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Alles bleibt anders

Keine Sorge: Berlin bleibt sich treu. Die Hauptstadt liefert weiter Schlagzeilen, die blankes Erstaunen, Kopfschütteln oder Heiterkeit auslösen. Franziska Giffey, die nach der Pannenwahl in der Wiederholungswahl ihre Wiederwahl verpasst hat, bleibt trotz des Wahldebakels – schlechtestes Berliner SPD-Ergebnis aller Zeiten – voraussichtlich im Amt. Nicht als Regierende, vielmehr als Mitregierende in einer schwarz-roten Koalition. Die will gerne eine ganz Große sein, wird wohl aber eher eine halbstarke Regierungskoalition werden. Der wahrscheinliche, neue CDU/SPD-Senat vertritt 46,6% des Wählerwillens, wobei die größte Gruppe, die der Nichtwähler, gar nicht berücksichtigt ist. Doch das haben wir gelernt. Am Ende zählt nur eines: Mehrheit ist Mehrheit.

 

Potsdamer Platz. Foto: Robin Berndt.

 

Was ist zu tun? Eine Menge. Wohnen, Verwaltung, Bildung, Sicherheit, Verkehr, Umwelt und noch mehr. Wird sich etwas ändern? Wohl kaum. Im Alltag der knapp 4-Millionen-Stadt fehlt es häufig an einfachsten Voraussetzungen für eine bessere und „progressive“ Politik. Ein Beispiel von vielen: Wie hat sich auf Berlins Straßen der Verkehr im Winter 2023 entwickelt? Sind mehr oder weniger Autos unterwegs als im Vorjahr? Wäre gut zu wissen. Das Problem: Die Langzeit-Messstellen, die vorbeifahrende Fahrzeuge aufzeichnen, sind seit Oktober 2022 defekt. Nach Angaben der grün geführten Verkehrsverwaltung hat „die Solartechnik mit sehr alten Batterien“ den Geist aufgegeben. Neue Technik werde installiert. Wo sind die bislang gesammelten Messwerte? Antwort: „Mutmaßlich verloren“. Wenigstens der Berliner Mutterwitz kehrt zurück. Nur ein Beispiel: „Liegt ein Skelett auf dem Flur des Bürgeramtes. Was steht auf der Tür? – Bin gleich zurück!“

 

Sie dreht sich weiter. Weltzeituhr am Alex. Foto: Chris Beutke

 

Die Berliner Verwaltung ist bis zur Unkenntlichkeit kaputtgespart worden. Ihr Hoheitszeichen ist das gute, alte Fax-Gerät. Ohne dieses Kommunikationsgerät geht in Berlin nichts. Trotz x-fach angekündigter Digital-Offensiven. Jetzt „im Frühjahr 2023“ soll das digitale Ummelden des Wohnsitzes tatsächlich wahr werden. Wirklich? Der Berliner Alltag liefert wunderbare Possen. Wenn Bürger Stadtbäume spenden wollen, kann die Realisierung bis zu zwei Jahre dauern. Begründung: „Keine Leute“. Die 2006 versprochene Sanierung einer DDR-Plattenschule in Berlin-Lichtenberg, deren Fenster aus Sicherheitsgründen verschweißt werden mussten, lässt auch 2023 auf sich warten. Die Installierung einer „Lichtzeichenanlage“, volkstümlich Ampel genannt, benötigte in Berlin-Mahlsdorf rekordverdächtige 25 Jahre. Nach einem Vierteljahrhundert Planungs- und Projektierungsphase blinkt sie jetzt. Für Ampelfans die genauen Daten: Hultschiner Damm/Ecke Rahnsdorferstraße.

 

Wohnort: Unter der Brücke, Savignyplatz.

 

Wenn genervte Bürger zur Selbsthilfe greifen, erinnert sich Berlin jedoch seiner preußischen Vergangenheit. Unerlaubtes freiwilliges Engagement stößt auf staatlichen Ordnungssinn. Wer etwa in tristen Innenstadtstraßen Baumscheiben mit frischem Grün bepflanzt, muss mit Maßnahmen des zuständigen Grünflächenamtes rechnen. Ungenehmigtes Grün wird sogleich mit Stumpf und Stiel entfernt. Motto: „Da kann ja jeder kommen“. Dieses behördliche Grundgesetz bekam auch ein Rentner zu spüren. Der Mann begann verwahrloste Parkbänke eigenverantwortlich zu streichen und selbsttätig Schlaglöcher zu füllen. Das ging dann doch zu weit. Der Mann wurde mit einer Ordnungsstrafe belegt.

Keine Sorge. Berlin wächst weiter. Wird größer und weiter attraktiv bleiben. Trotz oder vielleicht wegen seiner Schwächen. „Um Berlin in seiner jetzigen Verfassung zu malen, müsste man den göttlichen Dante Alighieri bemühen, welcher die Hölle und das Fegefeuer zu schildern wusste“, schrieb Alfred Kerr, ein scharfer Beobachter des Berliner Stadtlebens. Das war 1896. Da regierte noch der Kaiser. Und das ist schon ziemlich lange her.

 

Da hilft nur: Vergessen wie. Der neue Berlin-Sound von Peter Fox.

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„Be a Mensch“

Sei ein Mensch, meinte einmal Hollywood-Regisseur Billy Wilder. Das zählt. Sonst nichts. So ein Mensch ist Ruth Weiss, 98 Jahre jung. Mit Kopfhörern und voller Elan gibt sie per skype ein Videointerview zum Reichstagsbrand. Ruth spricht ein wunderbares Thomas-Mann-Deutsch. Klar und deutlich, die Sprache ein wenig altmodisch, aber detailgenau und auf dem Punkt. Ihr Jahrhundertleben beginnt im Juli 1924. Das Elternhaus steht in Fürth, in der Theaterstraße. Die Eltern sind Kaufleute. Die kleine Ruth Löwenthal erlebt eine unbeschwerte Kindheit, wird mit „Wärme, Liebe und Geborgenheit“ groß, bis die Nazis an die Macht kommen. Da ist sie acht Jahre alt: „Ich ging um die Ecke, und da stand er vor mir, mit der Peitsche in der Hand: Julius Streicher.“  Der Mann mit der Peitsche ist der Gauleiter von Mittelfranken (Nürnberg/Fürth) und ein NS-Scharfmacher. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage.

