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Miteinander reden?

Die Republik ist in der Krise. Die Demokratie in Gefahr. Bei den letzten Wahlen verliert die regierende SPD deutlich Wählerstimmen. Ihre wankelmütige Vierer-Koalition war nach nur zwei Jahren auseinandergebrochen. Die Rechten feiern einen überwältigenden Aufschwung. Ihr Anteil schnellt hoch: von 2,6% auf 18,3% Zustimmung. Ein Plus von 15,7%. Achtung! Es handelt sich um den 18. September 1930. In Berlin wie in der gesamten Republik ist die Stimmung aufgeheizt. Ende Oktober 1930 organisiert der österreichische Dramaturg Arnolt Bronnen ein brisantes Radiogespräch für die „Berliner Funkstunde“. Thema: „Nationale und Internationale Kunst“. Der berühmte Theatermacher und überzeugte Kommunist Erwin Piscator soll sich mit dem ehrgeizigen NS-Demagogen Joseph Goebbels zu einem Streitgespräch treffen.

 

Erwin Piscator (1893-1966), Theaterlegende 1929. „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige husten“.

Beide Männer sind misstrauisch. Ein Vorgespräch wird vereinbart. Das auf fünfzehn Minuten anberaumte Treffen dauert am Ende mehrere Stunden. Es geht um Schiller und Goethe, um Mozarts Musik. Heftig diskutiert wird die Frage, ob Kunst „national“ (Goebbels) oder „international“ (Piscator) ausgerichtet zu sein habe. So jedenfalls ist es in einem Protokoll nachzulesen, das Goebbels später verfasst. In seinem Tagebuch notiert G.: »Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche. Es war sehr amüsant und die ganze Bronzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht.«

 

Joseph Goebbels (1897-1945), als Propagandachef der Nationalsozialisten vor dem Reichstag 1932.  „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich den Revolver“.

 

Die Kontrahenten kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. Piscator seinerseits notiert, im anderen „ein Menschengesicht“ zu erkennen, „trotz des widerborstigen inneren Widerspruchs, trotz Unbehagen, Abwehr, physischer Widerwärtigkeit. Er gefiel mir plötzlich mehr, als er mir missfiel, er missfiel mir weniger, als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die, über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren.“

 

Wahlkampfplakat der NSDAP 1930.

 

Zum Zeitpunkt ihres bizarren Treffens ist Goebbels Gauleiter der NSDAP für Berlin. Der Mann fürs Grobe, der begnadete Hetzer („Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen“). Seit dem NS-Wahlerfolg sucht er auffallend Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen, um gemäßigt und wählbar zu wirken. Piscator fühlt sich getäuscht, als ihm später Goebbels Protokoll vorgelegt wurde: »Er hatte alle meine grundsätzlichen Argumente sich selbst zu eigen gemacht, so als ob er sie erfunden und zugleich widerlegt hätte.«

 

Wahlkampfplakat der SPD, 1930.

 

Nach der legendenumwobenen Begegnung im Berliner Rundfunk, so eine weitere Anekdote, fragt Goebbels. „Piscator, wollen wir zusammen essen gehen?“ Der Angesprochene setzt sein charmantestes Lächeln auf: „Aber ich gehe doch nicht mit Ihnen über die Straße, Herr Dr. Goebbels!“ Ach, ja. Die Sendung fand nie statt. Dennoch gibt es eine Fortsetzung, ein letztes Kapitel: Goebbels bittet den großen Theatermann im Frühjahr 1935  aus seinem Moskauer Exil zurückzukehren. »Ich käme gerne zurück«, lässt Piscator ausrichten, »und zwar sofort — wenn er nicht mehr da wäre.«

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Lass Dir nicht alles gefallen

Die letzten Jahrzehnte lebte Werner Fischer in seinem selbstgewählten Exil. Ein Leben im Hölderlin-Turm, gut versteckt in einer Dachetage über dem Jüdischen Friedhof am Kollwitzplatz. Hölderlin verzweifelte in seiner Matratzengruft, ähnlich wie Nietzsche: „Warum schläft denn nur bei mir der Stachel in der Brust?“ Des Dichters Antwort: „Dunkel wird´s und einsam unter dem Himmel. Wie immer – im ich.“ Wer ist nun Werner Fischer? Nie gehört! Das sagen viele. Aber manche erinnern sich. Fischer gehört zu den wenigen Mutigen in Ost-Berlin, die in aussichtsloser Situation versuchten, Verhältnisse zu ändern, die scheinbar in Beton gegossen zu sein schienen. Er war kein Anpasser, Mitläufer oder Opportunist. Fischer arbeitete sich in der DDR an den Mächtigen ab, die mit Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung reagierten. Sein Vergehen: er träumte den Traum von einer besseren DDR. Nach der Wende musste er keinen Widerstand nachholen. Aufarbeitung interessierte ihn nicht. Den Gratismut derjenigen, die immer auf der richtigen Seite sein wollen, verachtete er.

