Der Standhafte

Am zweiten Tag des Jahres 2021 klingelt in Atlanta im Büro von Brad Raffensberger das Telefon. Es ist ein Samstag. Am anderen Ende ist das Weiße Haus. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bittet um ein Gespräch. Donald Trump hatte im Bundesstaat Georgia mit exakt 11.779 Stimmen gegen seinen Herausforderer Joe Biden verloren. Raffensperger ist Innenminister von Georgia und ein treuer Republikaner, zugleich oberster Wahlleiter. Raffensberger war bereits mehrfach von Parteifreunden bedrängt worden, das Ergebnis zu korrigieren. Bereits zwei Mal war daher nachgezählt worden. Biden blieb der Gewinner. Nun meldet sich der mächtige Trump höchstpersönlich. Raffensberger ist aufgeregt. Er startet ein Mittschnittgerät. Ein Anwalt seines Vertrauens hört mit.

Donald Trump fordert: „Also, ich will nur eins, ich will nur 11.780 Stimmen finden.“ Trump will erreichen, dass Raffensperger vor der Zertifizierung der Präsidentschaftswahl am 6. Januar im Kongress öffentlich erklärt, es lägen neue Beweise vor, die das Wahlergebnis infrage stellen. Der Mann aus Georgia betont immer wieder, die Wahl sei fair verlaufen und es sei korrekt ausgezählt worden. Trump behauptet weiter, unter den Wählern seien doch 5.000 Tote gewesen, während Raffensperger uneingeschüchtert erwidert: „Zwei. Die korrekte Zahl ist zwei.“ Trump bedrängt seinen Parteifreund: „Es ist nichts Schlimmes dabei, wenn du sagst, du hast – ähm – rekalkuliert“. Raffensberger, der als ein ruhiger, unauffälliger 65-jähriger Republikaner geschildert wird, bleibt standhaft. Er lehnt das Ansinnen des Präsidenten ab.

 

 

Nach dem erfolglosen Telefonat am 2. Januar 2021 attackiert Trump per Twitter seinen Parteifreund in Georgia. Der Innenminister Raffensperger habe sich geweigert, seine Fragen zur Wahl zu beantworten. Daraufhin schickt der als Lügner beschuldigte Mann aus Georgia den kompletten Mitschnitt des Telefonats an zwei Zeitungen. Vier Tage später, am Tag der Zertifizierung der Präsidentschaftswahl, ruft Donald Trump seine Anhänger in Washington auf, „die Integrität der Wahl zu garantieren und die amerikanische Demokratie zu verteidigen“. Fanatische Trump-Fans stürmen daraufhin das Capitol. Sie brüllen „U.S.A.“ und „Stop the Steal“. Bei der gewaltsamen Attacke auf den Kongress sterben fünf Menschen, darunter eine 35-jährige Trump-Getreue und ein Polizist.

 

 

Der aufrechte Konservative Brad Raffensberger steht mittlerweile unter Polizeischutz. Der Grund: Der Innenminister von Georgia hatte sich auf geltende Gesetze berufen und sich standhaft geweigert die seit Wochen wiederholte Dolchstoßlegende des Präsidenten zu unterstützen. Seitdem hat der Mann zahlreiche Morddrohungen erhalten. In einer SMS an seine Frau heißt es: „Dein Mann verdient es, erschossen zu werden.“

Wenn uns der Wind trägt

Verlängern und verschärfen, heißt es ein weiteres Mal. Die Hängepartie geht weiter. Stillgestanden. Zuhause bleiben. Ohne „triftigen Grund“ kein Freigang. Der unsichtbare Feind SARS-CoV-2 feiert seinen ersten Geburtstag. Die Regierenden stochern halbherzig herum: im Wirrwarr von RKI-Zahlen, Prognosen und eigenen politischen Überlebensstrategien. „Ich bin Politiker, mein Sohn, kein Held, und die Politik schafft keine Wunder. Sie ist so schwach wie die Menschen selbst, nicht stärker, ein Bild nur ihrer Zerbrechlichkeit“. Das lässt der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt seinen Herkules im Stall des Augias sagen. Schützen und Handeln müssen wir selbst. Da hilft kein Gott, keine Kanzlerin, kein Christian Drosten.

