Archive for : Juli, 2016

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Schaumbad in luftiger Höhe

Ein Bad in 426 Metern Höhe gefällig? In New York ist nichts unmöglich. Der feuchte Spaß in einer Marmorwanne im neuen Luxustower in der 432 Park Avenue hat natürlich seinen Preis. Eine Penthouse-Wohnung mit diesen Aussichten kostet 96 Millionen Dollar. In Frankfurt ist der kleine Bruder geplant. 2018 soll der Porsche Design Tower bezugsfertig sein. Es geht voran.

Der Investor verspricht eines der außer­gewöhn­lichsten Wohn­hoch­häuser Deutsch­lands. Etwas „Großartiges“ soll hier entstehen. Das Versprechen: „Ein Wohn­tower in außer­­ge­wöhn­­lichem, unver­­wech­sel­­­­barem Design mit exzellentem Interior und ganz beson­­derer Wohn­­qualität.“ Über Preise im Porsche-Turm spricht man nicht. „Oberes Preissegment“, heißt es nur. Eine Frage der Diskretion. Für die zahlungskräftige Klientel spielen Kosten eher eine nachgeordnete Rolle. Exklusiv dabei zu sein, das zählt.

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Porsche Design Tower. Frankfurt. Geplante Fertigstellung: 2018.

 

Bei mittlerweile über 1.1 Millionen deutschen Einkommensmillionären mit einem geschätzten Gesamtvermögen von über 2,7 Billionen Euro ist auch im eigenen Lande ausreichend Kaufkraft vorhanden. Das Privat-Vermögen ist übrigens deutlich höher als der Jahresetat, den Finanzminister Schäuble für die ganze Republik verwalten kann. Und noch eine Zahl: von den rund 1.300 Milliardären weltweit haben 135 Super-Vermögende einen deutschen Pass.

 

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Die neue Porsche-Welt. 160 Wohnungen im „oberen Preissegment“.   Foto: Porsche Design

 

Die Porsche-Welt kommt. Während der Rest der Welt sich mit den Folgen von Ungleichheit und Unsicherheit arrangieren muss. Kein schönes Drehbuch: Überall Religions- und Rohstoff-Kriege, Verteilungskämpfe, Terror, Massenflucht, Hungersnöte. Der neue Wolkenkratzer verspricht einen Vorteil. Die neuen 160 Luxuswohnungen ragen weit über die Niederungen des Alltags hinaus. Denn, so werben die Porsche Designer vollmundig: „Ansprechend gestal­tete Park- und Frei­­flächen, eine viel­­fältige soziale Infra­­struktur, die direkte Nähe zur City sowie ein phäno­­me­naler Aus­­blick auf Taunus und Skyline perfek­­tio­nieren den Standort und prädes­tinieren ihn für dieses einzig­­artige Bau­­vor­­haben.“

Der lange Atem

Wir sehen eine trostlose karge Landschaft. Lavasand. Steppengras. Einige Baumstümpfe ragen aus dem Boden. Apokalypse Now? Könnte sein. Aber es wächst ein wenig Grün. Mühsam behauptet es sich. Diese Aufnahme entstand in Island und stammt aus diesen Tagen, während das alte Europa in Angst und Schrecken versinkt. Das Bild zeigt ein kleines Wunder. Natur heilt Wunden. Auch wenn sie sich manchmal Zeit lässt. Sehr viel Zeit.

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Island. Sommer 2016.

 

Halldor Gudmundsson hat diese stille Landschaft fotografiert. Der langjährige Verleger und heutige Harpa-Konzerthaus-Chef schreibt: „Ein Wald in Island, der vor ca. 1.200 Jahren einer Überschwemmung oder Sandflut zum Opfer fiel, wahrscheinlich von einem Vulkanausbruch in Mýrdalsjökull verursacht, ist in den letzten Jahrzehnten langsam wieder aus dem Sand gekommen, unglaublich gut aufbewahrt.“

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Island. Foto: Heinz Kerber

 

Die Isländer debattieren in diesen Tagen intensiv, was die Rückkehr der Bäume zu bedeuten hat. Im Land der Sagen und Trolle ist der Glaube an Wunder und Naturphänomene keine Ausnahme, sondern Bestandteil von Tradition und Kultur.  Halldor ergänzt noch: „Dieser Wald stand da bevor die ersten Menschen nach Island kamen, und vielleicht wird er völlig auferstanden sein, wenn wir wieder gehen.“

 

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Warum tötest Du, David?

