keinen einzigen netten Satz gesagt, den ich mir merken möchte.“ Der Vielfahrer zum Sitznachbarn: „Die können das einfach nicht. Die Bahn ist mein Schicksal. Zu teuer, zu voll, zu spät.“ Immerhin läuft die Bahn-PR-Maschine auf Hochtouren. „Bonus-Reisen, Komfort-Check-In, „Mehr Bahn für alle!“. In der Bahnwerbewelt hängt die Welt voller Geigen. Tja. Deshalb erstklassige Preise, zweit- bis drittklassige Realität. Es knarzt wieder der Lautsprecher: „Sie werden leider nicht alle Anschlüsse erreichen. Unsere Verspätung liegt bei mittlerweile 35 Minuten. Wir bitten um Entschuldigung.“

 

Vieles passt bei der Bahn nicht zusammen. Folge verfehlter und/oder unterlassener Bahnpolitik der letzten Jahre durch die Minister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle aus Bayern, alle von der CSU. Foto: holzijue

 

Im vergangenen Jahr war die Deutsche Bahn so unpünktlich wie seit zehn Jahren nicht mehr. Trotzdem spendierten sich die Chefs Boni. Vorstandsvorsitzender Richard Lutz erhielt 2022 exakt 2,24 Millionen Euro. Macht ein Plus von 1,26 Millionen Euro. Der Aufsichtsrat hat mittlerweile die Boni-Zahlungen für Manager (+14%) vorerst gestoppt. Motto: kein gutes Geld für schlechte Leistungen. Für alle Bahnmitarbeiter soll es nach Warnstreiks übrigens 5% mehr Lohn geben.

Der Bahnsong von Wise Guys ist mehr als zehn Jahre alt. Was hat sich geändert?

 

Trotzdem kann Bahnfahren so schön sein. Wie reizvoll ist ein Fensterplatz. Das Land zieht vorbei. Kein Stress, kein Stau, dazu dank Öko-Strom ein sanftes Klima-Gewissen. Zusätzlich immer wieder Überraschungen. Kurz vor Berlin herrscht im überfüllten ICE Aufregung. Zwei junge Kids rennen die Gänge entlang. Die Schaffnerin hastet atemlos hinterher. „Ihr seid ohne Tickets, dazu noch minderjährig.“ Der Zug hält an. Die Türen öffnen sich. Die Jungs rennen hasenschlagend Richtung Ausgang. Die alarmierte Polizei steht am anderen Ende. Der ICE ist lang. Um die 350 Meter. Da kommen die Ordnungshüter nicht hinterher. Die beiden Flitzer haben offenbar das Deutschland-Ticket für Null Euro gewählt. Die Schaffnerin atmet schwer, lässt die Schultern hängen. Wer möchte schon ihren Job machen?

Hier noch ein paar Tipps zum Entspannen. Die besten Bahn-Songs.

 

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Landschaft mit Sonn(e)

So. Sonn. Sonne. Sonnenblumen. Kein anderer Künstler hat die sommerlich, leuchtenden Sonnenblumenfelder magischer ins Bild gesetzt als Vincent van Gogh (1853 – 1890). Der Maler wäre heute ein Popstar. Er schuf in seinen zehn produktiven Jahren etwa 800 Gemälde aus 1.100 Arbeiten auf Papier. Zu Lebzeiten verkaufte er kaum ein Bild. Er quälte sich durch Sinn- und Schaffenskrisen, bis er schließlich seinem Leben mit 37 Jahren auf einem Feld ein selbstbestimmtes Ende setzte. Van Gogh: „Ich kann die Tatsache nicht ändern, dass sich meine Bilder nicht verkaufen. Aber die Zeit wird kommen, in der die Menschen erkennen werden, dass sie mehr wert sind als das Geld für die Farbe, die ich darin verwendet habe.“ Gleich mehrere Van-Gogh-Ausstellungen sind Publikumsrenner, allein die Performance Van Gogh Alive lockte bislang mehr als 8.5 Millionen Interessierte an. Sein „Obstgarten mit Zypressen“ wurde letztes Jahr für 117,2 Millionen Dollar verkauft.

 

Vincent van Gogh. 12 Sonnenblumen.

 

Es gibt so viele Kreative, denen zu Lebzeiten Erfolg, Ruhm und Anerkennung versagt bleiben. Mein Patenonkel Kurt Sonn (1933-2020) hinterließ nahezu dreitausend Bilder. Den großen Durchbruch schaffte er nicht. Aber er malte unverdrossen weiter, auf den Spuren seiner Ikonen Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. In seinem Atelier roch es herrlich nach Farbe. In unregelmäßiger Folge veröffentliche ich aus seinem Nachlass Bilder auf Facebook. Immer wieder werde ich angesprochen, wer dieser unbekannte Maler mit seinen warmen Farben ist. Wer mag, kann gleich weiterlesen und mehr erfahren. Vielleicht wird jemand aus der Galerieszene neugierig? Kurt Sonn lohnt sich zu entdecken. Er hätte eine Ausstellung mehr als verdient.