Mag das Leben noch so kompliziert sein, noch so viele Irrwege parat haben, Verletzungen, und Wunden, und manchmal auch aussichtslos erscheinen, der Wind wird uns tragen. Das singt die Indie-Band Noir désir aus Bordeaux. Vor zwanzig Jahren veröffentlichten die Franzosen ihre wunderbare Ballade Le vent nous portera über Hoffnungen, Freiheit und Zärtlichkeit. Ihre Botschaft: bloß keine Angst vor dem Aufbruch haben. Stets unabhängig bleiben, den eigenen Kopf zum Denken nutzen. Denn der Wind wird uns tragen. Ein geradezu Reggae-geprägtes Sommerlied voll französischer Leichtigkeit und großem Tiefgang. An der Gitarre Manu Chao, verfilmt von Regisseur Alexandre Courtes, millionenfach geklickt.

 

 

Der Überraschungshit Le vent nous portera wurde in den letzten Jahren vielfach gecovert. 2010 von der Schweizerin Sophie Hunger oder auch von Element of Crime, diese natürlich mit der üblichen melancholischen Grundierung der Berliner Skeptiker und Kultband. Der Wind weht trotzdem. Désir Noir: „Ich hab keine Angst vor dem Weg. Muss ihn sehen, ihn fühlen
Seine Windungen tief im Innern, und alles wird gut werden. Der Wind wird uns tragen.“

 

 

Le Vent nous portera

„Wenn die Flut steigt
Und alle Rechnungen beglichen werden
Nehme ich deinen Staub in die Leere meines Schattens
Der Wind wird ihn verwehen
Alles wird vergehen, aber
der Wind wird uns tragen.“

 

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Lamento 2020

Remember me … klingt es leise klagend aus dem Autoradio. “Vergiss mich nicht!” Wir sind alle fasziniert. Was für eine Stimme, was für ein Song! Später zuhause ein Blick in Dr. Google´s Zauberkiste. Die Spuren führen zu Annie Lennox, einem Lied, das sie vor zehn Jahren schon einmal aufgenommen hat und nun im Pandemie-Winter 2020 mit einem Londoner Chor neu interpretiert hat. Die Wege führen weiter zu Henry Purcell, diesem hochbegabten britischen Komponisten. Didos Lament stammt aus seiner Feder, um 1689 erblickte die Oper Dido und Aeneas das Licht der Welt. Didos Klage ist die berührende Arie „Wenn ich in die Erde gelegt werde“, ein Meisterstrück aus seinem Werk. Henry Purcell starb auf dem Höhepunkt seines Schaffens 1695. Da war er gerade Mitte dreißig.

 

 

Diese über dreihundertjahre alte Purcell-Klage ist zeitlos aktuell. Die unglückliche, am Herzen gebrochene Dido weiß keinen anderen Ausweg als selbst Hand anzulegen. Das kurze Memento ist so eindringlich, so melancholisch, so unter die Haut gehend. Annie Lennox erinnert die Todessehnsucht und Verzweiflung aus Purcells Oper an den Zustand unserer heutigen Gesellschaft. Ist Annie zu moralisch? Zyniker werden jetzt einwerfen, dass die Menschheit schon so häufig totgesagt wurde, nach dem Motto “am 30. Mai ist Weltuntergang…”

 

Henry Purcell. 1659-1695.

 

Annie Lennox begründet die Botschaft Didos und ihre neue Aufnahme 2020 mit den Worten, dass Menschen wahre Verdrängungskünstler sind. “Ich sehe Didos Lamento als ein Lamento für unseren sterbenden Planeten.”