 

Ruth Weiss (2022) Seit 2020 Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Foto: CC BY-SA 4.0

 

1936, im Jahr der Olympischen Spiele können die Löwenthals nach Südafrika fliehen. Hier gehören sie zu den insgesamt rund sechstausend deutschen Juden. Ruth schließt sich als Teenager der „Unabhängigen Kulturvereinigung“ an, einem deutscher Exil-Club.  Dort lernt sie Hans Leopold Weiss (1909-1989) kennen, einen liberalen Intellektuellen, gleichfalls heimatlos wie sie. In jungen Jahren war Weiss in die KPD ein- und im Pariser Exil wieder ausgetreten. Als 24-jähriger Redakteur beim Berliner Tageblatt (Leitung Chefredakteur Theodor Wolff) sieht er als Augenzeuge wie der Reichstag brennt. Der Himmel über Berlin verfärbt sich blutrot, die Kuppel explodiert. Im dunklen Gebäude riecht es nach Benzin. Die Massenverfolgungen beginnen. Der damals 24-jährige Hans flüchtet Hals über Kopf nach Prag, bevor er über Frankreich nach Südafrika auswandert. Seine Rettung.

 

Ruth Weiss zwischen Alexander Mayer und Andrei S. Markovits vor ihrem Geburtshaus in Fürth. (Juli 2022) Foto: CC BY-SA 4.0

 

Ruth und Hans heiraten in Südafrika. Sie nimmt seinen Namen Weiss an. Ruth veröffentlicht als „Hans Weiss“ erste Artikel, so bleibt sie die „graue Maus“ im Hintergrund. „Er füllte mein Leben, glücklich war ich nie.“  Ruth beginnt sich zu lösen. „Wir trennten uns nach einigen Jahren wieder. Er wollte immer den deutschen Pass behalten.“ Ruth geht eigene Wege. Sie beginnt in einer Versicherungsgesellschaft, macht erste Schritte als Wirtschaftsredakteurin. Sie hat Talent. Und Ausdauer. Bald berichtet sie für den renommierten Guardian und die Deutsche Welle aus Afrika. Ihre zweite Heimat Südafrika jedoch bleibt für sie ein absurdes Land. Sie streitet gegen die Apartheid, gerät in den 60er Jahren rasch auf die „Schwarze Liste“, wird zur Persona non grata erklärt und ausgewiesen. Erst mit dem Amtsantritt von Nelson Mandela 1991 wird sie wieder von den Fahndungslisten gestrichen. Einmal erlebte sie den Anti-Apartheid-Führer, in der Küche einer Freundin, die mit ihm im Untergrund zusammenarbeitete: Da saß er am Küchentisch, „vor sich einen dampfenden Teller. Er lachte uns an. Nelson Mandela.“

 

 

Dreimal in ihrem Leben wurde Ruth Weiss ausgewiesen. Aus Deutschland, aus Südafrika und aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Warum? Weil sie sich als linke Jüdin nicht den Mund verbieten ließ. Ob gelber Stern oder schwarze Hautfarbe, sie hat sich in Afrika engagiert „wie dies nur sehr wenige Weiße getan haben“, schrieb Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer im Nachwort zu ihrer Autobiografie „Wege im harten Gras“ (1994). Mittlerweile hat die unermüdliche Autorin ihre siebenbändige Familiengeschichte Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland, vollendet. Ruth lebt heute in Dänemark. Als wir unseren Videocall zum Reichstagsbrand beendet haben, fragt sie noch: „Können Sie damit etwas anfangen?“ Und wie. Ruth Weiss ist ein Mensch, und was für einer. Eine Jahrhundertfrau, die etwas zu sagen hat. Ein Glück, dass es sie gibt. Im Juli wird sie 99.

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„Große Schwester“

Wie bitte? Ihr Partner gendert nicht! Ihr Chef reißt fahle Alt-Herren-Witze! Der dicke Nachbar schimpft über feministische Außenpolitik?! So was von gestern. Aufgepasst: Hilfe naht. Sollten Sie im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz oder beim Familientreffen antifeministische Zoten vom Kümmerling bechernden Onkel aus Buxtehude  ertragen müssen, einfach melden, und zwar bei der neuen Meldestelle Antifeminismus. Der offizielle Titel lautet: „Meldestelle für Betroffene von Hass gegen Frauen und andere geschlechtliche Minderheiten“. Sollte es sich beim Onkel aus Buxtehude um eine „Person öffentlichen Interesses“ handeln, können Sie ihn ruhig namentlich nennen. Start frei für „Germanys Next Top Blaming“.

„Wir sind überrannt worden – es ist erschreckend zu sehen, wie viele Fälle schon reingekommen sind“, sagt Judith Rahner, Initiatorin der Meldestelle bei der Antonio-Stiftung der WELT. Endlich können „organisierte Kampagnen gegen geschlechtergerechte Sprache“ oder „Angriffe auf queere Menschen und Einrichtungen“ gemeldet werden. Eingehende Daten würden nach Art und Anlass kategorisiert. Das gesammelte Wissen soll zur Schulung für Polizei und Justiz genutzt worden. Kritik an der staatlichen Meldestelle kontert das federführende Familienministerium: „Bitte beachten Sie, dass grundsätzlich keine Klarnamen oder persönlicher Personen mitgeteilt werden“. Ausnahme, „sofern es sich nicht um Personen öffentlichen Interesses handelt“. Wie gesagt, Achtung! Ihr Brüderles, Kubickis, Lindners und alle anderen im Lande: Zügelt Eure Zungen.

 

Bitte melden! Das neue Portal des Bildungsministeriums.