Was wir wissen: David S. war 18 Jahre alt. Deutsch-Iraner. Er wohnte bei seinen Eltern in einem gutbürgerlichen Viertel. Er ist der Amokläufer von München. Oder: Der unbegleitete Flüchtling aus Afghanistan. Er war 17 Jahre alt. Untergebracht bei einer Pflegefamilie. Der Amokläufer im Regionalzug nach Würzburg. Beide sind tot. Beide zerstörten das Leben anderer unschuldiger Menschen. Was wir nicht wissen: Warum? Was treibt junge Männer zum Töten an? Sind wir in Rambos Amerika angekommen?

 

„Um ein Haar wäre auch ich Terrorist geworden. Ich wäre der idealtypische Amokläufer gewesen: Kind einer dysfunktionalen Familie, einsam, verzweifelt, frustriert und geladen wie ein Fass Dynamit auf der Bounty. Jeder Sozialarbeiter hätte seine Freude an mir gehabt. Was mir freilich fehlte, war der Drang, mich an der Welt zu rächen.“ So stichelte einmal Henryk M. Broder mit der ihm eigenen Lust an zynischer Provokation.

Broder wurde nicht Terrorist sondern Journalist. Warum aber verwandeln sich junge Menschen in Killermaschinen mit dem einzigen Ziel möglichst viele Menschen mit in den Tod zu nehmen? Ist es wirklich die Aufmerksamkeit, die sie nach ihrer Tat umgibt? Oder ist es ihre Rache am Westen? An den Ungläubigen? Was auffällt: Islamische Gesellschaften produzieren für Jugendliche ohne Aufstiegschancen den Hass auf den Westen zum Nulltarif.

In Syrien oder Palästina sind Selbstmordattentäter Fernsehstars. Die Inszenierung der Attentate in den Medien spielt dabei eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt: Geistige Brandstifter liefern religiöse Untermauerung durch Koranzitate. Sie berufen sich auf die Sure „Die Sippe Imrans“: „Halte diejenigen, die auf dem Wege Gottes getötet wurden, nicht für tot. Sie sind vielmehr lebendig bei ihrem Herrn, und sie werden versorgt.“

 

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Die Welt ist schön. Aber nicht für alle. Sonnenuntergang bei Bora Bora. Französisch Polynesien.

 

Der Amoklauf des Attentäters als Ausstiegsszenario für alle Frustrierten dieser Erde? Was für eine apokalyptische Vorstellung. Wenn wir nicht in einer Orgie aus Gewalt, Selbstinszenierung und Untergangshysterie versinken wollen, muss gegengesteuert werden. Ausgangspunkt ist eine einfache Erkenntnis: Solange Menschenfänger wie die von der IS offenbar die bessere Sozialarbeit für Jugendliche leisten, ist alles andere vergeblich. Mit Benzin lässt sich kein Feuer löschen, auch nicht das des Terrorismus.

 

Die Zeugen Jehovas haben ihr Personal an Bahnhöfen aufgestockt. Sie versprechen Erlösung – im Jenseits.

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Stürmische Höhen

Sie ist die Elfe des Pops. Sinnlich, zärtlich, unnahbar. Ihre feine hohe Stimme könnte locker Gläser zum Zerspringen bringen. Kate Bush. Königin der distanzierten Poesie. Ihre beste Zeit hatte sie in den Achtzigern und Neunzigern. „Don´t give up“, sang sie herzzerreißend im Duett mit Peter Gabriel. Doch der Bush-Kult lebt. Ihre Hommage an die Dichterin Emiliy Bronte ist ein Dauerbrenner. Wuthering Heights, auf deutsch Sturmhöhe, zählt im Netz fast 22 Millionen Klicks.