 

Annie Lennox: „It’s been such an honour and privilege to have been able to create this unique event in collaboration with the London City Voices Choir during this unprecedented time of the 2020 Covid 19 pandemic. I’m deeply touched and grateful to my friend and co producer Mike Stevens and choirmaster Richard Swan for making this possible. Also, to each choir member who took part from their homes through the medium of ‘Zoom’. As a long term supporter of Greenpeace I am deeply concerned by the Global Climate Crisis, which I feel is the most urgent challenge we all have to face, particularly with regard to sustainability for future generations. I very much hope to be able to make a contribution by drawing attention towards this vital issue. Additionally, I feel a tremendous sense of empathy and concern for everyone who has lost a dearly beloved friend or family member this year and hope this recording can offer a moment of shared collective mourning for those whose lives have been taken.“

 

Annie Lennox 2010 in Wien. Quelle: Wikipedia

 

Vielleicht vermittelt dieses Lamento einen Impuls über unsere Welt im neuen Jahr 2021 nachzudenken und nicht den Kopf in den Sand zu stecken.

Vielen Dank für das Vertrauen in 2020. Alles Gute für meine Web-Leserschaft. Gesundheit, Glück und Selbstvertrauen.

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Jeder Tag ist ein Geschenk

Klaus Stuttmann.

“2020 war ein schlimmes Jahr, übellaunig, ungesund, angstbesetzt, maßregelnd, erlebnisarm und hygienisch”. So Deutschlands Dauer-Zeit-Erklärer Harald Martenstein, der jede Woche neu die Welt mit seinen Erkenntnissen beglückt. War das Corono-Jahr wirklich so schlimm, so übellaunig und angstbesetzt? Keineswegs. Ich bewunderte im Frühjahr die Nachtschicht in unserem Krankenhaus, wie immer chronisch unterbesetzt dafür rund um die Uhr erlebnisreich. Schwestern und Pfleger, die müde aber dankbar lächeln, wenn sie ehrenamtlich unterstützt werden. Ich bewunderte im Sommer Freunde, die an vielen Wochenenden im Jahr am Bahnhof Zoo in der Mission praktisch mithelfen, ohne großes Brimborium darüber zu veranstalten.

 

 

Ich bewunderte im Spätherbst die Kassiererin hinter ihrer Plexiglasscheibe, die trotz der x-ten Anmache, warum die Schlange so lange sei, irgendwann cool konterte: „Sie können ja gerne mit mir tauschen“. Ich bewunderte im Dezember die Swing-Musiker von der Andrej Hermlin Band, die seit dem 15. März ununterbrochen jeden Abend live auftreten, ob bei Minusgraden vor dem Brandenburger Tor oder bei ihren gestreamten Hauskonzerten, ohne Publikum, ohne Beifall. nur für einen Bettellohn, unverdrossen weiterspielend „bis die Krise vorbei ist“. Und ich bewunderte den Pianisten Igor Levit, der mit klammen Fingern die Rodung von Buchenwäldern musikalisch kommentierte. Was aber noch viel schöner ist: ich freute mich unbändig über das fröhliche Glucksen unserer beiden Enkelinnen.

 

 

„Ist´s auch grau und trübe – halt immer hoch die Rübe!“, konnte ich kurz vor der zweiten Schließung – im Neusprech: Lockdown II – auf einem Örtchen in Kreuzberg lesen, der zur Erleichterung dient. Natürlich nervt es mich maßlos, wenn ich erfahre, dass US-Milliardäre in diesem Jahr im Trump-Land Super-Gewinne eingefahren haben, dass allein bei uns die Zahl der Millionäre im Krisenjahr um sage und schreibe 58.000 Menschen gestiegen ist, während hunderttausende Familien und Rentner um jeden Cent kämpfen müssen oder im Flüchtlingslager auf Lesbos tausende Menschen in unwürdigen Verhältnissen gehalten werden.

Reich ist nicht derjenige, der viel hat sondern der wenig braucht, heißt es. Dieser Satz aus dem Repertoire der Nachhaltigkeitsbewegung soll keinesfalls zynisch klingen. Den überzeugendsten Spruch entdeckte ich in diesem Corona-Jahr jedoch bei der klugen, stillen und wunderbaren Dichterin Eva Strittmatter. „Die wirklich wichtigen Dinge sind kostenlos. Luft, Wasser, Liebe.“

Frohe Weihnachten und alles Gute für 2021.