 

Wäre es da nicht konsequent weitere Meldestellen einzurichten? Für eine bessere Politik, im Namen des Fortschritts? Der Urtrieb des Menschen missliebige Menschen anzuschwärzen ist unermesslich und kann optimiert werden. Was ist mit abfälligen Äußerungen über Klimawandel, Elektroautos, Lastenfahrräder, Corona-Impfungen, Hafermilchtrinker oder Mitglieder der Bundesregierung? Kurzum: warum nicht politisch unkorrekte Worte oder Witze direkt melden können? Sinnvoll wäre zurzeit auch eine Meldestelle Putinversteher oder eine Meldestelle Grundsteuerverweigerer. (hier bitte eigene Wünsche ergänzen und an die Bundesregierung schicken) Somit könnte „total innovativ“ und mit viel Wumms eine neue Dimension der Debattenkultur nach dem deutschen Reinheitsgebot erreicht werden. Melden. Enter. Genau.

 

Schöne Neue Welt. 2023. Meldet, was stört. Quelle: Amadeo-Antonio-Stiftung-

 

„Winstons Umerziehung macht Fortschritte. Er übt sich im „Doppeldenk“: widersprechende Argumente entweder gar nicht sehen oder nicht begreifen. Doch als ihm Julia im Traum erscheint und er laut nach ihr ruft, erkennt O’Brien, dass Winstons Liebe zu Julia ungebrochen ist. Er wird in das berüchtigte Zimmer 101 gebracht. Dort erwartet jeden Menschen seine persönliche Hölle. Danach glaubt Winston endlich frei zu sein, durch seine neu entdeckte Liebe zum Großen Bruder. Die Gehirnwäsche war erfolgreich.“

 

 

Wir ersetzen Orwells Großen Bruder (1984) durch das 2023 zeitgemäßere Große Schwester. So könnte das grüne „Petz-Portal“ zur Erlangung von „Täter*innendaten“ (Antonio-Stiftung), ausgestattet mit Staatsknete und dem Versprechen „ausnahmslos anonymisiert“ zu sein, in eine progressive Zukunft führen. Wer das meint, glaubt vermutlich auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Sorry, Falter*innen!

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Mona Lisa

„Lisa, der YouTube-Star aus Hollywood, genießt ihren Erfolg in vollen Zügen. Mit ihren charmanten Videos hat sie eine riesige Fangemeinde aufgebaut und ist zu einer festen Größe in der Online-Community geworden. Doch mit dem Ruhm kommen auch Intrigen und Neid. Viele Neider versuchen, Lisa zu schaden und ihr den Erfolg zu nehmen. Trotzdem lässt sich Lisa von solchen Dingen nicht beeinflussen und bleibt positiv und optimistisch. Sie weiß, dass hinter jeder Intrige auch ein Stück Eifersucht und Neid steckt und dass sie es sich durch ihre harte Arbeit und ihr Können verdient hat, wo sie heute steht.

Doch auch wenn Lisa glücklich und erfolgreich ist, spürt sie manchmal eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Heimat. Sie vermisst ihre Familie und Freunde und das Gefühl von Geborgenheit. Doch dann denkt sie an all die unvergesslichen Erlebnisse, die sie in Hollywood hatte, und weiß, dass sie am richtigen Ort ist. Lisa ist ein Vorbild für viele junge Menschen und zeigt, dass man mit harter Arbeit, Mut und Positivität alles erreichen kann. Sie beweist, dass Erfolg keine Frage des Zufalls ist, sondern dass man selbst dafür verantwortlich ist.“

 

KI macht´s möglich. Texte, Bilder, Grafiken in Sekundenschnelle zu allen Themen, Wünschen, Lebenslagen.

 

Voilà. Vorsicht Falle! Unser Mona Lisa-Anfang ist komplett KI-gesteuert. Dank ChatbotGPT . Ein paar Stichwörter eingeben. Los geht´s. Die neue digitale Wundermaschine erobert in diesen Tagen Herzen und Hirne. Mit Rückenwind von Microsoft und Elon Musk gepusht, soll ChatbotGPT dem Marktführer Google Paroli bieten. Das Feuilleton überschlägt sich. Digital generierte Texte. Alles wird anders: Schule, Universitäten, Journalismus, Behörden, Business und Politik werden eine KI-Revolution erleben. Eine Veränderung, die so bahnbrechend sein soll wie die Einführung des Smartphones vor fünfzehn Jahren. Schöne Neue Welt! Alles Klar. Wir testen weiter: Was empfiehlt nun meine neue Mitarbeiterin ChatbotGPT? Welches Video soll ich mir von Lisa anschauen?

„Als KI habe ich keine Möglichkeit, Videos anzusehen, aber ich kann Ihnen empfehlen, nach Videos von Lisa auf beliebten Plattformen wie YouTube oder TikTok zu suchen. Sie können auch nach bestimmten Themen suchen, die Sie interessieren, wie zum Beispiel Mode, Beauty, Lifestyle oder Reisen, um ein Video von Lisa zu finden, das Ihnen gefällt. Wichtig ist, dass Sie immer darauf achten, dass Sie vertrauenswürdigen Quellen folgen und aufpassen, dass Sie keine gefälschten oder unangemessenen Inhalte anschauen.“

 

 

Aha. Also wähle ich die Musik auf YouTube selbst aus. Allerdings steuen auch hier die Algorithmen die Ergebnisse. Vorneweg US-Teenie-Girl Lisa mit Money, bislang 765 Millionen Klicks. Die eher relaxte und Bossa-Nova-jazzige Lisa Ono 6.1 millionenmal. Alle anderen Lisas, ob Stansfield, Eckhart oder wie auch immer überlasse ich Ihrer eigenen digital beflügelten Fantasie. Marktführer Google liefert in 57 Sekunden zurzeit 1.750.000.000 Lisa-Treffer. Da wird sich doch was finden.

 

 

Ein Gedanke zum Schluss. Meine Texte werden weiter handgemacht. Ohne KI. Aber mit all meinen Leidenschaften, Irrtümern, Ecken und Kanten. Versprochen!