Vor allem weibliche Fans huldigen der Waldfee in roten Strümpfen. Wuthering Heights war 1978 das Debut von Kate Bush. Der erste kommerziell erfolgreiche Song des Pops, komponiert und interpretiert ausschließlich von einer Frau. In ihrem Lied erzählt Kate die Geschichte des Findelkindes Heathcliff, das auszog das Fürchten zu lernen. Nun trafen sich Hunderte Bush-Jüngerinnen in Berlin zu einem Flash-Mob. Ganz in Rot, darunter einige Männer, tanzten sie mehr oder weniger elegant auf dem alten Flughafengelände in Tempelhof. Wie ihre Schwestern in Brighton oder Melbourne.

 

 

„Draußen auf dem trügerischen, windigen Moor
Rollten wir herum und fielen ins Grüne
Dein Temperament war so groß, wie meine Eifersucht
Zu heiß, zu gefräßig

Wie konntest Du mich verlassen
Wo ich Dich doch unbedingt besitzen wollte?
Ich hasste Dich dafür, doch liebt‘ ich Dich auch

Schlimme Träume in der Nacht
Du hast mir prophezeit, dass ich den Kampf verlieren würde
Ich lasse das Wüten, Wüten,
auf der Sturmhöhe hinter mir

Heathcliff, ich bin es, Cathy, Ich bin nach Hause gekommen
Mir ist so kalt, lass mich durch Dein Fenster.“

 

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Kate Bushs Vorbild Emily Bronte. (1818-1848) Wuthering Heights blieb ihr einziger Roman. Sie starb im Alter von dreißig Jahren vermutlich an einer Lungenentzündung, die sie einfach ignorierte.

 

Ein modernes Märchen. Genau das Richtige in Zeiten, in denen die reale Welt nur noch zum Weglaufen ist. Und so träumten sich viele Kates mit Blume im Haar und schwarzem Gürtel in stürmische Höhen. Besucher zückten ihre Handykameras , um das Massen-Ereignis sogleich ins Internet hochzuposten. Aus der Ferne wirkte der Tanz wie ein wogendes Mohnfeld an einem heißen Sommertag. Was für eine wunderbare Wiederkehr für Kate Bush, um die es im schnelllebigen Pop-Geschäft so still wurde. Am 30. Juli feiert die kleine Elfe mit dem roten Kleid ihren 58. Geburtstag.

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Lieber Luther

Am Anfang waren viele Worte – auf Deutsch. Die Bibel. Und dann?  Aufbruch. Reformation. Religionskriege. Staatsdoktrin. Im Gepäck: Deutsche Tugenden wie Arbeit, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit. Deutschland wurde so protestantisch geprägt wie kaum ein anderes Land der Erde. Und heute? Lutherland ist abgebrannt. Es gibt kaum eine Region in der Welt, die so vollumfänglich säkularisiert – sprich: entkirchlicht – wurde wie Luthers Heimat zwischen Eisenach und Wittenberg. Kirche, was war das noch?

Dennoch hat dieser aufbrausende gottesfürchtige Bibel-Mann aus Eisleben, der an Hexen glaubte, die deutsche DNA geprägt wie kein anderer. Bis heute. Die Deutschen sind fleißig, sparsam und obrigkeitsgläubig. Sie sparen wie die Weltmeister, kaufen keine Aktien, sind Überstunden-Rekordhalter, verfügen über das dichteste soziale Netz und lesen nach wie vor am längsten und intensivsten Bücher. Wenn auch nicht mehr Luthers Bibelübersetzung.

 

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Martin Luthers großes Werk. Die Heilige Schrift auf Deutsch.