Besuch beim alten Herrn

Es gibt Geschichten, die sind spannender als die fettesten Schlagzeilen. Diese geht so: Die Milliardärin Claire Zachanassian besucht hochbetagt das veramte Güllen. Die alte Dame beschenkt ihr Heimatstädtchen, aber nur unter einer Bedingung. Sie fordert den Kopf des Mannes, der sie in Jugendjahren schwängerte und seine Vaterschaft erfolgreich leugnete. „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. Gerechtigkeit für eine Milliarde.” Das Drama nimmt seinen Lauf. Der Plot stammt von Friedrich Dürrenmatt, dem Mann, der immer nach der „schlimmstmöglichen Wendung“ suchte. Vor dreißig Jahren ist der Schweizer Nationaldichter gestorben. Am 5. Januar 2021 können wir seinen 100. Geburtstag feiern. Der Dramatiker verstand sein Leben als Komödie. „Ich esse gerne, ich saufe gerne. Meine Zuckerkrankheit ist wahrscheinlich meine große notwendige Bremse. Wenn ich diese Bremse nicht hätte, wäre ich schon längst an meiner Gesundheit gestorben.“ Dürrenmatt wurde 69.

1956 erschien sein Welterfolg “Der Besuch der alten Dame”. Bis heute quält Dürrenmatt ganze Schülergenerationen mit seinen Werken, ob mit Der Besuch der alten Dame, Der Richter und sein Henker oder Die Physiker (1962). Vor seinem großen Durchbruch nagte Dürrenmatt jedoch am Hungertuch. Er war pleite. Vom Schreiben konnte der Anfang Dreißigjährige seine fünfköpfige Familie nicht mehr ernähren. Ehefrau Lotti: „Wir lebten von der Hand in den Mund.“ Doch Rettung nahte. 1952 rief der Schweizer Beobachter in der „Aktion Dürrenmatt“ seine Leserschaft zu Spenden auf. So könne trotz Kritik an seinen Frühwerken „ein dramatisches Talent allerersten Ranges“ gefördert werden.

 

Crowdfunding vor fast siebzig Jahren. 1952 suchte der Schweizer Beobachter „hundert geistig interessierte Menschen“, um das „Talent“ Friedrich Dürrenmatt zu unterstützen, der damals arm wie eine Kirchenmaus war.  Quelle: „Schweizer Beobachter“ v. 18.12.2020

 

Tatsächlich spendeten 170 Beobachter-Leserinnen und –Leser drei Jahre lang fleißig fünf Franken pro Monat. Eine frühe Form der Crowdfunding-Finanzierung, ohne Paypal aber mit dem Ergebnis von insgesamt 21.350 Franken (heutiger Wert knapp 100.000 Euro). Die Dürrenmatts brauchten das Geld dringend, obwohl sich Familienvater Friedrich anfangs lieber ein Segelboot kaufen wollte. Ehefrau und Freunde konnten ihn erfolgreich stoppen. Später sagte Dürrenmatt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes mit über 30 Millionen verkauften Büchern: „Ich lebe wie ein Millionär, aber ich kann nicht sparen.“

 

 

Kurz vor seinem Tod im Dezember 1990 bezeichnete sich Dürrenmatt selbst als einen „bankrotten, aus der Mode gekommen Komödienschreiber“. Was bleibt? Dürrenmatt-Gedanken wie diese: “Wer verzweifelt, verliert den Kopf. Wer Komödien schreibt, gebraucht ihn.” Wer mehr über den Schulschwänzer, Schweizer Hilfssoldaten, Fahndungsobjekt der Politischen Polizei von Zürich und Groß-Schriftsteller wissen will, kann demnächst das Centre Dürrenmatt Neuchâtel in seinem ehemaligen Wohnhaus in der Schweiz besuchen. Wiedereröffnet werden soll es am 24. Januar 2021 drei Wochen nach seinem 100. Geburtstag – wenn, ja wenn es die Corona-Pandemie zulässt.