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Wo ist Kamala?

„Lass dir von niemanden sagen, wer du bist. Sag du ihnen, wer du bist.“ Mamas Motto für Kamala Harris, Vizepräsidentin der USA. Das Einwandererkind, das es bis ganz nach oben geschafft hat. Vater Donald, ein Wirtschaftswissenschaftler aus Jamaika, Mutter Shyamala Gopalan aus dem Südosten Indiens, Krebsforscherin. Ihre Eltern waren wie Feuer und Wasser. Sie nannten ihre Tochter Kamala, das bedeutet Lotusblüte. Die Kleine war fünf, als sie sich trennten. Und doch symbolisiert Kamala den amerikanischen Traum: „Du kannst die Erste sein, aber bleib nicht die Einzige“. Kamala, die Perfektionistin. Malocherin. „Top-Cop“, Kämpferin für Gerechtigkeit.

Viele fragen sich: Was macht die große Hoffnungsträgerin? Warum hört man nichts? Liegt es an den Medien, an der Bürde des Amtes oder an ihr? Zu ihrer Halbzeitbilanz twitterte die 58-jährige lediglich: „Nach zwei Jahren im Amt kann ich zuversichtlich sagen, dass wir an einer besseren Zukunft arbeiten.“

 

Kamala Harris und Joe Biden. 3. Februar 2023. Das offizielle Bild des Weißen Hauses zur Halbzeitbilanz.

 

Die Zeit schreibt, sie sei nicht nur für ihre Fans eine Enttäuschung. Die Welt kolportiert Beschwerden aus dem Weißen Haus, Mitarbeiter müssten sich erheben, wenn sie einen Raum betrete. Kaum zu glauben. Vor ihrem Amtsantritt sagte sie: „Wenn man durch die gläserne Decke stößt, dann schneidet man sich, und es tut weh. Es geht nicht ohne Schmerz.“ Kamala Harris hat als schwarze Zuwanderertochter „zweischneidige Erfahrungen“ gemacht. Ein starkes Gefühl der Zielstrebigkeit und Hoffnung, einen „tiefen Glauben an den amerikanischen Traum und die unbegrenzten Möglichkeiten“. Zugleich erfuhr sie alltäglich Vorurteile, Schuldzuweisungen und Diskriminierung. Jede Passkontrolle als Herausforderung.

 

Wie aus einer anderen Zeit. Washington. Juli 2021. Originaltext: Vice President Kamala Harris greets German Chancellor Angela Merkel Thursday, July 15, 2021, at the Vice President’s Residence in Washington, D.C. (Official White House Photo by Lawrence Jackson)

 

„Schau dich um. Denk nach“, gab ihre Mutter Kamala auf den Weg: Aufgeben gilt nicht.  Doch selbst die Kämpferin stößt an Grenzen. Ihre geliebte Mutter, die Krebsforscherin, erliegt 2009 genau der Krankheit. Sie studiert Jura, stürzt sich in Arbeit. Als erste schwarze Bezirksstaatsanwältin kämpft sie gegen eine „kaputte Strafjustiz“, mit Willkür und Rassismus.  Sie ermittelt wegen Mord, Menschenschmuggel, Hassverbrechen, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Schulschwänzer, Bankenopfer, betrogene Studenten (Corinthian Colleges) kriminelle Banden. Sie kämpft für Zuwanderer, Frauen und Senioren, gegen Abschiebung von Einwandererkindern. Und sie macht Karriere, an der Seite des zuweilen senilen Joe Biden bis hinauf ins Weiße Haus.

 

Kamala Harris als Bezirksstaatsanwältin. Spitzname: „Top-Cop“. 2014 anlässlich der Feier „50 Jahre Civil Rights Act“.

 

„Ich bin überzeugt, dass es kein stärkeres Mittel gegen das Gift unserer Zeit gibt als gegenseitiges Vertrauen.“ So verspricht sie für ihre Vizepräsidentschaft gegen Masseninhaftierungen, Pharmakonzerne, Kredithaie und die Leugnung des Klimawandels vorzugehen. In ihren ersten Amtsjahren reibt sie sich jedoch eher an der Reform des Wahlrechts auf, achtet als Vize penibel darauf, nicht die Kreise des Chefs, des Präsidenten zu stören. Auffällig: Für die Linken ist sie nicht „schwarz“ und progressiv genug, für die Rechten ist sie als People of Colour im Weißen Haus eine tägliche Provokation. Demnächst hält Joe Biden zur Halbzeitbilanz seine Rede zur Lage der Nation. Kamala Harris steht an seiner Seite, lächelt routiniert und kontrolliert. Nicht mehr unbefangen, selbstbewusst und fröhlich wie früher. Ist das der Preis der Macht?

 

Im Hause Harris eine Hymne. Aretha Franklins: Young, gifted and black.

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Die Wahl

Bald darf Berlin wieder wählen. Weil die letzte Wahl in die Hose ging. Sie muss wiederholt werden, wegen „eklatanter Mängel“. So ist das in der Hauptstadt. Alle wollen hin, nichts funktioniert richtig. Nicht einmal Wahlen. – Ausweis verloren? – Wohnung ummelden? – Katastrophe. Wartezeit bis zu drei Monate. Nachwuchs stellt sich ein. Was für ein Glück! Doch das Berliner Murkelchen muss warten, bis es seine amtliche Geburtsurkunde bekommt. Sterben muss jeder. Doch in Berlin dauert das behördliche Ableben besonders lange. Für die Sterbeurkunde brauchen Angehörige viel Geduld. Es gibt noch Fälle aus dem letzten Sommer. Ein Bestatter klagt. „Eine Person, die Weihnachten 2021 gestorben ist, konnte noch nicht beerdigt werden.“ Wer im Januar 2023 heiraten will oder einen Wohnberechtigungsschein benötigt, sollte Nerven wie Stahlseile haben… es wird langweilig. Es reicht.