 

Werner Fischer. 1950-2023

 

Aus Werner Fischers unvollendeten Aufzeichnungen

Januar 1988. Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Vorwurf: „landesverräterische Agententätigkeit.“

„Ich hatte Angst vor dem Moment, indem die Zellentür hinter mir ins Schloss fallen würde. Wirklich gefangen zu sein, erzeugte schon in meiner Fantasie eine Panikattacke. Doch ich blieb ganz ruhig. Ich konzentrierte mich auf eine nüchterne und neugierige Sicht meiner neuen Situation, an der ich nichts ändern konnte, außer dass ich eine Methode finde, die mich stabilisiert. Ich redete mir ein: Du hast Observationen erlebt, Telefon- und Postüberwachung, etliche Stunden und Tage hast Du nach Festnahmen in Verhören verbracht. Jetzt konzentriere dich auf etwas, was du noch nicht kennst. Sieh dir genau alles an.  …

Ich war inzwischen in eine Zwei-Mann-Zelle verlegt worden. Paul, so stellte er sich jedenfalls vor, war von nun an mein Zellengenosse. Ein eifriger, devoter Typ von etwa dreißig Jahren, der angeblich wegen versuchter „Republikflucht“ hier einsaß. Seit meiner Zeit als Rohrleitungsmonteur auf Großbaustellen der DDR und besonders seit meiner Armeezeit hatte ich große Schwierigkeiten, mit mehreren Männern mein Zimmer und damit meine Intimsphäre zu teilen.  …

Er machte sich sogleich daran, das Klo- und Waschbecken zu reinigen. Die Notdurft würden wir verrichten, wenn der andere im Verhör sitzt. Es funktionierte gut. Gemeinsam hielten wir uns mit Gymnastik fit. … Wir teilten unsere Zigaretten und spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Mühsam brachte ich ihm Schach bei. Als es anfing Spaß zu machen, musste ich ihn verlassen. Die Zelle, das Gefängnis und das Land. …

 

Berlin in den achtziger Jahren. Blick auf die Hauptstadt der DDR.

 

Jeden Tag wurde ich zu den Vernehmungen aus der Zelle in einem Seitenflügel der Untersuchungshaftanstalt geführt. Vormittags und nachmittags. Seitenlange Protokolle tippte Burckhardt (Anm. der Vernehmer) in seine Schreibmaschine. Jedes Mal weigerte ich mich, sie zu unterschreiben. Er nahm nur halbherzige Versuche, mich zum Unterschreiben zu veranlassen. Ich hatte auch in früheren Vernehmungen nie etwas unterschrieben. … Ich hatte nicht den Eindruck, dass Burckhardt, so richtig von seinem Auftrag überzeugt war. Er wirkte zu leidenschaftslos. Es konnte aber auch Taktik sein. Als ich ihm einmal sagte, dass es ziemlich unerheblich sei, was er mich frage und was ich antworte, letztlich werde die Entscheidung über den Ausgang dieser Sache an ganz anderer Stelle entschieden, hob er nur die Schultern. Im Übrigen sei das Ministerium für Staatssicherheit keine geeignete Institution, mit der man die anstehenden politischen Probleme in unserem Land klären könnte, es sei sogar ziemlich überflüssig und gehöre aufgelöst, diktierte ich ihm in die Maschine und auf Band. Das Tonband lief während aller Vernehmungen. Diesen Absatz im Protokoll habe ich unterschrieben.“

 

Werner Fischer mit Bärbel Bohley und Oskar

 

Werner Fischer. Am 29. März 1950 geboren. 1964 weigerte er sich der FDJ beizutreten und wurde nicht zum Abitur zugelassen. Lehre als Rohrleitungsmonteur. Von 1968 bis 1971 Wehrdienst bei den Grenztruppen. Ab 1972 Berliner Metropoltheater.  Ab diesem Zeitpunkt wird Fischer überwacht. Die Observationen der Staatssicherheit, darunter IM-Berichte der Mutter, wachsen bis zum Ende der DDR auf 67 Bände an.

1985 Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“. 1986 Berufsverbot. Intensive Kontakte zur internationalen Friedensbewegung und zur Opposition in Osteuropa, insbesondere zur Charta 77. Verfasser und Unterzeichner zahlreicher Aufrufe. Januar 1988 Verhaftung Werner Fischers im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration wegen „landesverräterischer Agententätigkeit. Abschiebung zusammen mit Bärbel Bohley nach England.

Im August 1988 Rückkehr nach Ost-Berlin. Ab Oktober 1989 in der Berliner Gethsemane-Kirche Mitorganisator der unabhängigen Untersuchungskommission zu polizeilichen Übergriffen und Verhaftungen. 1990-1992 Beauftragter zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. 1992-1994 Pressesprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen. Bekennnender Fan der Rolling Stones. Ende November 2023 fand er seine Ruhe.