 

Kurt Sonn. Bild-Nr. 1381. Seine Bilder blieben grundsätzlich namenlos. Die Numerierung übernahm die Familie bei der Nachlassverwaltung.

 

Hier mein (leicht gekürzter) Text aus dem Jahre 2020: „Kurt Sonn suchte Klarheit und Reinheit. Die Harmonie der Farben. Die Heilung in der Kunst. Er fand seinen Lebenssinn in Natur und Landschaften. Sein Sonnenreich war die Malerei. So arrangierte er unermüdlich seine Kompositionen in warmen, wohltuenden Farben und fließende Formen. Häuser, Kirchtürme, Höfe, Schuppen scheinen auf. Kantige Brüche, Dissonanzen oder dunkle Störungen sind eher selten zu erkennen.

Seine Sache war das Entdecken und Sehen, das Malen und Zeichnen. Einer, der genau hinschaute, das Spiel der Wolken und den Wechsel der Landschaften in den Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun und gerne mit gelben Sonnentupfern oder Flächen versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik, Tendenz zum Kontrast, dünne lasierende, tuschende Malweise. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Bild-Nr. 0980

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von maximalen Gewinnstreben, Globalisierung und Digitalisierung. Harmonische Farben und Formen sind seine Antwort auf Raubbau und Ausplünderung des Planeten. Sein Atelier in der (noch) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat inspirierte und beflügelte ihn genau wie seine geliebten mediterranen Motive.

 

Kurt Sonn. Bild-Nr. 1362

 

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Sie ist unser größter Lehrmeister“. Einer seiner Sonn-Sätze. Der Künstler malte nicht nur mit Farben, auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis kurz vor seinem Tod (2020) hat er nahezu jeden Tag ein neues Bild gemalt. Natur, Landschaften, Hügel, Dörfer, Kirchen. In den warmen, sonnigen Kurt-Sonn-Farben.“

 

Kurt Sonn. Bild-Nr. 1859

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Fegefeuer der Eitelkeiten

Was muss, was sollte privat bleiben? Gelten für den internen Verkehr von Personen des öffentlichen Lebens eigene Regeln? Menschen mit großem Geld, großer Macht und noch größerem Ego.  Beim aktuellen Gemetzel im Hause Springer scheinen viele Sicherungen durchzuknallen. Kündigt sich ein großes Fegefeuer an? Holen Mathias Döpfner die Geister ein, die er anheuerte oder feuerte? Der 60-jährige studierte Musikwissenschaftler inszeniert sich gerne als Feingeist. Motto: das Einzige, was zählt, seien Kunst und Liebe. Aber er kann auch anders. Der milliardenschwere Springer-Chef laut „Zeit“:  „Mein Kompass geht so: Menschenrechte – keine Kompromisse. Rechtsstaat – zero tolerance und alles für die reine Lehre. Lebensstil ((was Ficken und solche Sachen betrifft – Fritz zwo: jeder soll nach seiner Fasson (oder facon)…))“. Schreibweise Original Döpfner. Der gebürtige Bonner nimmt viele Menschen, doch bevorzugt Ostdeutsche ins Visier. „Meine Mutter hat es schon immer gesagt. ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.“ Wow! „Eigentlich ist eine Entschuldigung fällig, Chef“, meint Bild-Chefin Marion Horn. Aber warum nur „eigentlich“? Mittlerweile hat sich Döpfner „in eigener Sache“ auf der BILD-Website entschuldigt, beharrt jedoch auf Gedankenfreiheit.

 

Mathias Döpfner. Mächtiger, milliardenschwerer Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE im Zenit, 2018. Quelle: Wikipedia

 

An der Echtheit der Aussagen aus Döpfners Welt scheint es kaum Zweifel zu geben. Logischerweise ist die Quelle im nächsten Umfeld Döpfners zu vermuten. Der Verlagschef hat sich offenbar zu viele Feinde gemacht. Vieles spricht dafür, dass sein geschasster Ziehsohn Julian Reichelt die große Rache-Keule in die Hand genommen hat. Seine Waffe: eine Doppelseite in der seriösen „Zeit“ garniert mit saftigen Zitaten seines früheren Chefs Döpfner. Merke: Gekränkte Eitelkeit ist mindestens so toxisch wie Eitelkeit selbst, eine der sieben Todsünden. So ist das in der Welt der sonnenbebrillten Männer mit Sneakers ohne Socken. Frauen mit viel Geschmeide in bunten, kurzen Sommerkleidchen. Nimm-mich-Blicke, Sex-on-demand, ich will spielen…

 

Ziemlich beste Freunde. Ein Gruppenbild ohne Dame. Mathias Döpfner, Julian Reichelt, Richard Grenell (damaliger US-Botschafter) Juni 2019. Quelle US-Botschaft Berlin

 

Es gibt keinen besseren Gesellschaftsroman aus der Welt der selbstverliebten Eliten als „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe. Die Geschichte des Wallstreet-Brokers Sherman McCoy mit Wohnsitz Park Avenue und einem Apartment mit Vier-Meter-Decken. 1987 erschienem, zeitlos und perfekt anschlussfähig an die Berliner Eitelkeitsmaschine im Springer-Konzern. Lust auf mehr?