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Im Hufschlag der Pferde

„Take Five“. Nimm den Fünfvierteltakt. Was für ein Geniestreich! 1959 bringt das weitgehend unbekannte Bruback-Quartett statt im üblich Vier-Vierteltakt ein Album im Fünfer-Rhythmus auf die Bühne. Eine kleine Revolution, ein großer Welterfolg. Was für ein Kontrast! Auf der Bühne sehen wir vier Herren in brav-biederen CIA-Anzügen, mit Kassenbrillen, schmalen Krawatten und in frisch geputzten Schuhen. Am Flügel David Bruback, als spießiger Mittelklasse-Mainstream-Musiker belächelt. Sein Jahrhunderthit „Take Five“ beschert ihm Weltruhm. Vor genau 100 Jahren wurde er als Sohn eines Cowboys in Kalifornien geboren. Bruback über seine Wurzeln: „Der Hufschlag des Pferdes ergab einen Rhythmus, und da kamen einige dieser polyrhythmischen Ideen her.“

 

 

David Bruback. Vater Vierzüchter. Mutter Klavierlehrerin. Drei der sechs Kinder widmen sich der Musik. Dave versucht sich an Strawinsky, spielt mit dreizehn aber lieber in einer Jazz-Band. Er perfektioniert sein Klavierspiel mit versetzten Blockakkorden. 1944 spielt er als Frontmusiker für verwundete US-Soldaten in Frankreich. 1951 gründete er sein Dave Bruback Quartet. Er ist der Motor eines neuen Quartetts, in dem das wunderbare Altsaxofon von Paul Desmond so verletzbar klingt. Dave: „Wenn zwei Musiker füreinander bestimmt waren, dann Desmond und ich.“  1959 schaffen die fantastischen Vier mit ihrem Album Time Out den Durchbruch. Die Auskopplung Take Five umrundet im Fünfviertel-Beat die ganze Welt.

 

 

Time Out wird das erfolgreichste Album der Jazzgeschichte. Take Five katapultiert den stillen Pianisten in die erste Liga der Jazz-Größen. Er tritt mit Größen wie Louis Armstrong oder George Gershwin auf. 1967 löst er seine Band jedoch wieder auf. Das war´s. Was ihn auszeichnet? Der Westcoast-Musiker engagierte sich zeitlebens gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Er verteidigte in den späten fünfziger Jahren seinen schwarzen Bassisten Eugene Wright gegen alle Anfeindungen. Für ihn zählte allein Musikalität, nicht die Hautfarbe. Ob in der Frontband in Frankreich oder in seinem Quartett.

 

Jazzlegende David Bruback (6.12.1920 – 5.12.2012) im Jahre 2008. Quelle: Wikipedia

 

Dave Brubeck starb im Dezember 2012 im gesegneten Alter von 92 Jahren. Sein neuer Fünferrhythmus hat alle Zeitgeistmoden und Kritiker überlebt. Sie schmähten ihn damals als Himbeerjazzer und seichten Unterhaltungsmusiker. Take Five lebt. Vieltausendfach variiert und immer wieder neu interpretiert. Bis heute.

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Eine Klinik funkt SOS

„Wenn es so weitergeht mit dem Trend, haben wir an Weihnachten 19.200 Infektionen am Tag“, sagte Angela Merkel Anfang Oktober 2020. Nur wenige hörten zu. Tausende gingen auf die Straße, um „gegen die Corona-Diktatur“ zu demonstrieren. Seit Tagen liegt die Zahl der Neuinfizierten höher. Wenn die Zeiten mies sind, sollte man Komödien inszenieren, meinte einmal Hollywood-Ikone Billy Wilder. Ich verstoße gegen dieses ungeschriebene Gesetz, in der Hoffnung, diejenigen zu unterstützen, die in dieser Covid-Krise nicht lautstark protestieren, sondern leise ihren Job machen. Bis zur Erschöpfung.