 

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Bauern, Bonzen und Bomben

Schleswig-Holstein vor knapp hundert Jahren. Ein lokaler Hilfsredakteur berichtet 1929 über Bauernproteste. Der Mann ist im Dauereinsatz. Im kleinen Neumünster protestieren rund dreitausend wütende Bauern mit Handstöcken und Knüppeln. Sie fordern ein Ende von Pfändungen und Steuernachzahlungen. Die Polizei versucht die Landvolkfahne mit Pflug und Schwert in ihren Besitz zu bringen. Die Bauern verteidigen ihr Symbol. Es gibt zahlreiche Festnahmen und mehrere Schwerverletzte. Der Reporter: „Ich sitze tatsächlich zwischen den Stühlen, bin vormittags gegen die Polizei und für Bürgertum und Bauern und nachmittags umgekehrt.“ Der Mann zwischen allen Stühlen heißt Rudolf Ditzen. Besser bekannt als Hans Fallada. Zwei Jahre später erscheint sein wegweisender Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“.

 

Kleiner Mann, ganz groß! Rudolf Ditzen alias Hans Fallada. 1893 – 1947. Kein anderer erzählte so ergreifend Geschichten aus dem wirklichen Leben. Foto Aufbau-Verlag

 

Ditzen hat es 1928 nach Neumünster verschlagen. Für einen Hungerlohn versucht er, Anzeigen zu verkaufen, verfasst außerdem kleine Lokalberichte. Aus nächster Nähe erlebt er mit wie Honoratioren ticken. Eine eine eigene Welt aus Denunziation, Staatsverdrossenheit und Intrigen. „Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für große auch.“ Hilfsredakteur Ditzen bekommt „Einblicke in Kämpfe um Macht, kleine Eifersüchteleien, Geldsackangst, Parteidisziplin, Geschrei, Drohungen und Lavieren“.

 

 

Den Bauern geht es schlecht. Zinsen und Steuern sind hoch. Viele Betriebe unrentabel. Seit Jahren treiben Kreditschulden und hohe Kosten vor allem kleine Höfe in den Ruin. Schlachtreifes Vieh muss weit unter Preis verkauft werden, weil die „Preise stürzen“. Als im November 1929 wieder einmal bei einem Schuldner zwei Ochsen gepfändet werden sollen, errichten Bauern brennende Barrikaden. Das Landvolk ist aufgebracht. Funktionäre wiegeln zum Kampf gegen das ungerechte System auf. Ein Teil der Bauernschaft radikalisiert sich. Es gibt Bombendrohungen und Anschläge. Die Obrigkeit verlangt: Hart durchgreifen.

 

Teil 1 Bauern. Bonzen und Bomben. Die Verfilmung von Egon Monk. 1973. Leider lässt die technische Qualität zu wünschen übrig, aber wer sich einlässt, wird belohnt.

 

Die Bauern verhängen einen Boykott gegen die Stadt Neumünster. Ein dreiviertel Jahr lang liefern sie kein Obst, Gemüse, Getreide, Butter oder Milch. Große Teile der Wutbauern beteiligen sich. Rechte Stimmungsmacher wiegeln das Landvolk zusätzlich nationalistisch, antisemitisch und völkisch auf. Eine Kraftprobe, von der später nur eine Partei profitiert: die NSDAP. Die Saat geht auf, die Hitlerpartei kommt an die Macht. Das war vor knapp hundert Jahren. Alles vergangen und vorbei?

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Willkommen 2024!

„Arm, aber sexy.“ Vor genau zwanzig Jahren platzierte der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seine Botschaft. Kommt nach Berlin! Zu diesem Zeitpunkt war die Hauptstadt pleite. Wowereit und sein Finanzsenator Thilo Sarrazin verkauften ihr Silber. Kommunale Betriebe, Immobilien und zehntausende Wohnungen, um der Schuldenkrise des CDU-Vorgängersenats Herr zu werden. Fortan hieß es also: arm, aber sexy. Der flotte Spruch des beliebten Partykönigs Wowereit entwickelte für das Stadtmarketing die Wirkung eines Sechsers im Lotto. Sexy zu sein passte wie der Deckel auf den leeren Topf. Zunächst kamen junge Kreative aus aller Welt, von Sindelfingen bis Sidney, von Castrop-Rauxel bis Santiago de Chile. Zehntausende Abenteurer, Künstler und Glücksritter fanden Berlin vor allem deshalb sexy, weil arm. Niedrige Mieten und Lofts, billige Döner und coole Clubs, alles war erschwinglich. Berlin, the place to be!

 

Immer ein wenig anders. Damenmode. Gesehen auf einem Berliner Wochenmarkt.