Das Kernproblem der wachsenden Metropole an der Spree hat einen Namen: Verantwortung. Präziser: das Fehlen derselbigen. Dieser Begriff scheint ein unaussprechliches Fremdwort aus vergangenen Zeiten geworden zu sein. Der für die Wahlpleite zuständige Innensenator ist weiter im Amt, wenn auch in einem anderen. Momentan versucht er das Mega-Wohnungsproblem zu lösen. Durchwursteln ist der Berliner Markenkern. Behördenpingpong heißt das. Eine (Verkehrs-) Ampel kann bis zu 25 Jahre dauern. Merkwürdigerweise wird die organisierte Unzuständigkeit beklagt und erduldet wie das nasskalte Schmuddelwetter im grauen Berliner Winter. Fehlt der Stadt eine funktionierende Stadtgesellschaft oder ist diese Leidensfähigkeit typisch für Millionenstädte, nicht anders als etwa in Kairo oder Mexiko-City?

 

Berlin. Friedrichstraße. Foto: Bianca Girlich

 

Berlin hat die Wahl. Wie es nach Umfragen aussieht, wird sich nicht viel ändern. So können weiter bunte Luftschlösser versprochen, ein paar Straßen gesperrt und ein paar neue rot-grüne Symbolmaßnahmen diskursiv, nachhaltig und geschlechtergerecht verkündet werden. Berlin bleibt die Stadt der Projekte. Identität ist alles. Früher hieß es dazu: „Jeder nach seiner Façon“. Heute geben sich die tonangebenden Milieus „woke“, „queer“ oder „divers“. So gibt es in der Hauptstadt immer weniger Erwerbsarbeit. Dafür dominiert die Arbeit an Geist, Körper und Seele. Am besten nach einem Hafermilchdrink auf der Yoga-Matte.

Hallo Berlin! Du erfindest dich immer wieder neu. Das ist deine Stärke. Die Stadt bietet Außenseitern und Minderheiten Schutz. Zehntausende Kreative suchen den Sound, hoffen auf den richtigen Kick, werkeln am passenden Chic. Sie träumen vom großen Wurf, von Glanz, Licht, Ruhm und Anerkennung. Was gibt es Ehrlicheres als nach einer durchzechten Berliner Nacht frühmorgens mit Brummschädel nach Hause zu wanken, dabei die Götter anzuflehen, endlich das Glück auf einen hernieder prasseln zu lassen. Bis schließlich der Kater zuschlägt.

 

In einem sechs Jahre alten Werbefilm über Berlin heißt es: „Wenn man es sich schön macht, auch wenn es hässlich ist“. Und: Hoffen auf den nächsten Sommer.

 

Zu Berlin noch ein paar Anmerkungen:

„Es fehlt das Pathos, das falsche, aber auch das echte, und damit fehlt die Fähigkeit, sich schön dazustellen. Die neue Stadtbevölkerung, die die statistischen Ziffern ruckhaft in die Höhe schnellen machte, war jung, rücksichtslos und unternehmend. Dieser Mittelstand hat sich ohne Einschränkung zum Anwalt des Kapitalismus gemacht, zum Anwalt aller kapitalistischen Tugenden und Laster. Er betet den Amerikanismus an, weil er sich selbst darin wiederfindet, und gibt sich der Gottheit der Quantität uneingeschränkt hin.“

„Die Annahme, die Provinz hasse und verabscheue Berlin, ist nur zum Teil richtig. Man hat in der Provinz wohl den Instinkt für die Unproduktivität des hauptstädtischen Geistes, und man höhnt über jede sichtbare Unzulänglichkeit; aber daneben herrscht allgemein auch Neid auf die Genüsse, die die Großstadt zu bieten hat.“

Die letzten Zitate stammen aus der Feder eines zugezogenen Berlin-Kritiker. Karl Scheffler hieß der gebürtige Hamburger, der 1910 der Stadt in der märkischen Streusandbüchse diesen Satz schenkte: „Berlin ist dazu verdammt: Immerfort zu werden und niemals zu sein.“

 

Tanzende. 1920. Der in Berlin lebende polnische Maler Wladyslaw Roguski wurde 1940 von den Nazis ermordet.

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Warten auf den 101er

Bushaltestelle U-Bahnhof Konstanzer am Berliner Preußenpark. Alle zwanzig Minuten hält hier ein Bus. Nicht weit vom Kurfürstendamm, im gutbürgerlichen Wilmersdorfer Westen. Seit vielen Monaten sitzt in der Haltestelle eine Frau und wartet auf den Anschluss. Sie hat sich mit Decken, Tüten, Rollkoffer und Schirm auf den Sitzbänken eingerichtet. Sie wohnt, lebt, schläft hier. Die Busse kommen, halten und fahren weiter. Sie steigt nicht ein. Mit einem Handbesen hält sie Ordnung, fegt den Boden. Meistens hat sie sich in Decken gehüllt. In eiskalten Januar-Nächten wie an heißen Julitagen. Der Hauptstadtverkehr tobt an dieser vielbefahrenen Kreuzung. Passanten hasten achtlos vorbei. Die Frau bleibt. Ihre Adresse ist die Bushaltestelle 101. Sie ist eine von tausenden Obdachlosen in der Hauptstadt. Ganz in meiner Nähe.

Wer ist diese Frau? Woher kommt sie? Welcher Schicksalsschlag hat sie in die Wartehalle verbannt? Ist sie freiwillig hier? Hat sie Familie? Einen Mann? Kinder? Freunde? Verwandte? Wer kümmert sich um sie? Wie hält sie das durch? Auf alle diese Fragen kann ich keine Antwort geben. Ich habe sie angesprochen, ihr Geld geben wollen. Sie hat mich brüsk und voller Stolz abgewehrt und schimpfte auf Slawisch. Sie muss irgendwo aus Osteuropa im Berliner Westen gestrandet sein. Einmal habe ich ihr heimlich einen Schein zugesteckt, während sie offenbar schlief. Ein anderes Mal habe ich gesehen, wie sie in ihrer Haltestelle für Sauberkeit gesorgt hat. Die kleine, stolze Frau muss älter sein. Ihr Gesicht ist von den Strapazen der Straße gezeichnet.