 

88% der Deutschen geben an, gerne zu arbeiten. Da ist er der Luther, der postulierte, Arbeit sei keine Strafe sondern sinnerfülltes Tun. Aus Beruf machte er Berufung, aus Musik eine Mission. Sein Verdienst: Protestanten haben ein höheres Bildungsniveau als Katholiken und am Ende des Tages im Durchschnitt auch mehr in der Tasche. Zufall? Nein, sagen Luther-Forscher. Die Gemeinwohlorientierung habe er ins deutsche Gen hineingeimpft. Ob in der Rolle eines Dieners des Herrn oder des Fürsten, das spielt längst keine Rolle mehr. Heute ist es der Betrieb, die Bürgerinitiative oder einfach „die Sache“, für die sich die liebe Seele aufopfert.

 

Die angesehensten Berufe sind daher in Deutschland seit vielen Jahren keineswegs Ärzte, Manager oder Ingenieure, sondern in dieser Reihenfolge: Feuerwehrmann, Altenpfleger und Krankenschwester. Auf Platz 6 folgt der Müllmann, übrigens mit großem Abstand vor Wissenschaftlern, Politikern oder Journalisten. Luther hat das Aufopfern und Dienen einer Sache übrigens genauso salonfähig gemacht wie den Antisemitismus.

Nächstes Jahr möchte die Evangelische Kirche 500 Jahre Luther ganz groß feiern. Manche träumen von einer zweiten Reformation. Dazu mobilisiert die EKD im Atheisten- Eintopf- und Besorgte-Bürger-Land alle Kräfte. „Ich und Luther 2017 – Am Anfang war das Wort“ lautet die Parole. Ob neue Seelen in den Kasten springen oder gewonnen werden können, steht auf einem anderen Blatt. Diese Geschichte ist noch nicht geschrieben. Der Ausgang völlig offen.

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Zukunft Heimat

Endlich Sommer. Raus aufs Land. Nur weg aus den Städten, die nerven. Sie sind heiß, hektisch, autistisch. Die Sehnsucht nach der heilen Welt ist längst zu einem Milliardengeschäft geworden. Magazine wie „Landlust“ fahren Auflagenrekorde ein. Dabei zeigen sie das Landleben ähnlich realitätsnah wie der „Playboy“ Frauen, so Barbara Schaefer und Katja Trippel in ihrem Buch „Stadtlust“. Auch Menschen auf dem Land hätten stressige Jobs und Zukunftsängste. Bloß nichts, was sie davon ablenke: keine Theater, keine Kinos, keine Bars. In der Lifestyle-Landleben-Literatur ist davon nichts zu lesen. Nur glückliche Kühe, die hinterm Kräutergarten auf sattgrünen Wiesen wiederkäuen.

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Verweile, ach du bist so schön.

 

Mega-Trend Landliebe. Früher war das platte Land einfach nur eine gefahrvolle und „wüste Region“. Für Reisende  Orte  des „Schreckens und der Einöde“ wie in Mecklenburg. Raubritter und Armut, Frondienste und das Faustrecht bestimmten den Alltag. 1219 trieb Bischof Brunward von Schwerin daher die Christianisierung voran, damit er „leichter Einwohner erlange und das Volk durch den Eintritt der Gläubigen gefestigt werde“. Heute sind die meisten Kirchen hübsch saniert, aber sie bleiben sonntags leer.

 

Von den 82 Millionen Deutschen wohnen weit über sechzig Prozent in der Stadt und knapp vierzig Prozent in Vororten, Kleinstädten oder auf dem Land. Aber 53% der Deutschen wollen laut Umfragen in der Provinz leben. Sogar lieber als Shoppen, Kochen, Wellness. Eine Modewelle? Lieben die Deutschen das Land oder nur die Land-Show? „Es geht um das schnelle Naturglück“, sagt Daniela Pohl von der Werbeagentur Kolle Rebbe. Die Feel-Good-Konsumenten wollen es „romantisch, idyllisch und authentisch“.