 

Derart angelockt folgten Projektentwickler und Makler, Investoren und Hedge-Fonds von Shanghai bis Stockholm. Schaut auf diese Stadt! Sie empfängt euch mit offenen Armen. Alles billig. Mit gigantischen Renditechancen. Das internationale Kapital ließ sich nicht zweimal bitten. Wohnblocks und ganze Straßenzüge wechselten die Besitzer. „Verwirklichen Sie Ihre Träume“, hieß die neue Parole. In angesagten Szenevierteln am Kollwitzplatz oder in der Kreuzberger Bergmannstraße wurden Bevölkerungsteile ausgetauscht. Die neuen Bewohner waren jung, dynamisch und wohlhabend. Sie brachten Hafermilch, Lastenfahrrad, kurz ein „neues urbanes Bewusstsein“ an die Spree. Volvo-fahrende Neu-Berliner übernahmen mit behelmten Kindern auf Spielplätzen die Altbauquartiere. Die Söhne und Töchter der Erbengeneration aus Heilbronn oder Hildesheim eroberten Viertel, wo früher neben Langzeitstudis Verkäuferinnen, Busfahrer oder Klempner wohnten.

 

Wohnen in Berlin? Improvisation, Glück und Ausdauer sind vonnöten. Foto: Constantin Grolig

 

Genau zwanzig Jahre nach dem Arm, aber sexy-Spruch präsentiert sich ein neues, anderes Berlin. Heute heißt es: In der Mitte neureich, sonst schlecht gelaunt. Günstige Ateliers, kultige Kellerclubs oder bezahlbare Stuckwohnungen sind längst unbezahlbar geworden. Selbst im eher windschattigen Bezirk Wilmersdorf, kein Hotspot der Hipster, wird eine neue 5-Zimmer-Eigentumswohnung für 3.7 Millionen Euro angeboten. Irgendein ein zahlungskräftiger Investor wird sich wohl finden, der für das „lukrative Investment“ Leerstand in Kauf nimmt oder die Wohnung im besten Fall für „hochpreisige“ Mieten anbietet. Das Kapital triumphiert. Die Politik schaut zu. Die neue Gründerzeit der letzten Jahre spülte eine kleine Zahl von Gewinnern nach oben, die große Gemeinde der Arm-aber-Sexy-Alteingesessenen jedoch hinaus ins Umland. Eigenbedarf ist das neue Schreckenswort. Berlin hat sich verändert.

 

Nichts Neues. Berlin am Limit. Das Anti-Kriegsmuseum musste 1930 wegen Geldsorgen geschlossen werden.

 

Und nun? Seit drei Jahren schmort das positive Votum eines Volksentscheids (57,6%) zur Enteignung der großen Wohnungskonzerne auf dem Abstellgleis. Nichts tut sich. Die Wunderformel „Bauen, bauen, bauen“ greift in Inflations- und Heizungsgesetz-Zeiten nicht. Im Gegenteil: Es werden nach wie vor nur wenige preiswerte Wohnungen gebaut. Auf einer Party kurz vor Silvester erzählte eine Frau von ihrem letzten Friseurbesuch. „Eine Stimmung wie 1989! Kurz vor dem Vulkanausbruch!“, legt sie los. Als ich als einziger mit westlichem Migrationshintergrund nachfrage, winkt sie nur ab: „Ach, weißte. Einfach alles läuft schief.“

Ich wünsche allen ein frohes, glückliches und gesundes 2024 mit einer sicheren Bleibe.

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Weihnachten 2023

Wassim Rassuk tätowiert christliche Motive. Die Madonna, die Auferstehung Jesu, seine Kreuzigung. Der fünfzigjährige Wassim lebt in Ost-Jerusalem, gehört zur kleinen Minderheit der koptischen Christen und führt in der 27. Generation einen kleinen Tattoo-Laden. Seine beiden erwachsenen Söhne sollen sein Geschäft einmal übernehmen. Seit siebenhundert Jahren stechen die Rassuks verschiedene Motive in die Haut, die ein Leben lang bleiben. Momentan gehen die Geschäfte schlecht. Wegen des Krieges bleiben Touristen aus aller Welt aus. Es ist nichts zu tun. Ab und zu ist Luftalarm. Am Himmel werden Hamas-Raketen vom israelischen Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Einen Bunker hat die christlich-arabische Familie Russek nicht. Wohin sollten sie also flüchten? Sie leben in der Altstadt von Jerusalem, mitten im Heiligen Land. In einer Region wie ein Pulverfass, in der sich derzeit die Menschen mit unvorstellbarem Hass abschlachten.

 

Wassim Rassuk aus Jerusalem. Tätowierer in der 27. Generation.