 

Haltestelle 101. Mitte Januar 2023. Außentemperatur: -2 Grad.

 

Direkt hinter der Bushaltestelle ist ein großer Spielplatz. Gegenüber befindet sich eine Kirchengemeinde. Laufen alle an ihr vorbei? Ob andere Menschen ihr etwas zustecken? Wo isst sie? Was hat sie zum Leben? Was – vom Leben? Wieder fährt der 101er vor. Er hält nur  kurz, weil niemand einsteigt. So ist das alle zwanzig Minuten, im Berufsverkehr alle zehn Minuten. Ich habe aus meiner journalistischen Arbeit mit Obdachlosenprojekten gelernt, wie schnell ein Mensch alles verlieren kann. Haus und Hof, Familie und Freunde, Beruf und Gesundheit. Halt und Hoffnung. Wer keine Hilfe findet, landet am Ende auf der Straße. Oder an der Haltestelle des 101er.

In den letzten Nächten war es in Berlin bitterkalt, deutlich unter dem Gefrierpunkt. „Meine Busfrau“ sitzt in ihrer Wartehalle dick vermummt. Die Decke über den Kopf gezogen. Die Decke bewegt sich. Sie atmet. Sie lebt. Ich habe die Notnummer des Kältebusses gewählt. Mein Hilferuf schaffte es nur bis zum Anrufbeantworter. Zurückgerufen hat niemand. Vielleicht waren sie vor Ort? Oder haben die Freiwilligen einfach zu viel zu tun? Mich quält eine Frage: Was macht man mit Menschen, die in Not sind, sich aber nicht helfen lassen wollen? Jeder Mensch ist doch bestimmt zu leuchten.

 

Haltestelle 101. Anfang Juli 2022. Außentemperatur: +30 Grad.

 

Die Berliner Notnummern: Kältebus der Berliner Stadtmission. Tel. 030 699333690. 20 – 3 Uhr. Wärmebus des Deutschen Roten Kreuz. Tel. 030 600 300 1010. 18-24 Uhr.

 

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Last Song

„Gitarrengott. Jahrhundert-Gitarrist. Saitensänger“. Die Nachrufe auf den 78-jährigen Geoffrey „Jeff“ Arnold Beck schwelgen weltweit in Superlativen. Jeff Beck verabschiedete sich in diesen Tagen überraschend – für immer. Wenn es ein Himmelsorchester gibt, dann erhalten Jimi Hendrix, B.B. King, Chuck Berry, Prince, Stevie Ray Vaughan und viele andere eine brillante Verstärkung. Das Fachblatt Rolling Stone setzte den Briten einmal auf Platz fünf der 100 besten Gitarristen aller Zeiten. Dabei landete der stille Gitarrero kaum eigene Hits. Er sprang in den Sechzigern für Eric Clapton bei den Yardbirds ein. Spielte gemeinsam mit Jimmy Page. Jeff war der Typ vielgefragter Studiomusiker. Seine Mission? Er verfeinerte Songs, experimentierte, ließ mit seiner Fender-Stratocaster die Saiten singen, gemeinsam mit Rock-, Blues- oder Jazz-Größen. Er brachte seine Gitarre zum Sprechen. Tanzen. Vibrieren. Lachen. Weinen. Und wie!

„Wenn du nicht singst, musst du dich auf das konzentrieren, was die Leute hören. Klang ist alles“, meinte Jeff Beck. Seine Neugierde leitete den Gitarristen über sechzig Jahre: im Studio, in kleinen Clubs oder auf großen Bühnen. Ein schönes Beispiel, wie Jeff seinen Gefühlen den richtigen Drive geben konnte, ist: Cause we´ve ended as lovers.

 

 

Drei Wochen vor Woodstock löste Jeff Beck 1969 seine Band auf und verpasste den ganz großen Durchbruch. Dafür experimentierte er in den Siebzigern mit Jazz-Größen wie dem tschechisch-amerikanischen Keyboarder und Komponisten Jan Hammer. Später jammte er gemeinsam mit Stevie Wonder im Rhythmus von Soul und Funk. Hier „Superstition“  – eine Live-Version des Welthits.

 

 

Jeff Beck: „Ich liebe es, wenn jemand meine Musik hört, aber keine Ahnung hat, was ich für ein Instrument spiele. Das ist für mich das größte Kompliment“. Hier folgt ein Live-Auftritt mit der wunderbaren Beth Hart aus dem Jahre 2017. Die beiden interpretieren I’d Rather Go Blind.

 

 

Vor wenigen Tagen hat Jeff Beck seine Lebensreise beendet. Trotz des Alters kam sein Tod überraschend. Eine Meningitis-Infektion war stärker. Noch im vergangenen Herbst 2022 war er mit Johnny Depp und ihrem Album „18“ auf Welttournee. Zum Abschied ein Live-Mitschnitt aus dem legendären Crossroads-Festival von 2007.

Jeff. Ich hoffe, es gibt im nächsten Level eine Gitarre für Dich und gutgelaunte, musikalische Mitstreiter. Spiel weiter, wo immer du auch bist.

 

 

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Amour fou Teil 5 – Finale

Was blitzartig entflammt, kann glänzend leuchten. Irgendwann verlischt das Licht wieder. Es wird ausgepustet. Oder vergeht, hat keine Kraft, findet keine Nahrung mehr. Was ist Glück? Keine Termine und leicht einen sitzen, meinte einmal ein Berliner Entertainer. Ingeborg Bachmann und Max Frisch waren beide stets auf der Suche nach dem kleinen und großen Glück. Sie wussten: Schreiben kann Küssen mit dem Kopf sein. Am Ende ihrer aufregenden, rasch aufreibenden gut vierjährigen Beziehung werden die Briefe kürzer, schärfer und unversöhnlicher. Gebrochene Herzen schmerzen. Leben will ich, heißt es so schön: und nicht immer nur so tun.