 

https://youtu.be/CywDxMCmVfY

 

 

„Wenn man Sherman McCoy so dahocken und so angezogen sah, wie er´s jetzt war, in seinem karierten Hemd, den Khaki-hosen und den ledernden Ledermokassins, hätte man nie erraten, was für eine imposante Erscheinung er normalerweise abgab. Noch jung … achtunddreißig Jahre alt … hochgewachsen … fast einsfünfundachtzig – hervorragende Körperhaltung … hervorragend, um nicht zu sagen: gebieterisch … so gebieterisch wie sein Daddy … volles sandbraunes Haar … lange Nase … ein markantes Kinn … Er war stolz auf dieses Kinn. Es war ein männliches Kinn, ein starkes, rundes Kinn, ein aristokratisches Kinn, wenn man wissen möchte, was Sherman dachte. Er war Yale-Absolvent.

Aber in diesem Augenblick sollte seine ganze Erscheinung ausdrücken: Ich gehe nur mal mit dem Hund um den Block. Der Dackel schien zu wissen, was auf ihn zukam. Er drückte sich beharrlich vor der Leine. Die kurzen Beine des Köters täuschten. Wenn man ihn zu greifen versuchte, verwandelte er sich in eine sechzig Zentimeter lange muskelbepackte Röhre. Bei dem Gerangel mit dem Tier musste Sherman sich nach vorn werfen. Und als er sich nach vorn warf, stieß er mit der Kniescheibe gegen den Marmorboden, und der Schmerz machte ihn wütend.“

 

Mehr über Sherman, den Master of the Universe und seinen Dackel Marshall, seinen Aufstieg wie Fall in: „Fegefeuer der Eitelkeiten“. Es lohnt sich.

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„Morgens um vier“

„Still ist die Stadt, die Straßen sind leer. Müde und wach morgens um vier“. Plötzlich setzt die Trompete ein. Sven Regener bläst gegen den Frust morgens um vier an. Ach! Ja. Wie immer? Genau. Element of Crime hat das fünfzehnte Studioalbum veröffentlicht. Krieg, Krise, Klimawandel, hilflose, überforderte Eliten? Lösungen? – Pustekuchen. Alles wankt, nur eines bleibt. Element of Crime. Dieser sehr spezielle Mix aus verregnetem Sonntagmittag, Langeweile, Liebesschmerz, Einsamkeit und Sehnsucht. Was die Babyboomer-Band von vielen anderen Combos im fortgeschrittenen Alter unterscheidet, sind ihre Texte mit Sinn für Romantik und Melancholie, gewürzt mit einem Grundgefühl von Gelassenheit und Ironie. Sinnfrei wie tiefschürfend. Augenzwinkernd wie treffend: „Du bist das Monster, ich bin der Held, es kommt zum Showdown im Sauerstoffzelt der Heilsarmee – Müde und wach morgens um vier.“

 

 

„Wir tauchen unter, wir tauchen auf/ Aus unseren Mündern kommen Schall und Rauch/ Wir haben keine Lösung, wir haben Lieder.“ Lösungen haben die vier Herren nicht, aber eine gelöste Stimmung können sie verbreiten. 1985 wird die Band gegründet, als die Neue Deutsche Welle gerade abebbte. 1987 veröffentlichten sie ihre erste LP „Try to be a Mensch“. Regner sang auf Englisch, auf den ersten Videos gaben sich die vier Neuberliner cool und abgeklärt. So schafften sie es mit dem Song Something was wrong in den ZDF-„Schüler-Express“. Die auf locker-flockig-jung getrimmte Sendung hieß wirklich so. Element of Crime-Mitglieder radelten am „Görli“ vorbei ins „Madonna“. Treffpunkt für Trinker, Aussteiger und Glücksucher jeglichen Alters und Geschlechts. Rauchen war im Doppeldecker-Bus oben noch möglich. Der Reporter fragte Sven Regener nach Vorbildern? Nee, eigentlich nicht, antwortete dieser auf breitestem Bremerisch. Regener. „Wir sind eben Element of Crime“. – Könnt Ihr davon leben? Nein, sagt einer, mein Chef ist beim Sozialamt. Sven ergänzt: „Ich bin Tippse. Ich tippe Forschungsberichte“. Gegenfrage Regener an den nassforschen Reporter: „Kennst du John Cale?“ – Nein. „Dann kannst du gehen!“ John Cale war der Plattenproduzent des ersten Albums in London und Mitglied von Velvet Underground.

 

Sven Regener vor dem „Madonna“ und mein Kameramann René Feldmann in Aktion.