 

Wassim Rassuk ist staatenlos. Einen israelischen Pass hat er nicht, nur einen Aufenthaltsstatus. Der Tätowierer lebt als palästinensischer Christ zwischen allen Stühlen. Dieses Weihnachten soll nicht ausfallen, sagt er, aber es werde anders. Weniger glanzvoll, weniger hoffnungsfroh. Einen Baum will er dennoch aufstellen, für seine neunjährige Tochter. Wassim betont: „Ich persönlich bete für alle, die leiden.“ In seinem Freundeskreis gibt es viele Juden, Christen und Muslime. Man sei weiter im Gespräch, irgendwie versuche man den Faden nicht reißen zu lassen. Der ZEIT sagt er noch: „Ich habe kein Problem damit, als Kopte und Palästinenser an der Seite des jüdischen Volkes zu leben, aber ich habe ein Problem damit, an der Seite von jüdischen Rechtsextremen zu leben, die mich aus meinem Land vertreiben wollen.“

 

 

Ich wünsche Wassim Rassuk und seiner Familie in Jerusalem friedliche und gesegnete Weihnachten. Und natürlich allen, die bis hierher durchgehalten und weitergelesen haben. Vielen Dank für Eure/Ihre Treue.

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You never walk alone

Du gehst niemals allein. Ein stimmungsvoller Fußballsong. Eine beliebte Floskel des Kanzlers. Und doch gehen Millionen Menschen allein durch ihr Leben – und nicht unbedingt freiwillig und selbstbestimmt. Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich einsam – gerade zu Weihnachten. Nach Einschätzung der Stiftung Patientenschutz ist Einsamkeit die größte Volkskrankheit in Deutschland. Bei der Telefonseelsorge drehe sich jeder vierte Anruf um das Gefühl des Alleinseins. Einsamkeit verbreite sich wie ein Virus. Die Pandemie mit dem Zwang zur Selbst-Isolation habe diesen Trend verstärkt. Was passiert? Menschen flüchten in virtuelle Social-Media-Welten. Es werden immer mehr: Verlassene und Witwen, Arbeitslose und Außenseiter, Abgehängte und Alleinerziehende. Aber auch viele Jugendliche und ganz besonders die 60+-Generation. Wer raus ist, findet nur schwer wieder rein. Einsame bleiben nahezu unsichtbar. Sie frühstücken allein, schlagen den Kragen hoch, gehen nach dem Abendbrot allein ins Bett. Wer ist das schon gerne? So lonely. Ist Einsamkeit ansteckend?

Hier vier Songs, die sich um das Thema Einsamkeit drehen.

 

Die Bundesregierung hat vor kurzem 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit beschlossen. Motto: „Gemeinsam gegen Einsamkeit“. Geht das? Staatliche Dekrete gegen Einsamkeit? Es ist einen Versuch wert. Diese lobenswerte Initiative der Ampel-Koalition ist in deren Dauerclinch um Haushalt, Klimaschutz oder Bürgergeld fast untergegangen. So definiert das Familienministerium das Problem: „Einsamkeit entsteht, wenn die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der empfundene Mangel kann sich sowohl auf die Zahl der Kontakte als auch auf die Tiefe und Enge der Bindungen beziehen. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, daher sind die Ursachen für Einsamkeit individuell und lassen sich nur schwer verallgemeinern.“

 

 

„Die Einsamkeit ist schrecklich, aber auf erhabene Art“, erklärte einst Philosoph Immanuel Kant. Das Leitbild der modernen Millennials ist das Gegenteil: Kreativ sein. Dabei sein. Mitteilen. Essen fotografieren. Live-Events häppchenweise mitschneiden. Alle Bilder sofort posten. „Fara una bella figura“, sich aufs Äußere und die Performance konzentrieren. Ansehen und Aktion muss geteilt werden, um jeden Preis. Das Leben als Social-Media-Material begreifen. Diese permanente digitale Selbstinszenierung kann am Ende in die Falle führen – in Illusionen, Isolation und Einsamkeit.

 

 

Manchen hilft ein Tagebuch als stiller Ort der Einsamkeit, als Freund und Schutzraum. Musik, Sport oder gemeinsame Aktivitäten helfen mehr als jede virtuelle Wisch- und Weg-Welt, in der man leicht stundenlang versacken kann, ohne sich aber ein Stückchen verbundener zu fühlen. Soziale Nähe hilft gegen Einsamkeit, damit gegen Krankheiten. Hautkontakte senken den Blutdruck und beruhigen Atem- und Herzfrequenz. Bereits längere direkte Augenkontakte haben diesen heilenden Effekt. Ausprobieren!