Mittlerweile streiten sich die Gelehrten, ob der Briefwechsel „eine Sensation“ oder „auf keinen Fall“ hätte veröffentlicht werden dürfen, weil Privates privat bleiben sollte. Hier meine letzte Folge von kurzen Auszügen, das Finale einer Amou fou der Literaturgeschichte. Wer es genauer wissen will: „Wir haben es nicht gut gemacht“ bietet (mit mehreren Nachworten) auf mehr als tausend Seiten viel Lesestoff.

 

Dokument der Auseinandersetzung auf der Rückseite eines Briefes. Juli 1962. (Brief 157) Quelle: Piper/Suhrkamp

 

2.Juni 1963 – Rom Max Frisch

„Liebste Ingeborg,

Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider, ohne unser Zutun. … Ich danke Dir noch einmal für die Lektüre meines Manuskripts, für den entscheidenden Ansporn, den Du mir von Anfang gegeben hast zu diesem Unternehmen, das so gefährlich ist, das ich manchmal verzweifle. Deine Kritik ist für mich einleuchtend. Dass vieles noch sehr schlecht geschrieben ist, sagst Du nicht, aber ich weiß es ja; ich möchte den Sommer verwenden. Inzwischen hat sich schon viel verändert, teils auch in dem Sinn deiner Kritik. …

Es ist auch mein eigener Wunsch, dass ich das fertige Manuskript, bevor ich es aus der Hand gebe, nochmals zeigen darf. Das wäre, so hoffe ich, im Herbst. Außer einem Abschnitt (Gantenbein als Vater) ist jetzt alles skizziert, aber streckenweise so dürftig geschrieben, dass ich schwitze, wenn ich darin lesen muss. Es ist mein höchster Ehrgeiz, dass das Buch vor Dir bestehen kann; das ist, ich weiß, nicht ein fernes Ziel, und dann zweifle ich wieder, ob ich es erreiche, aber dann werde ich es auch nicht herausgeben. Lass mich also wissen, wann und wo Du ankommst.

Alles Gute dein alter Max“

 

20. Juni 1963 – Ingeborg Bachmann (auch an Marianne Oellers)

Rom Hotel Savoy, wo ich wohne

„Max, dieser Brief ist auch für Marianne bestimmt, sie soll ihn mitlesen. Ich reise heute ab, es ist also zum zweitenmal gelungen, mich loszuwerden, nur ich reise diesmal mit einem anderen Gefühl, dem der totalen Hoffnungslosigkeit. …

Leb wohl. … Was uns betrifft, das ist auch kein Geheimnis vor ihr; wir werden einander nicht mehr sehen, nach diesen Worten nicht. Ich bin nach Rom gekommen, nicht Du nach Berlin, und das hat ein Ende. Ich kann nicht weiter.

Ingeborg“

 

 

21. Juni 1963 – Rom Max Frisch

Liebste Ingeborg,

…“Was deine Freunde sich dachten: ob ich dir zu alt bin oder nicht außerordentlich genug, verglichen mit ihnen, soll mich nicht kümmern. Du machtest mich (da ich das Wort schon einmal in den Mund genommen haben´, zögere ich nicht mehr es zu verwenden) zum Arschloch, wenn ich mich dann, sei es in der Gegenwart oder ebenso ohne deine Gegenwart, durchaus zu deinem Gefährten ausgab. … Und ich wünsche Dir Glück, Ingeborg, ich wünsche es Dir wirklich. Ich habe Dich sehr geliebt.

Dein alter Max“

 

Ingeborg Bachmann Quelle: Münchner Stadtmuseum

 

20. März 1964 – West-Berlin Ingeborg Bachmann

Lieber Max,

ich will alle Briefe zurückhaben, nicht nur die Zettel und Briefe, die mir versprochen wurden und die bis heute nicht eingetroffen sind, nach monatelangem Warten. Auf die Angabe der Gründe verzichte ich, da Du sie kennst und ich Dir die Aufzählung ersparen möchte. Ich möchte nur noch jedem denkbaren Missbrauch vorbeugen, und es ist selbstverständlich, dass ich nichts aufbewahren werde. Ich versprach Dir schon vor langer Zeit, dass ich Dich, Deine Arbeit und alles immer schützen werde. …

Ich ersuche nur noch um die rasche Rücksendung aller Papiere, damit die Tortur ein Ende hat.

I.“

 

Max Frisch. 1960. Quelle: DHM

 

6. April 1964 – Rom Max Frisch

Liebste Ingeborg,

… “Ich will alle meine Briefe zurückhaben, schreibst Du. Diesen Wunsch werde ich Dir nicht erfüllen. Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe Dir gehören. Wenn Du dir eine Tortur daraus machst, dass Du mir einen gemeinen Missbrauch mit den Briefen zutraust, kann ich Dir nicht helfen. Du wirst dich damit begnügen müssen, dass ich jede Veröffentlichung von Briefen testamentarisch verboten habe, nicht jetzt, schon vor Jahren. …

Wenn Du immer und immer wieder verletzt sein willst, kann ich´s nicht hindern, auch damit nicht, dass ich auf diesen feindseligen Ton mit Ruhe antworte. Ingeborg! Das ist nicht gut, ich beschwöre Dich.

Dein alter Max“

 

ENDE

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Amour fou Teil 4 – Alles wird anders

Das neue Jahr beginnt mit einem Heiratsantrag. Warum nicht? Entscheidend ist, ob die Werbung zum passenden Zeitpunkt kommt. Und ob der oder die Angesprochene Ja sagt.  Es geht um das Wagnis der Ehe mit Zweisamkeit bis „an das Ende unserer Tage“. Das bedeutet in aller Konsequenz eine feste Bindung mit Trauschein. Für supersensible Kopfmenschen wie Ingeborg Bachmann und Max Frisch wäre die Ehe eine heikle Sache geworden. Wer ständig nach Freiheit und Unabhängigkeit strebt, muss eine Bindung rasch als Gefängnis empfinden. Bachmanns Antwort auf den Frisch-Antrag blieb aus. Verheiratet waren die beiden nie. Dennoch zeigt die vierjährige Affäre alle Merkmale der „Banalität einer Beziehung“. Alltag kehrt ein, mit Missverständnissen, gekränktem Stolz und Eifersucht. Aus dem stürmischen Wagnis zum gemeinsamen Glück ergeben sich alsbald komisch-traurige Szenen wie in einer Ehe. Bachmann und Frisch sind sich am Ende in einem Punkt einig: Wir haben es nicht gut gemacht. Ihr nun vorliegender Briefwechsel ist auch 2023 eine Empfehlung.