 

Aufnahmestopp im Klinikum Niederlausitz. Die Klinik in Senftenberg (Brandenburg) funkt SOS. Foto: Wikipedia

 

Dieser Hilferuf kommt aus dem Klinikum Niederlausitz. Dort herrscht Aufnahmestopp. Der Grund: Im Raum Senftenberg/Weißwasser (Brandenburg/Sachsen) steigt „die Zahl der schweren Verläufe und Sterbefälle“. Die Situation für Ärzte und Pflegekräfte sei nur noch schwer auszuhalten, heißt es in einer Mitteilung vom 4. Dezember 2020. Thomas Schneider, Leitender Oberarzt auf der Intensivstation des Klinikums, schildert seine Erfahrungen der letzten Tage:

„Alles hat sich verändert. Wir haben jetzt knapp fünfzig Patienten, und jeden Tag kommen neue dazu. Die Patienten sind schwer krank. Sie sind stark pflegebedürftig. Die Belastung für die Ärzte, Pflegepersonal, Servicepersonal, Reinigungskräfte, Physiotherapeuten ist immens. Uns fehlt das Verständnis für Menschen, die das Krankheitsbild kleinreden oder gar leugnen. Covid-19 ist eine Multisystemerkrankung. Die Lunge ist nur eines der Systeme, das betroffen ist. Das Gehirn ist betroffen. Wir sehen Patienten, die Schlaganfälle aufgrund einer Corona-Infektion haben, wir sehen Nierenerkrankungen, wir sehen Leberversagen, wir sehen Darmversagen, wir sehen Schäden des zentralen Nervensystems.“

 

 

Der Oberarzt erklärt weiter: „Das Spektrum reicht von leichten Verläufen bis zu schweren Verläufen und geht quer durch die Bevölkerung, ob jung oder alt – das macht keinen Unterschied. Das wirkt für viele vielleicht sehr abstrakt. Für den Einzelnen scheint gerade alles in Ordnung zu sein. Hinter den Mauern im Krankenhaus in Senftenberg liegen aber rund 50 Covid-Patienten. Wir müssen viele Patienten verabschieden, die das Krankheitsbild nicht überstehen, trotz maximaler Intensivtherapie. Lange, schwere Verläufe sind nicht die Seltenheit.“

Fachschwester Petra Quittel über ihre Arbeit auf der Intensivstation: „Meine Patienten haben Corona, keinen Schnupfen. Einer kämpft um sein Leben, er lässt sich nur sehr schwer beatmen, seine Werte werden immer schlechter. Versteht das jemand draußen, wenn ich sage, der bekommt sein CO2 nicht aus seinem Körper abgeatmet? Wohl nur wenige. Der andere Patient schaut mich bei der Morgenhygiene ängstlich an, er sieht seinen sterbenskranken Nachbarpatienten. Er benötigt Unterstützung beim Atmen, aber noch schafft er es selbständig, fragt sich nur wie lange. Bei jeder Anstrengung wird es knapp mit seiner Luft. Er schafft es heute nicht vor dem Bett ein paar Schritte zu gehen, zum Essen hat er keine Kraft.“

 

Klinikum Niederlausitz am 4. Dezember 2020: „Reduzieren Sie Kontakte, schützen Sie sich und andere!“

 

Einziger Rat von Arzt und Intensivschwester: „Bleiben Sie zu Hause, reduzieren Sie Kontakte, schützen Sie sich und andere!“

Der Schatz von Krefeld

„Tableau No. VII“, „Tableau No. X“, „Tableau No. XI“ aus dem Jahre 1925 und „Komposition IV“ aus 1926 hängen akkurat in Reih und Glied an einer weißen Wand in Krefeld. Ein Quartett der Extraklasse von Piet Mondrian, dem Meister der Moderne. Der ganze Stolz des Kaiser-Wilhelm-Museums. Schätzwert rund 200 Millionen Euro. Dummerweise verklagen jetzt die Mondrian-Erben das NRW-Museum vor einem US-Gericht. Begründung: Der Schatz gehöre den Krefeldern nicht. Von wegen, kontern die Hausherrn. Die Bilder seien Ende der Zwanziger für eine geplante Ausstellung über die Moderne bereitgestellt und nach dem Krieg per Zufall “aufgefunden” worden. Bei dem Erbstreit geht es um sehr viel Geld. Ein lukratives Geschäft für Anwälte.