 

„Und in meinem tanz ich dich, aber unscharf, und du hältst eine Axt in den Händen/ Und in deinem tanzt du mich mit einer Katze, und die sagt: Leute, wo soll das enden?“ In den wilden Achtzigern fand auch das legendäre Konzert in der Ost-Berliner Zionskirche statt. Neonazis verprügelten 1987 mit Sieg-Heil-Rufen Band und Besucher. Niemand schritt ein. Keine Polizei half. Doch die „Elements“ machten unverdrossen weiter, besangen den ersten Sonntag nach dem Weltuntergang, oder den legendären Sonntag im April. Zartbittere Songs für manisch-Depressive, hieß es damals in meiner Clique. Egal, wenn schon melancholisch, dann aber bitte mit einem Trompetensolo, schlürfenden Bass und einem schnoddrigen Text von Regener & Co. „Saufbrüder werden ihren Deckel bezahlen/Flugzeuge werden den Himmel bemalen/Und dann kommst du wieder/Und gehst nie wieder fort von hier“, heißt es jetzt wieder, nach vierzig Jahren, im neuen Album „Morgens um vier“. Schöner kann Älterwerden nicht sein.

 

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Beste Freundin

Hallöchen! Kennst Du Jessie Weiß? Wen? Jessie! Nie gehört! – Dann gehörst du zu den Gruftis. Willkommen bei den Uhus, den Unter-Hundertjährigen, den Babyboomern mit Rentenzukunft! Bei den meisten Bivis, den Bis-Vierzigjährigen ist Jessie Weiß eine bekannte Größe. Die Frau bringt täglich „Liebe in Deinen Posteingang“. Jessie hilft dein Leben zu organisieren. Schöne Fotos in Pastell, noch mehr Style, stets up-to-date. Die 36-jährige Jessie ist Deutschlands erfolgreichste Mode-Influencerin. Jessie lebt den Traum Von-der-Tellerwäscherin-zur-Millionärin. Ein Kind des Instagram-Jahrhunderts. Jessie ist Bloggerin, Chefredakteurin, perfekte Mutter, gestylte Lebensgefährtin, souverän in allen Lebenslagen. Eine Frau, die Tipps gewinnbringend verlinkt. Mittlerweile ist das Prenzlauer-Berg-IT-Girl Bauherrin. Nun also Home Suite Home. Der Nestbau wird die nächste Instagram-Story.

 

 

“The show must go on”. Jessie Weiß hat es auf den Titel des Zeit-Magazins geschafft. Eine Reporterin hat die Influencerin ein Jahr lang bei ihrer Daily Show begleitet. Die Zeit-Frau rätselt zwischen den Zeilen, wie echt Jessie eigentlich ist. Egal. Jessie ist längst ihr eigenes Medium. Eine gut geschmierte Content-Maschine für den Mainstream-Geschmack, jederzeit anschluss- wie mehrheitsfähig. Badezimmertipps, der neue Pullover, ein praktisches Accessoire für die Küche. Jessie weiß Bescheid. Die gebürtige Essenerin bedient unsere Sehnsüchte und Unzulänglichkeiten. Ein Role Model, das ihrer Gemeinde vorlebt, wie sie besser durch den Alltag kommt. Die Mutter von mittlerweile drei Kindern gibt sich ihrer Kundschaft – überwiegend Frauen ihrer Generation – als “beste Freundin im Netz“. Das rechnet sich.

Die neue Medienwelt hat mit der Generation Z Stars wie Lisa & Lena Mentler, Fynn Kliemann oder Rezo hervorgebracht. Bloggerinnen und Blogger gelten als „authentischer“, sind persönlicher, nahbarer und reaktionsschneller als „alte“ Medien. Reise- Lifestyle-, Beauty- und Modeblätter sind mega-out. Die Sternchen am Instagram-Himmel leuchten, kommen und gehen. Die Influencer-Szene aktualisiert permanent das passende Lebensgefühl. Motto: Du bist nicht allein! Ich bin für da! Der alte Kniff des Geschichtenerzählens vom kleinen Pumuckl, der auf die Härte des Lebens stets eine Antwort weiß. Neu ist, dass ihre Alltagsgeschichten gleich mit passenden Produkten verlinkt werden. Product-Placement fürs Smartphone. Der Lieferdienst bringt das Objekt der Begierde direkt ins Haus.

 

Jessie Weiß vom Prenzlauer Berg. Homestorys als Markenkern. Wenn das Private öffentlich wird. Quelle: Westwing

 

Instagram macht reich. Reich an Erlebnissen, Emotionen, Einkaufsreizen. Eine nicht-stoppbare Bilderflut, ein Rund-um-die-Uhr-Kick: Willst-du-nicht-auch? Ich habe dich doch lieb. Jessie Weiß ist eine typische Mega-Magierin der Neuen Medienwelt. Sie weiß um den Wert der „Birkin-Bag“, der angeblich begehrtesten Tasche der Welt. Dabei pflegt sie bodenständige Durchschnittlichkeit als Markenzeichen. Instagram hat Jessie Weiß reich gemacht.

 

Sonnenuntergang geht immer…

 

Bleibt eine Frage: Führt Jessie das schöne Leben, das sie ihren Followern vorlebt? Oder inszeniert sie nur Illusionen? Macht ihr Mix aus Beauty Rituals, Ignorance is bliss und Berliner Coolness am Ende wirklich glücklich? Das weiß nicht einmal die Reporterin der Zeit, die Jessie ein Jahr lang begleitet hat. Sie wirkt ein wenig ratlos. Der letzte Satz ihrer Reportage lautet: „Ein Porträt mit einem Punkt zu beenden, ist vielleicht auch absurd“ … also ein Ende ohne Punkt. So wirkt Jessie Weiß wie ein Märchen aus 1001-Nacht. Ein langer, glatter Fluss, am Horizont ein megageiler Sonnenuntergang. Perfekt mit Photoshop gepostet! In Liebe, nur für Dich.