 

8. Oktober 1959 – Portoverene Max Frisch

Meine geliebte Ingeborg!

Ich sehne mich sehr nach Dir, aber das soll Dich nicht stören in deinem Glück, wieder allein zu hausen; auch dieser Brief soll Dich darin nicht stören. Genieße es, arbeite, erschrick nicht! Du weißt es ja schon, was ich Dir schreiben will. Das Jahr seit Portovenere erscheint mir als ein großer Weg für uns beide; ich stehe, wo ich ohne Dich nicht stünde, und glaube, auch Du stündest anderswo, wenn wir einander nicht gefunden hätten, vor allem (wenn) wir einander nicht schon einmal verloren, und durch den Verlust wiedergefunden hätten, wieder und anders und ohne Zurück.

Ich möchte, dass du meine Frau wirst, Ingeborg, dass wir heiraten und dafür eine Einrichtung finden, die dir deine Arbeit und deinen Selbstsein nicht verhindert, aber eine wirkliche Ehe mit der vollen Verbindlichkeit. Sag mir jetzt nichts; ich werde Dich zum Jahresende fragen, ob Du es auch wollen kannst. Bedenke dabei auch unseren Altersunterschied. Ich weiß jetzt, dass ich es nicht nur will, weil Du es einmal erwartet hast, sondern ich glaube, dass wir jetzt nach diesem Sommer erst im Stande sind zu unserer Ehe.“

 

Das Leben – ein Schachspiel? Ingeborg Bachmann. Frühjahr 1962 Foto: Österreichische Nationbibliothek

 

11. Oktober 1959 – Zürich Ingeborg Bachmann

„Liebster,

ich habe heute deinen Expressbrief von der Sihl-Post abgeholt; beim Wiederlesen jetzt wo ich Dir drauf antworten wollte, bemerkte ich, dass du sagst, ich solle jetzt nicht darauf antworten – also tue ich es nicht. Aber ich danke Dir sehr, sehr. … Ich brauch dich so! Aber wie soll ein Bär das aushalten, so eine Frau ohne Zeitbegriff und mit Schwermut. Ich liebe dich und ich umarme dich fest, fest – Deine Ingeborg“

 

18. November 1960 – Uetikon Ingeborg Bachmann

Liebster Max,

… Ich fürchte, der schwerere Fall bin ich, obwohl es mir auch gut geht. Aber heute morgen (mittag) bin ich wirklich verzweifelt aufgewacht, denn was mit meinem Schlaf los ist, das ist langsam zum Verrücktwerden. Es zerstört mir den ganzen Tag und nachts kann ich doch auch nicht arbeiten. Ich bemühe mich derart zu einer Normalität zu kommen, mit Pulvern, Anstrengungen, aber es wird immer schlimmer.

Gestern bin ich um neun Uhr schlafen gegangen, weil ich müde war, gegen zwei wache ich auf und kann dann trotz aller Tabletten es gegen den Morgen einschlafen und wache betäubt zu Mittag auf. Und wenn ich abends nicht einschlafen kann, dann schlaf ich erst gegen fünf oder sechs Uhr früh ein und das ist zum Verrücktwerden, weil mir bei diesen Nachtwachen nur elend ist, der Kopf zerspringt mir dabei, und am Tag bin ich halbtot. Ach, Bär, ich bin wirklich verzweifelt, zum Arbeiten bleibt so wenig Zeit – und wie soll ich das ändern? Vielleicht hätte ich doch in dieses Institut nach München zum Kreislaufentstören gehen sollen. Something is wrong with me. Aber ich weiß nicht, wo der Defekt zu suchen ist, ob im Körper oder in der Seele. …

ich habe so wenig zu berichten von hier. Drum schicke ich dir nur viele Grüße, Zärtlichkeiten und Aufmunterungen.

Deine Ingeborg.“

 

Max Frisch Rom 1962 Foto: Mario Dondero

 

5./6. Mai 1962 – Rom Max Frisch

Geliebte Ingeborg,

„… und ich hörte, dass es einen Menschen gibt, den Du sehr lieb hast. Ich bat dich um den Namen. Du hast ihn gesagt. Ich habe mich damit abzufinden. Einen Menschen sehr lieb haben, das heißt viel. Du hast in deinem Brief, soweit ich ihn richtig erinnere, recht, wenn Du sagst: Venedig-Vertrag, aber dann ist es halt nicht so. Nicht ein Flirt, nicht eine Nacht, sondern Du ahst einen Menschen sehr lieb. Dass dir das zusteht, ist außer Frage. Es fragt sich nur, wir ich im besten Fall damit fertigwerde; das ist meine Sache. Ich gestehe dir, dass ich darauf nicht gefasst war, darauf nicht. Drum meine tiefe Verwirrung, obschon es früher oder später zu erwarten war. …

Wenn ich mich frage, wohin ich meine Mühe richten soll. Es gibt nur eine Richtung für meine Mühe, die schwerste: der Verzicht. Venedig-Vertrag. Ich sagte dir in der Nacht, dass ich davon Gebrauch gemacht habe. Ich werde älter, ich musste wissen, ob ich noch ein Mann bin. Ich habe, mich an den Vertrag haltend, darüber geschwiegen; ich konnte es, denn ich habe keinen Mensch sehr lieb außer Dir. Es hat uns nicht berührt. …

Ich liebe Dich, Ingeborg, aber ich weiß, dass daraus keinerlei Anrecht abzuleiten ist. Mach´s gut!

Dein alter Max“