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Eine Künstlerin schreibt: „Mir fällt die Stadt ab wie Sand von den Haaren. Ich fühle mich frei, sobald ich von der Autobahn abbiege. Der ganze Druck, Stress, Belastung: Besser sein, schneller sein, immer auf der Höhe sein. Ich werde ruhiger, pflanze in meinem Garten Vergissmeinnicht und ich werde ein anderer Mensch. Nach drei bis vier Wochen zwischen Rüben, Hasen und Blumenkohl will ich allerdings wieder zurück. Dann treibt es mich zurück ins Leben.“

 

Mythos Heimat. Unverdorben. Ehrlich. Bodenständig. Was gibt es Neues im Dorf? ist die Frage. – Was soll es Neues geben? lautet die Antwort. Nun ziehen Radfahrer durch die Provinz. Junge Leute, Familien, kleine Gruppen, Professionelle. Sie starren auf ihre Smartphones oder ihren Navi am Lenker. So sehen sie die Leute im Dorf nicht vor dem Haus sitzen. Keine Zeit für ein Plausch, das nächste Etappenziel muss erreicht werden. Die Zeitgeist-Magazine haben in ihren Sommerausgaben die letzten Paradiese zur Entdeckung freigegeben. „Der Traum-See. Garantiert unberührt.“ Auf geht´s! So treibt sie die Sehnsucht. Immer weiter, immer schneller. Einmal hin und GPS-gesteuert gleich wieder zurück.

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Wo der Zauber zuhause ist

„Psst! Seien Sie bitte leise, hier wird Theater gespielt.“ Der große kräftige Manager am Eingang der Gemeindehalle versperrt freundlich, aber bestimmt den Weg. Wir haben zu spät von der Aufführung erfahren, betteln um Einlass. Wir wollen unbedingt sehen, wie der Milchwald in Dylan Thomas Heimat gespielt wird. Plötzlich erbarmt sich der Mann und öffnet doch noch die Tür.

Der Saal ist völlig überfüllt, es riecht nach Lampenfieber, Schweiß und Aufregung. Das Stück liegt in den letzten Zügen, auf der Bühne heißt es bald: es wird dunkel in der bibelschwarzen Nacht von … Laugharne.

Schlussapplaus brandet auf, der Saal tobt, die Schauspieler sind glücklich, der Regisseur, ein BBC-Mann, eilt auf die Bühne und verneigt sich mit dem ganzen Ensemble. „Unter dem Milchwald“ ist wieder ein voller Erfolg. 1958 wurde das Stück zum ersten Mal aufgeführt, erst auf englisch, später In Dylan Thomas Muttersprache, auf walisisch. Die Inszenierung ist ein großer Kraftakt mit monatelangen Vorbereitungen, vielen Laiendarstellern und einigen wenigen richtigen Schauspielern. Jeder Theaterabend ist ein Fest, ein Erlebnis, die Besucher kommen von überall, sogar aus den USA. Dylan Thomas ist ein gefeierter Autor, von London bis Los Angeles. Jedes englischsprachiges Kind kennt ihn, er ist so bekannt wie Goethe oder Schiller bei uns. Bob Dylan nahm seinen Namen an und Led Zeppelin widmete Dylan Thomas ihre schönste Hymne der Popgeschichte „Stairways to heaven“.

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Dylan Thomas. Poet, Dichter, Trinker. Er starb mit 39 Jahren. Bob Dylan bewundert ihn, nahm seinen Namen an.

 

Hier in Laugharne, an der walisischen Westküste ist der Milchwald zuhause. Von hier stammen die schrägen, eigenwilligen Charaktere, die Dylan Thomas in seinem weltberühmten Stück verarbeitet hat. Jeder macht hier im Sommer mit. Der Enkel von Fleischer Mr. Gleed spielt den strammen Metzgermeister Gossamar Beynon. Der populäre Postbote Adrian Nicholls verwandelt sich natürlich in die Kultfigur Willy Nilly Postmann. Aber auch all die anderen aus dem Stück, ob Reverend Eli Jenks, Misses Ogmore-Prichards oder Mister Organ Morgan,  sind mit Feuereifer dabei. Laugharne, die kleine Küstengemeinde mit rund vierhundert Seelen, ist immer Anfang August völlig aus dem Häuschen.  Bereits in der dritten Generation wetteifern die Laugharner beim Milchwald mit. Irgendwie spielen sie sich selbst, mit großem Engagement, mancher Unbeholfenheit, aber stets mit einem schelmischen Augenzwinkern.