 

Sehr berührender Song von John Prine zum Schluss: Hello in There aus dem Jahr 1971

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Eiffelturm zu verkaufen

Als der Junge zehn ist, beschließt er: „Ich, Victor Lustig, schwöre hiermit, reich zu werden und genau das zu tun, was mir Freude macht.“ An diesen Schwur hält er sich zeitlebens. Als der Junge erwachsen wird, liegt ihm die Welt zu Füßen. Victor Lustig bricht aus der engen K.u.K-Provinz in der Nähe von Wien auf, um sein Glück zu machen: als Taschendieb, Fälscher, Betrüger, Hochstapler und hochgeschätzter Gentleman-Ganove. Alles, was fürs Leben wichtig ist, lernt er in Paris bei der alternden Bordellchefin La Dame. „Jeder sehnt sich nach etwas“, bringt Madame dem kleinen Victor bei: Erkenne die Wünsche der Menschen, bediene sie, und du hast Erfolg. Aus dem Jungen wird Graf Victor Lustig. Der elegante Titel Graf ist einer von achtzig Alias-Namen, aber der Wichtigste. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere fälscht der Graf im großen Stil Dollars, bringt die US-Wirtschaft fast ins Wanken. Er trifft Al Capone und verkauft nebenbei den Eiffelturm an einen Schrotthändler.

 

In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts rostete der Eiffelturm vor sich hin. Er galt als schrottreif. Ein Fall für Victor Lustig.

 

Diesen Schwindler-Schwejk Victor Lustig gab es wirklich. Jetzt erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser seine unglaubliche Lebensgeschichte aus dem letzten Jahrhundert neu: „Als mir die Welt gehörte“. Ein höchst vergnüglicher Schelmenroman. Held Victor Lustig ist ein Mann mit Vorliebe für „angenehmes Reisen, gutes Essen, schneidige Anzüge und teuren Uhren“. Er lernt schnell, wie leicht es ist unterzutauchen, wenn das nötige Kleingeld vorhanden ist. Geregelte Arbeit? Nichts für ihn! Sein in Madames Etablissements erlerntes Handwerk hilft. Das genaue Beobachten der Mitmenschen. Das Ausnutzen ihrer Gier nach schnellem Geld und Erfolg, ob in der High Society oder Unterwelt. Er praktiziert die zehn gelernten Gebote für perfekte Hochstapelei. Die ersten drei lauten: „Sei ein geduldiger Zuhörer. Sehe niemals gelangweilt aus. Sei niemals betrunken“. Die anderen sieben Gebote finden Sie im Buch.

 

Der echte „Graf“ Victor Lustig nach seiner Verhaftung in New York. „Der smarteste Gauner, der jemals geboren wurde.“

Der Graf hasst Langeweile und bekämpft sie wie seinen Todfeind. Zunächst beklaut er fingerfertig Touristen, später verbringt er Zeit in Wettbüros und erfindet Geldvervielfältigungsmaschinen. Schließlich fälscht er Weinetiketten und verkauft Fusel als Wein der Extraklasse. Sein Motto: „Köstlich. Ein Wein, würdig eines Grafen.“ Während der Prohibition in den USA vermittelt er den knappen Stoff in Flüsterkneipen, lässt Reisedokumente, Pässe, Zertifikate, Verträge, Schecks fälschen. Sein Meisterstück: er verkauft den „abrissreifen“ Eiffelturm gleich zweimal an verschiedene Schrotthändler, übrigens eine wahre Begebenheit. Victor Lustig ist die perfekte Mischung aus Donald Trump, Elon Musk und Dagobert Duck, allerdings vor hundert Jahren.

Was ihn von den heutigen Tycoons des modernen Turbo-Kapitalismus unterscheidet, sind seine gepflegten Manieren. Der „Geldfälscher des Jahrhunderts“ hat Stil. Er bleibt stets charmant und zuvorkommend. Er betrügt seine Geschäftspartner so geschickt, weil sie seinen Versprechen vom großen Deal glauben wie Kinder an den Weihnachtsmann. Lustig nennt sich „Vertrauenskünstler“. Sein Erfolgsrezept: völlige Hingabe an die Rolle, die er gerade spielt. Irgendwann wähnt sich das rastlose Chamäleon Victor Lustig unverwundbar. Wir ahnen das Ende. Gemeinsam mit Al Capone sitzt er in zu groß geratener Gefängniskleidung im Knast von Alcatraz, bewaffnet mit einem dreckigen Wischmopp zum Saubermachen der Duschen. Aber eines ist für den Grafen klar: Er macht „nur eine Pause“.

 

Bastian Kresser. Als mir die Welt gehörte. Eine amüsante Geschichte aus der Welt des schönen Scheins. Gut erzählt. Genau das Richtige für lange Winterabende.

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Was für ein Glück

Rückblende. Ein Juliabend Es ist unerträglich heiß. Leipzig dampft und schwitzt. Plötzlich ballen sich schwarze Wolken zusammen, entlädt sich die aufgestaute Schwüle in einem kurzen, heftigen Gewitterguss. Regen prasselt auf den Clara-Zetkin-Park. Was für ein Glück! Abkühlung. Aufatmen. Wir folgen der Menge zur Parkbühne. Eine kleiner, runder Open-Air-Veranstaltungsort aus DDR-Zeiten. Publikum Ü50. Nur Stehplätze. Bratwurst. Bier in Plastikbechern. Vorfreude. Es kann losgehen. Zweimal war das Konzert wegen der Covid-Pandemie jeweils um ein Jahr verschoben worden. Endlich! Beth Hart.