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Herbert, der Träumer

Auf zu Grönemeyer! Einladung zur Premiere: „Das ist los“! Der Hauseingang in der Berliner Kantstraße ist unscheinbar. Nichts Besonderes. Nach der Einlasskontrolle erreicht man eine Art Gefängnishof. Hier begrüßt Herberts Hofstaat Besucher mit einem Covid-Testpäckchen. Stäbchen in die Nase, dreimal rühren, tröpfeln, warten. Hurra. Negativ! Auf zum Listening. Der Star des Abends kommt, wird an eine Mauer gestellt. Kameraleute und Fotografen machen ihre Bilder. Der blondtoupierte Herbert ganz in Schwarz posiert. 18 Millionen verkaufte Platten. 40 Jahre Bühnenpräsenz. No Business like Show-Business. Was aber war vor Herbert G. in diesem seltsamen Hinterhof? – Ein Frauengefängnis, raunt jemand. Heute ein vornehmes Hotel. Google meldet: Einst 77 Zellen, sechs Quadratmeter groß, jeweils mit drei Frauen belegt. Bis 1985 als Jugendarrest in Betrieb. Danach Leerstand. Heute 44 Hotelzimmer. Gediegen umgewidmet vom Ort der Verdammnis zum Hort für „Komfort und Ruhe inmitten der pulsierenden Stadt“. Das ist los.

 

Das ist los. Der Meister im Gefängnishof. Herbert Grönemeyer präsentiert sein neues Album.

 

Das Premierenpublikum sammelt sich an festlich gedeckten Tafeln. Medienleute, Menschen aus der Musikbranche, man kennt sich. Küsschen links, Küsschen rechts. Rasch ein Selfie und den besten Platz sichern mit gepflegtem Wein und 5-Gänge-Menu. Als Top Act: Grönemeyers neues, mittlerweile sechzehntes Album. Es geht los. „Hoffnung ist gerade so schwer zu finden/Ich suche sie. Ich schaue nach links und fühle mich blind/für Perspektiven, die uns weiterbringen.“ Knapp fünfzig Minuten Grönemeyer vom Band, alle dreizehn Songs. Ich schaue nach links und nach rechts. Einige hören aufmerksam zu. Viele fingern nervös an ihren Handys. Angst etwas zu verpassen? Offensichtlich! Selbst hier, wo die Happy Few der Premierengäste unter sich sind. Verrückt. Onkel Herbert singt: „Cis, binär und transqueerphob, Gucci, Prada, Taliban / Schufa, Tesla, Taiwanwahn / Was ist, Kid, kriegst du noch was mit.“  Der Titelsong. Das ist los. Ah. Aha. Ach so. Schenk mir deine knappe Aufmerksamkeit. Halte inne. Bitte. – Herbert surft im Zeitgeist der heutigen Zwanziger Jahre. Ich erkenne im dunklen Gefängnishof ein erleuchtetes Fenster und frage mich, wer in den Zellen saß.

 

 

Es folgt „Angstfrei“. „Fesch sein, frech sein, keiner kriegt uns jetzt klein/Tanz` drüber nach, tanz` drüber nach“, röhrt Deutschlands populärster Verseschmied. Knödelbarde Herbert. Poet der Babyboomer. Seelenklempner des Landes. Lieferservice für Mut, Trost und Orientierung. Heimlicher Bundespräsident. Das beherrscht er wie kein anderer. Der Mann, der uns seit Jahrzehnten begleitet. Als Herzensbrecher, politisches Auskunftsbüro, seelischer Kummerkasten. Ein Sinnsuchender wie du und ich. Nur, dass er Stadien füllt. Wir nicht. „Ohne Druck keine Diamanten/Ohne Flugangst würde keiner mehr landen“, knattert Herbert im letzten Song „Turmhoch“. Beifall. Der Meister betritt den Saal. Er sagt, was er wohl bei solchen Anlässen sagen muss. Er möchte „Mut machen in krisenbehafteten Zeiten“, er suche wie ein wildgewordenes Känguru nach den passenden Worten, werfe viele Texte wieder weg.  „Dinge sind nicht rosarot“. Er will alle mitnehmen. Schön, wenn ein Mensch mit 66 Jahren noch Träume hat.

 

 

Waren die Frauen in diesem Gefängnis angstfrei? Wohl kaum. Aber auch sie träumten. Auf dem Heimweg beschließe ich mich schlau zu machen. Ich erfahre eine Menge über das versteckte Frauengefängnis in der Kantstraße 79. Frauen aus dem NS-Widerstand waren hier bis 1945 zusammengepfercht. Darunter die einunddreißigjährige Libertas Schulze-Boysen. Tochter einer preußischen Adelsfamilie. Verheiratet mit Harro Schulze-Boysen. Beide Mitglieder der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Libertas sammelte Film- und Bildmaterial über die Verbrechen der Nazis. Ab September 1942 war sie nach ihrer Verhaftung im Frauengefängnis. Bis zu ihrem gewaltsamen Tod am 22. Dezember 1942. Libertas Schulze-Boysen (20.11.1913-22.12.1942) wurde in Plötzensee enthauptet.