Nach der Aufführung treffen sich Einheimische, Gäste und Schauspieler bei Richard, einer der mehreren Stehkneipen an der Dorfstraße. Es ist  brechend voll und höllenlaut, die Biergläser kreisen über den Tresen. Die Laugharner sind stolz auf ihren Milchwald, auf ihren Dylan Thomas, der in einem nahen Bootshaus vier Jahre seines Lebens verbrachte. Heute ist in dem früheren Schuppen ein kleines Museum untergebracht.

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Die Dichterstube. Heute ein kleines Museum in Laugharne. Dylan Thomas schrieb fast zwanzig Jahre am „Milchwald“. Erich Fried übersetzte seinen Genie-Streich auf deutsch.

 

Bei Richard sieht, hört und erfährt man alles über den verlorenen Sohn, der auszog, um in den buntesten Farben das Leben einer Kleinstadt zu beschreiben. Man trinkt ein Pint nach dem anderen, alle gefüllt bis an den Rand. Dylan Thomas könnte hier stehen. Mitten unter uns, gleich nebenan an der Theke. Und zuhören. Er habe sich hier am wohlsten gefühlt, sagen die alten Laugharner. Der Whiskey sei sein treuer Begleiter gewesen. „Ich habe achtzehn Whiskeys getrunken, das ist Rekord“, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Gestorben ist Dylan Thomas im fernen New York. Nach seiner ersten öffentlichen Lesung im „Poetry Center“ Ende Oktober 1953, die ein riesiger Erfolg war, schleppte er das ganze Honorar in seine Stammkneipe. Er feierte, fiel ins Koma. Zwei Tage lang. Und wachte nicht mehr auf. Da war er 39 Jahre alt. Begraben wurde er in seiner Heimat, in walisischer Erde. In Laugharne.

 

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Seit zwanzig Jahren ist der „Milchwald“ im brandenburgischen Netzeband zuhause. Ein Theaterabend mit Stimmen und Puppen voller Poesie.

 

Laugharne hat sich seitdem kaum verändert. Es ist ein kleiner, sympathischer Ort geblieben. Die Menschen sind  eher verschlossen, aber haben das Herz an der richtigen Stelle. In Laugharne gibt es auffällig viele Kneipen, ein Kirchlein und ein Schloss, das schon lange verfallen ist, einen Sparmarkt, dazu Bäcker, Fleischer, zwei Friedhöfe, eine Buchhandlung, mehrere Kunsthandwerkerläden und eine Schule. Doch einmal im Jahr ist die neue „Jahrhunderthalle“, die mit Hilfe von EU-Mitteln in die strukturschwache walisische Randregion verpflanzt wurde, der unbestrittene Mittelpunkt. Dann ist Milchwald-Zeit, dann kommen die Menschen zusammen, um  ihrer Leidenschaft nachzugehen, dem Theaterspiel.

„Wir sind stolz auf unseren Milchwald“, sagen die Laugharner an der Theke, auch wenn wir in vielen Rollen schräg, verrückt oder äußerst wundersam daherkommen. So what! So ist das Leben, so sind wir.“

 

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„Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der Kleinen Stadt. Sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See. “ So beginnt „Unter dem Milchwald“ (Under The Milkwood)

 

Als die Laugharner erfahren, dass ihr Stück in Deutschland in einem kleinen Dorf nicht weit von  Berlin gleichfalls gespielt wird, wundern sie sich. „Nie davon gehört“, sagen die Thekensteher von Laugharne. Aber ihre Augen strahlen. „Das ist doch großartig, das ist wunderbar.“ Männer und Frauen, ob jung oder alt, klopfen uns auf die Schulter und spendieren eine weitere Lage Bier. Wir stoßen auf Dylan Thomas an und feiern bis tief in die bibelschwarze Nacht von Laugharne. Der Ort, in dem der Milchwald zuhause ist.