 

 

Die Frau legt los. Mit ihrer energiegeladenen, großartigen Stimme, voller Leidenschaft, Gefühl und Hingabe. Im hautengen Hosenanzug schnurrt sie erst wie eine Katze, faucht bald wie eine Löwin. Die gut eingespielte Band stellt sich komplett in den Dienst der Frontfrau. Beth Hart gibt jedem Song das gewisse Etwas. Den eigenen und den Coverversionen von Led Zeppelin bis Tina Turner. Die US-Amerikanerin ist ein absolutes Live-Erlebnis. Von der ersten bis zur letzten Minute gibt die 51-jährige Vollgas. Sie ist wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Wow! „Listen! I´m the girl from Los Angeles. I´d rather go blind. “

 

 

Beth Hart studierte Cello und Gesang an der Los Angeles High School Of Performing Arts, schloss ihr Studium jedoch nie ab. Mit 22 Jahren trat sie in der US-Castingshow Star Search auf und veröffentlichte ihr erstes Album. Mit L. A. Song gelingt ihr in den USA der Durchbruch. Sie spielt in dem Musical Love, Janis die Rolle der legendären Janis Joplin. Mit Anfang dreißig thematisiert Beth in Leave the Light On ihre Drogensucht und den folgenden harten Entzug. Es sind dunkle Stunden. Die Musik kann sie retten. Was für ein Glück! Nach knapp drei Stunden mit „Fire on the floor“ ist das Publikum in der Leipziger Parkbühne erschöpft. Die Menge entschwindet beseelt in eine warme Sommernacht.

An diesem Wochenende tritt Beth Hart (2./3. Dezember 2023) in Paris auf. Nächstes Jahr kommt die Ausnahmesängerin wieder nach Deutschland. Konzerte in München, Mannheim, Köln, Berlin und Hamburg sind 2024 geplant. Beth Hart. Eine Frau, eine Stimme, ein Erlebnis. Wie eine Naturgewalt, wie ein rettender Regenguss nach einem heißen Sommertag.

 

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Vom Wollen zum Können

Caspar David Friedrich ist heute ein Superstar. Zu Lebzeiten verkaufte er kaum Bilder. Seine Einnahmen reichten für Farbe und Pinsel und gerade mal für seine kleine Familie. Heute wird ein einfacher Skizzenblock für ein Mindestangebot in Höhe von einer Million Euro angeboten. Von solchen Summen hätte Kurt Sonn (1933-2020) nur träumen können. Sonn war ein äußerst kreativer und fleißiger Landschaftsmaler, aber kommerziell wenig erfolgreich – und er war mein Patenonkel. Über dreitausend Bilder, Zeichnungen und Skizzen hinterließ er. Für Märklin entwickelte er als Grafiker das Outfit, für die Reha-Einrichtung auf der Bodensee-Halbinsel Mettnau das Design, für den Süddeutschen Rundfunk Zeichentrickfiguren. Seine Brotjobs. Auf seinen heimatlichen Wanderungen ließ er sich von der Natur inspirieren. An der Costa Blanca, seinem Sehnsuchtsort, saugte er mediterrane Farbenpracht auf und bannte sie auf die Leinwand.

 

Kurt Sonn. Bild Nummer 0639

 

Sein Leben war Entdecken und Staunen, Malen und Komponieren. In seinem großen Atelier roch es herrlich nach Farbe. Sonn faszinierte der Morgenhimmel. Er beobachtete das Spiel der Wolken und begeisterte sich am Wechsel der Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun, mit gelben Sonnentupfern oder Flächen versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule von Kandinsky und Gabriele Münter. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik mit starker Tendenz zum Kontrast. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Nummer 1501

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von Gewinnstreben und Globalisierung. Er hasste den Krieg. Als kleiner Junge erlebte der 1933 geborene den (un)aufhaltsamen Aufstieg und totalen Ruin der Nazis. „Das waren Verbrecher. Sie zerstörten unsere Jugend“. Harmonische Farben und Formen waren seine Antwort auf Ausplünderung und Zerstörung des Planeten. Sein Atelier in der (weitgehend) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat beflügelte ihn wie seine geliebten mediterranen Motive. Sonn war kein heimattümelnder, weltfremder Maler. Er suchte Halt im Glauben, erlebte im Gespräch mit Gott Momente des Glücks aber auch tiefer Verzweiflung.

 

Kurt Sonn. Nummer 0458

 

Kurt Sonn war kein Performer, kein lautstarker Selbstdarsteller im selbstverliebten Kunstbetrieb. Er schaffte es nicht auf exklusive Vernissagen oder große Messen. Unverdrossen rang er um die richtige Komposition, die passende Mischung von Farben, Formen und Figuren. Stets suchte er den richtigen Ton. Ruhig und bescheiden, in seine Arbeit vertieft und äußerst konsequent. Ruhm und Anerkennung blieben ihm versagt. Fragen, ob er deshalb enttäuscht sei, lächelte er weg. „Ich habe doch meine Kunst.“

 

Kurt Sonn. 1933 – 2020.