 

Libertas Schulze-Boysen (20.11.1913-22.12.1942) Mitglied der „Roten Kapelle“. Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

 

Sie hinterließ diese Zeilen:

„Sie nahmen den Namen mir an der Tür,

Das Wünschen an der Schwelle.

Die Träume einzig blieben mir,

in meiner kahlen Zelle.“

 

Libertas war eine Mutige. Eine Hoffende und eine Träumerin, bis zum Schluss. Ich bin so berührt, dass ich diese Entdeckung machen konnte. Danke, Herbert. Für die Einladung an diesen besonderen Ort.

 

Einst Ort des Schreckens, heute ein Hotel. Frauengefängnis in der Berliner Kantstraße 79. Foto: Grüntuch Ernst Architekten.

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Israel: Putsch oder Paranoia?

„Achtung, Oberlehrer!“ In Fragen wie Menschenrechte, Klimawandel oder gesunde Ernährung schwingen wir Deutschen gerne den Zeigefinger. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Diese Moral-Keule kommt keineswegs überall gut an. Siehe Katar, Polen oder … Israel. Israelkritik? Schwierig. Der deutsche Stresstest schlechthin. Wer wie ich in Israel war, ist von diesem kleinen Land mit der großen Geschichte fasziniert wie verwirrt zugleich. Jerusalem, Klagemauer, al Aksa-Moschee, Grabeskirche, Yad Vashem. Bethlehem, See Genezareth, Tel Aviv, Checkpoints, Mauern, Ramallah, Gaza. Auf engstem Raum knallen Glaube, Liebe, Hoffnung aufeinander, duellieren sich Ressentiments und blanker Hass. Als ich mit einer deutschen Gruppe die Gedenkstätte Yad Vashem verließ, sagte unser israelischer Reiseleiter: „Ihren Schäferhund haben sie besser behandelt. Das werden wir Euch nie vergessen.“

 

In der Altstadt von Jerusalem. Foto: Waldemar_RU

 

„Das war doch nicht ich, auch nicht meine Eltern“, murmelte ich, meine Gedanken behielt ich für mich. Aber Ackermann, so der Spitzname unseres Schwejk`schen Begleiters bemerkte meinen zweifelnden Blick. „Weißt Du was? Schweigen ist Zustimmung. Gleichgültigkeit ist ein scharfes Schwert.“ Punkt. Das saß. „Aufsitzen zum nächsten Ziel“, rief er unserer schweigenden Gruppe zu. „Ich zeige Euch jetzt, wo es in dieser gottverdammten Stadt die beste arabische Falafel gibt.“ Das war vor langer Zeit, ein paar Jahre nach der deutschen Einheit, als unser Land wieder groß geworden war. Die Lage in Jerusalem ist in diesen Tagen einmal mehr scharf wie eine Rasierklinge, an der man sich leicht verletzen kann. Israel mit seinen neun Millionen Menschen ist aufgewühlt. Juden, israelische Araber und Christen, Regierungsanhänger und Gegner streiten um eine Justizreform. Und wie!

 

Jerusalem. Stadt der drei Religionen. Ein Ort voller Geschichte und Konflikte. Foto: rquevenco

 

Großdemonstrationen, Straßenblockaden und angedrohte Befehlsverweigerung durch Eliteoffiziere, Kampfjetpiloten und sogar Generäle erschüttern seit Monaten das Land. Die Regierung Netanjahu will die Justiz reformieren, damit „endlich die schweigende Mehrheit“ entscheiden könne. Demnach soll die einfache Mehrheit des Parlaments (Knesset) Entscheidungen des Obersten Gerichts außer Kraft setzen können. Benjamin „Bibi“ Netanjahus Koalition aus national-konservativen Likud, den religiösen Ultraorthodoxen und 14 Abgeordneten des Religiösen Zionismus wollen mit ihrem Gesetz die Herrschaft der „liberalen Elite“, verkörpert durch das Hohe Gericht, abschaffen. Es sind ähnliche Konflikte wie in Polen, Ungarn oder auch in der Türkei. Entmachtung der Demokratie durch „Reformen“ wie einst beim „NS-Ermächtigungsgesetz“, protestieren Kritiker. Tausend israelische Intellektuelle haben in einem Aufruf Alarm geschlagen.