Mein Smartphone, mon amour

Ganz ehrlich! Es geht einfach nicht mehr ohne. Nur mit meinem kleinen Freund fühle ich mich sicher, lebendig, überlebensfähig. Mein verlängerter Arm. Mein Hirn. Meine Augen, Ohren, Stimme. Mein Verlangen ist grenzenlos, meine Leidenschaft unstillbar. Das kleine Teilchen ist ein unfassbares Glück.

Es wiegt nicht viel, passt in jede Tasche, begleitet mich von früh bis tief in die Nacht. Es zeigt mir die Welt, ich halte sie fest in den Händen. Ein Blick reicht. Über zweieinhalbtausend Mal berühre ich Dich täglich. Mal zärtlich, mal fordernd, mal ängstlich, mal wütend. So streichle, wische, drücke ich Dich – meine große Liebe – mein geliebt-gehasstes Smartphone. Das Zauberding kann alles, außer Kaffee kochen.

 

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56mal täglich schaut der Durchschnittsnutzer auf PC, Tablet oder Smartphone.

Alles, was Menschen über oder unter Fünfzig vorhaben – essen, trinken, lieben, singen oder vögeln, können sie mit diesem Gerät in Sekundenbruchteilen erleben, organisieren, simulieren. Rund achtzig Millionen Deutsche haben mehr als 113 Millionen Mobilfunkanschlüsse. Mit Apps, Spielen, Netzwerken, ein Verführungspotential in jedweder Art. Ich bin nicht allein.

2.617 Mal pro Tag berühren Smartphone-Nutzer ihr Handy. Das will eine repräsentative Studie herausgefunden haben. Eine Woche lang wurde aufgezeichnet, wie häufig Testpersonen den Touchscreen berühren, um ihr Smartphone zu entsperren, zu tippen oder zu swipen. Auf ein Jahr hochgerechnet gehen die Kontakte in die Millionen Berührungen. Mehr als jedermann/jedefrau jemals den Hund, Partner oder auch nur den Bleistift im ganzen Leben anfasst.

 

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Im Netz ruht das Glück. Über 2.000 Mal berühren wir unser Gerät. Jeden Tag. Im Durchschnitt. Mehr als alles andere im Leben.

 

Was helfen Warnungen der Experten? Benjamin Wockenfuß leitet bei der hessischen Landesstelle für Suchtfragen das Selbsthilfeprojekt webC@RE. Schon vor zwei Jahren erklärte er resignierend: «Viele Menschen bauen Stress ab, verlieren dabei aber den Kontakt zu sich selbst». So schafften sie sich in der virtuellen Welt eine Oase, in der sie keine Enttäuschung erlebten und sich von der Dynamik der Gesellschaft nicht überfordert fühlten.

Die Bundesregierung geht derzeit von mindestens 500.000 Internetsüchtigen in Deutschland aus, Tendenz steigend. Genaue Kriterien fehlen aber. Wer außerhalb von Schule, Studium und Beruf rund dreißig Stunden in der Woche vor dem PC, Tablet und Smartphone sitzt, gilt in Fachkreisen als abhängig, so Benjamin Wockenfuß. Die Annahme, Männer verlören sich vor allem in Rollenspielen und Frauen in sozialen Netzwerken sei nicht mehr zu halten. Viele vor allem ältere Nutzer seien „exzessiv in Plattformen wie Wikipedia und YouTube“ unterwegs.

Willkommen auf meiner Seite!

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Junge bärtige tollkühne Männer mit achtziger Jahre-Haarschnitt stürzten selbstbewusste, überhebliche, topondulierte Profis von ihrem Ross. Eine echte Saga, Marke Island. David gegen Goliath. Tapfere Trolle gegen gigantische Gladiatoren. Sie verhalfen den Briten zum sportichen Brexit. Nun sind die Isländer gegen Frankreich ausgeschieden. Zwei Tore reichten nicht – die Franzosen netzten davon fünfe ein. Egal. Das isländische Sommermärchen ist vorbei. Einziger Wermutstropfen: Nun wird die EM ein wenig langweiliger.