 

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Die Natur ist unsere beste Lehrmeisterin“. Der Künstler komponierte nicht nur Farben, er experimentierte auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis wenige Tage vor seinem Tod 2020 malte er nahezu jeden Tag ein neues Bild. Natur, Landschaften, Hügel, Dörfer, Kirchen. In den warmen, sonnigen Kurt-Sonn-Farben, die es zu entdecken gilt.

 

Kurt Sonn. Nummer 1380

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Nur für Verliebte

Das märkische Rheinsberg. Ein Spätsommer-Wochenende im Jahre 1911. Claire und Wolf fliehen vor dem Lärm ihres täglichen Lebens aus der großen Stadt Berlin. Sie turteln im fritzischen Provinzstädtchen, genießen das Glück ihrer frischen Liebe. Die Anfang Zwanzigjährigen streifen durch Schloss und Park, rudern hinaus, kuscheln auf der Wiese und staunen abends im Wirtshaus über Stummfilme. Ein junges Paar und drei Tage reinen Glücks. „Das Schloss leuchtete weiß, violett funkelten die Fensterscheiben in hellem Rahmen, von staubigen Lichtern rosig betupft, alles spiegelte sich im glatten Wasser.“ Ein Jahr später, 1912. Das Kaiserreich feiert den 200. Geburtstag des großen Friedrich, genannt der Alte Fritz. Als junger Friedrich verlebt dieser gleichfalls in Rheinsberg seine schönste Zeit. Da erscheint die Erzählung: Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte. „Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben! Kraft! Kraft der Jugend!“ Die fröhlich-frivole Kurzgeschichte macht den 22-jährigen Kurt Tucholsky auf einen Schlag berühmt.

 

„Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“. 1912 Axel Juncker-Verlag Berlin. Tucholsky erzählt von einem Wochenendausflug mit seiner Freundin und späteren ersten Ehefrau Else Weil, genannt Claire Pimbusch. Als Tucholsky die Erstausgabe in der „Bücherbar“ in Berlin verkaufte, bekam jeder Käufer ein alkoholisches Getränk gratis.

 

Die reale Claire hieß Else Weil, eine Medizinstudentin. 1911 reist sie mit ihrem Kurt für ein Wochenende nach Rheinsberg. Im Mai 1920 heiraten sie. Die Ehe hält nicht lange, sie wird im März 1924 wieder geschieden. Tucholsky schmachtet: „Sei du die Welt für einen Mann, weil er nicht alle haben kann.“ Else Weil kontert: “Als ich über die Damen weg steigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.“ Alle Anekdoten, Schnurren und viel mehr erfahren heutige Rheinsberg-Reisende im kleinen, feinen Tucholsky-Literaturmuseum. Seit über dreißig Jahren kann der streitlustige Publizist Kurt Tucholsky im Rheinsberger Schloss besucht werden. Die Ausstellung erzählt von Aufstieg, großen Erfolgen und Niederlagen, aber auch seinem frühen Tod im schwedischen Exil. Tucholsky nimmt sich 1935 verzweifelt das Leben. Seine Rheinsberger Geliebte Else Weil wird 1942 in Auschwitz umgebracht.

 

Muss er Rheinsberg verlassen? Kurt Tucholsky. (1890-1935)

 

Rheinsberg liefert in diesen Tagen schlechte Nachrichten. Das Museum ist in Gefahr. Weil das Städtchen sparen muss und lieber eine Schule sanieren will, soll die Tucholsky-Heimstätte möglicherweise geschlossen werden. Museumsleiter Peter Böthig, als Schriftsteller in der DDR von der Stasi verfolgt, geht Ende Februar 2024 in Ruhestand. Der Gemeinderat beschloss, seine Stelle zu streichen und Tucholsky der örtlichen Tourismusinformation unterzuordnen. Das eigenständige Tucholsky-Museum mit viereinhalb Zeitarbeits-Stellen und einem Gesamtbudget von etwa 350.000 Euro ist bedroht. Das Wendekind hat seit Anfang der Neunziger mit Ausstellungen, Filmen und Lesungen rund 1,2 Millionen Besucher angelockt. Das Blaubuch der Bundesregierung führt das Literaturmuseum als „kulturellen Gedächtnisort mit nationaler Bedeutung“. Die Begegnungsstätte darf nicht lieblos abgewickelt werden. Oder wie Tucholsky bemerken würde: „Seid barmherzig. Das Leben ist schon schwer genug!“

 

Rheinsberg ist zu jeder Jahreszeit einen Ausflug wert. Foto: haraldmk