 

Seit fast drei Monaten demonstrieren Zehntausende jeden Samstag in Israel gegen die Justizreform. Eine Gruppe von Frauen in den Kostümen der Fernsehserie „The Handmaid’s Tale“ in Tel Aviv. Bild: AFP

 

Dazu Schweigen? Geht nicht. Besser als belehren aber ist zuhören. Daher folgen einige Passagen aus einem Text des israelischen Historikers Yuval Noah Harari („Eine kurze Geschichte der Menschheit“), die bedenkenswert sind. „Das ist keine Rechtsreform – es ist ein Staatstreich“, schreibt Harari und weiter:

„Historisch betrachtet gibt es vor allem zwei Arten von Staatsstreichen. Die eine ist der „Putsch von unten“, und sie ist leicht zu erkennen: Der machthungrige General Strongman zum Beispiel beschließt, die Kontrolle in einer Bananenrepublik an sich zu reißen. Eines Morgens wachen die Bürger auf und sehen Panzer auf den Straßen der Hauptstadt. Ein Panzerbataillon umstellt das Parlament und feuert Granaten auf das elegante Marmorgebäude. Eine Kompanie von Fallschirmjägern stürmt das Haus des Premierministers, legt ihm Handschellen an und sperrt ihn in ein Militärgefängnis.

In der Zwischenzeit beschlagnahmt eine zweite Fallschirmjägerkompanie die zentrale Rundfunkstation. Um acht Uhr morgens schalten die verängstigten Bürger ihre Fernsehgeräte ein. Dort verkündet der mit goldenen Orden schwer dekorierte General Strongman mit gebieterischer Stimme, er ergreife hiermit „zum Wohle des Volkes“ die Macht im Land.

So etwas schwebt uns vor, wenn wir an einen Staatsstreich denken. Aber es gibt noch eine andere Sorte, für die es in der Geschichte zahlreiche Beispiele gibt: den „Putsch von oben“. Er ist weniger leicht zu erkennen.

Mit einem solchen Staatsstreich hat man es zu tun, wenn eine Regierung, die auf ganz legale Weise gewählt wurde, gegen die ihr vom Gesetz auferlegten Beschränkungen verstößt und versucht, unbegrenzte Macht zu erlangen. Das ist ein alter Trick: Erst das Gesetz nutzen, um Macht zu erlangen, dann die Macht nutzen, um das Gesetz bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen.

Die Regierung spricht von Reformen „zum Wohle des Volkes“.

 

Yuval Noah Harari. „Das ist keine Rechtsreform – es ist ein Staatstreich“.

 

Ein Putsch von oben kann eine sehr verwirrende Erfahrung sein. Auf den ersten Blick fühlt sich alles normal an. Es rollen keine Panzer auf den Straßen. Kein General mit einer vor Orden strotzenden Uniform unterbricht das Fernsehprogramm. Der Staatsstreich findet hinter verschlossenen Türen statt. Dort werden Gesetze verabschiedet und Dekrete unterzeichnet, welche die Regierung von jeder Einschränkung befreien und sämtliche Kontrollmechanismen außer Kraft setzen. Natürlich verkündet die Regierung den Staatsstreich nicht offiziell. Sie behauptet lediglich, sie führe nun einige dringend notwendige Reformen „zum Wohle des Volkes“ ein. Woran können wir nun erkennen, ob das, was derzeit in Israel vor sich geht, wirklich eine Reform ist, oder doch ein Staatsstreich? Der einfachste Test ist folgende Frage: Sind der Macht der Regierung noch Grenzen gesetzt? (…)

Ob ein Bataillon oder ein Gesetz den Staat dem Herrscher unterwirft, spielt keine Rolle Fragt man die Putschisten geradeheraus, was die Macht der Regierung unter den neuen Regelungen begrenzen wird, lautet die einzige Antwort: „Unsere wohlwollende Haltung. Vertraut uns.“ Die klassische Antwort jedes Diktators. Auch General Strongman erklärt nach der Machtübernahme mit Hilfe eines Panzerbataillons in seiner Rede an die Nation: „Vertraut mir. Ich werde euch beschützen. Ich werde für euch sorgen.“

 

 

Der ganze Essay von Yuval Noah Harari erschien am 16. März 2023 in der Süddeutschen Zeitung. Die Regierung Benjamin Netanjahu plant mit ihrer Mehrheit das neue Justiz-Gesetz Anfang April zu verabschieden.

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Tacheles reden

Tacheles kann viel bedeuten. In Berlin ploppt bei Google „ein einzigartiges Objekt an einem der begehrtesten Standorte Europas“ auf. Mitten in der Hauptstadt. Ein Filetstück an der Friedrich-, Ecke Oranienburgerstraße. Auferstanden aus Ruinen lockt ein 23.000 Quadratmeter großes Prestigeprojekt für „gehobene Ansprüche“. Eines der luxuriösen Wohnhäuser, entworfen von renommierten Architekturbüros, nennt sich „Vert“. Französisch für grün. Das neue grüne Tacheles lässt keine Wünsche offen. In blumiger Maklerprosa heißt es: „Urbanes Lebensgefühl und Rückzug ins Apartment. Lässig und stilvoll lebt es sich in der von Herzog & de Meuron neu interpretierten Gründerzeitarchitektur“.

Ein Werbefilmchen produziert fröhliche Momentaufnahmen vom sorgenfreien Luxusleben mit leckerem Kuchen, treuem Hundeblick und dynamischen Menschen. Sie trägt High Heels und trinkt Champagner, er bindet sich eine Fliege um den Hals und radelt mit dem Einstecktuch „durch eine inspirierende Nachbarschaft“. Die Performance erinnert an eine Neuauflage von Ton Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“. In der Kinoversion spielte Tom Hanks einen New Yorker Börsenguru, einen Master of the Universe. Sinn des modernen Lebens: Geld verdienen und ausgeben.