Island hatte nie eine Armee. Seit dem 13. Jahrhundert aber sind Isländer die besten Geschichtenerzähler. „Snorra Edda“ – ihre Blaupause für Heldengeschichten. Seit Jahren liebe ich diese kleine, große Insel am Rande der Welt mit Eis und Feuer, Gletschern und Vulkanen. Bewundere ihre Kultur, ihren Mut und ihre Bereitschaft, Dinge zu ändern, die zu ändern sind. Die 330.000 Einwohner –Bielefeld lässt grüßen – sind Multi-Tasker. Sie ackern, fischen, züchten Schafe, schreiben, dichten, trinken, musizieren und manche spielen mittlerweile so gut Fußball wie die Großen. Die EM ist die Geburtsstunde eines neuen Mythos. Underdogs können mehr. Frisch, fröhlich, furchtlos. Apropos: Ein isländischer Kicker verdient im Durchschnitt in einem Monat so viel wie sein britischer Kollege an einem Tag.

 

 

Wenigstens drei Dinge sollte man über die Isländer wissen.

Nummer Eins. Sie sind ein gastfreundliches Land. Bis 874 lebte kein Mensch auf der Vulkaninsel. Dann kamen irische Mönche, Norweger, Kelten, Dänen, Engländer und nach dem II. Weltkrieg mehrere hundert deutsche Frauen. In Island waren sie knapp. In Deutschland gab es nichts zu futtern. Bereits 993 wurde die Ratsversammlung Althing gegründet: Das älteste Parlament der Welt. Kaiser, Könige oder Diktatoren gab es nie, es sei denn als Eroberer. Seit dem 17. Juni 1944 ist Island unabhängig. Apropos: Es waren natürlich Isländer in der Gestalt von Wikingern, die Amerika (um das Jahr 1000) als erste entdeckten. Und nicht ein gewisser Christopher Kolumbus.

 

Nummer Zwei. Jeder ist mit jedem verwandt, irgendwie um eine Ecke . Im Telefonbuch sind nur Vornamen verzeichnet. Johannson ist der Sohn von Johann und mit 48 Jahren seit kurzem jüngster Präsident des Landes. Gewählt wurde er, weil sein Vorgänger über dubiose Panama-Aktien-Geschäfte  gestolpert war. Gudmundsdottir, ist die Tochter von Gudmund, besser bekannt als Björk. Islands berühmteste Sängerin und Kulturexporteurin. Weil praktisch jeder mit jedem verwandt ist, ähnelt sich auch das Erbgut. Was bedeutet das? Tausende Isländer wurden genetisch durchleuchtet, um Krankheitsgene für Alzheimer und Krebs zu entschlüsseln.

 

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Reykajyvik. 2010. Ein Land im Finanzrausch – bis die Blase platzte. Das Personal wurde ausgetauscht. Die Strech-Limo blieb. Dann fing man wieder von vorne an.

 

Nummer drei. Isländer stehen auch nach dem härtesten Schlag wieder auf. Nach dem Finanzrausch von 2007 und der drohenden Staatspleite 2008 haben die Isländer die Folgen der Spekulationsblase erstaunlich rasch überwunden. Nun ist der rasant wachsende Tourismus größter Devisenbringer. Das Land dient auch als Kulisse für Hollywood. „Star Wars“, „Games of Thrones“ oder Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“ entstanden auf der Insel. „Man findet in Island einzigartige Landschaften, die inspirierendsten des Planeten“, schwärmt Regisseur Darren Aronofsky.

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Sagenhaftes Island. Die Isländer sind Weltmeister im Geschichtenerzählen. Illustration: Kat Menschik. 2011.

 

Sollten die Isländer nun auch noch die Franzosen bezwingen, könnte es sein, dass der Eyjafjallajökull oder einer der anderen 130 Vulkane beschließen, vor lauter Freude Feuer zu speien. Die heimischen Vulkane brechen – rein statistisch gesehen – alle fünf Jahre aus. Die letzte Aktivität war 2010 und – europaweit zu spüren. Als feiner dunkelschwarzer Ascheregen, der alles lahmlegte. Fazit: Was auch immer passiert, die Isländer, klein und fein, spielen groß mit. Oder Halldor?