Das neue Berliner Tacheles verspricht noch mehr: den Himmel auf Erden. Mit Concierge, Lobby, Tiefgarage mit E-Ladestation, Fahrradwaschanlage, Health Club, Hundewaschplatz, Spa, Quartiers-App und selbstredend Security. Dazu jede Menge Lebensqualität mit „Szenerestaurants, Conept-Stores oder Nachtleben … in den schillernden Farben der Metropole“. Wow! Dieses Paket hat seinen Preis. Im Schnitt kostet der Tacheles-Quadratmeter 15.000 Euro. Für Interessierte: Der „Schlüssel zum guten Leben“ passt bei einem 1-Zimmer-Apartment ab ca. 685.000, – Euro; bei einer Penthouse-Wohnung mit vier Zimmern ab 4.5 Millionen Euro.

 

1909 als „Friedrichstraßenpassagen“ mit Kuppel errichtet, ein Jahr später in Konkurs gegangen. Diese Aufnahme stammt vermutlich aus dem Jahre 1928. Nutzung durch AEG. Zu der Zeit hieß es „Haus der Technik“.  In der DDR übernahm u.a. die Gewerkschaft FDGB den kriegszerstörten Gebäudekomplex. Quelle: Museum für Technik

 

Tacheles hat noch eine andere Bedeutung. Das Wort kommt aus dem Jiddischen und steht für: Tacheles reden, das heißt offen und unverblümt seine Meinung äußern. Reden wir also Klartext: Das neue Vorzeigeprojekt ist ein Musterbeispiel wie Berlin Bestlagen für ein Butterbrot verscherbelte und zugleich jede Grundlage für eine soziale Wohnungspolitik gegen die Wand fuhr. Die Hauptstadt verkaufte 1998 das riesige Filetstück für 2,8 Millionen DM an die Fundus-Gruppe des Investors Anno August Jagdfeld. Als der Adlon-Investor ins Straucheln kam, verkaufte Jagdfeld 2014 das Ruinen-Areal für 150 Millionen Euro an die amerikanische Vermögensverwaltung Perella Weinberg Partners LP.

 

 

How long is now? 12 Jahre diente das „Tacheles“ als Kreativ- und Kunstzentrum bis zur Räumung. (1990-2012) Blick von der Oranienburgerstraße. (2008) Quelle: Kunsthaus Tacheles.

 

Das war das Aus für das „alte“, nichtkommerzielle Tacheles. Künstler hatten Anfang der Neunziger das Ruinengelände besetzt. Sie übernahmen eine verwahrloste, einstige Einkaufspassage aus der Kaiserzeit, die zum Ende der DDR abgerissen werden sollte. Kreative aus aller Welt eroberten den Freiraum und gaben dem Gelände seinen Namen. Mit dreißig Ateliers, Bars, Cafés, einem Programmkino, den Salons, in denen bis tief in die Nacht Theater, Tanz und Performances aller Art gefeiert wurden. Das Tacheles brillierte als Symbol für das neue wilde, kreative Berlin. Aufregender als New York und dennoch unvorstellbar billig. Was geschah nach 2015? Die US-Investoren rissen die Reste des einstigen Kunsttempels ab, ließen teure Eigentumskomplexe errichten. Jetzt vermarkten sie ihr hochpreisiges „Investment“ und Konzept vom Schöner Wohnen „Am Tacheles“ passgenau mit der sagenumwobenen Legende des von ihnen selbst beerdigten Ortes. So macht Kapital aus Kunst maximalen Kommerz.

 

Das „Tacheles“ war ein offenes, selbstbestimmtes Haus für Kreative aus der ganzen Welt. (1990-2012) Quelle: Kunsthaus Tacheles.

 

Die Architektur des neuen 780-Millionen-Projekts mag jedoch nicht recht überzeugen. Die FAZ beklagt Eintönigkeit: „Belebung ist aber auch nötig, denn die Fassade knattert monoton einmal durch die 150 Meter lange Passage hindurch, als ob sie aus einem 3D-Drucker stammte, bei dem die Architekten den Abschaltknopf nicht mehr fanden; es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass man an ihrem Ende auf eine Praxis für Schnarch-Therapie zu spaziert.“

 

Vert Am Tacheles. Nordfassade. Xoio. Quelle: www.vert-amtacheles.de

 

Was noch mehr als fehlende Ästhetik schmerzt: Das Tacheles-Schicksal steht für das Versagen der Berliner Baupolitik der letzten Jahrzehnte. Seit langem herrscht große Wohnungsnot. Selbst Gutverdienende aus der Mittelschicht können sich in Berlin-Mitte kaum noch eine Wohnung leisten. Kreative schon gar nicht. Am Ende heißt Tacheles reden, ja leider und hier und heute: Eine Mehrheit der Berliner fordert die Enteignung der großen Player, während eine kleine Minderheit das Geschäft ihres Lebens macht. Willkommen im neuen, grünen Tacheles.