 

Piet Mondrian (1872-1944). Selbst-Porträt um 1900.

 

Was würde Pieter Cornelis Mondriaan, weltberühmt als Piet Mondrian, geboren am 7. März 1872 im holländischen Amersfoort dazu sagen? Vielleicht „Kunst ist Intuition“ und nicht Kunst ist ein Zankobjekt für Erbschleicher. Piet kam aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Lehrer, ein strenger Calvinist und immer missionarisch unterwegs, die Mutter häufig krank. Die fünf Kinder mussten früh allein klar kommen. Biografen meinen, dass Piet, der wie sein Vater Lehrer werden sollte, deshalb das Vertrauen zu Mitmenschen verlor. Er wurde ein Einzelgänger, unfähig zu festen Beziehungen. Anfangs flüchtete er in Landschaftsbilder.

 

Mühle im Sonnenlicht. 1908

 

1911 zog er wie viele aufstrebende Künstler nach Paris, ließ sich von Georges Braque und Pablo Picasso beeinflussen. In den Zwanzigern entwickelte Mondrian mit streng geometrischen Bildern seine eigene Handschrift. Er zählt zu den Begründern der abstrakten Malerei. Mondrian kombinierte das schwarzen Raster mit rechteckigen Flächen in den Grundfarben Rot, Blau und Gelb. So inspirierte er Bauhaus-Bewegung und Mode, Werbung und Popkultur. „Was will ich in meinem Werk ausdrücken? Schönheit auf der ganzen Linie und Harmonie durch das Gleichgewicht der Beziehungen zwischen Linien, Farben und Flächen zu erreichen. Aber nur auf die klarste und stärkste Weise.“

 

Komposition mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz. 1921

 

Doch der Meister der abstrakten Malerei musste Lehrgeld zahlen. Sein neuer Stil fiel bei den Zeitgenossen durch. Mondrian war so knapp bei Kasse, dass er überlegte, den Pinsel gegen einen Job im Weinbau in Südfrankreich zu tauschen. Doch er entschied sich für die Produktion von Blumenaquarellen, um über die Runden zu kommen. In seinem Pariser Atelier stand eine weiße künstliche Blume. Sie verkörpere die fehlende Frau, heißt es. Mondrian widmete sein Leben dem Wesentlichen – der Kunst.

 

Mondrian in Washington DC. Foto: Kim Antell

 

In den Dreißigern stellte sich Erfolg ein und mit dem 22-jährigen Harry Holtzman auch eine lebenslange Freundschaft. Der Maler aus New York blieb ihm treu. Dessen Erben klagen heute auf Rückgabe der Krefelder Bilder. Die Nazis verboten seine abstrakten Werke. Mondrian gehörte 1937 zu den wenigen ausländischen Künstlern, die in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München diffamiert wurden. Kurz vor Kriegsbeginn zog Piet Mondrian nach London. Als deutsche Bomben auf die britische Hauptstadt fielen, flüchtete er im Herbst 1940 über den Atlantik nach Brooklyn. Anfang Februar 1944 erlag Piet Mondrian im Alter von 72 Jahren einer Lungenentzündung. Er hinterließ eine Welt in Rot, Blau und Gelb.

 

 

In Mondrians Geburtshaus an der Kortegracht 11 in Amersfoort/NL befindet sich das Museum Mondriaanhuis mit Bibliothek und Dokumentationszentrum.

Auf dem Weg zur Diktatur des Coronats?

Ein mausgrauer Novembertag. Einst Feiertag, manchen noch als Buß- und Bettag bekannt. Rund um den Reichstag demonstriert ein vielköpfiger Haufen von Corona-Leugnern wütend und unverhüllt gegen ein neues Gesetz. Die Versammelten in Berlin, laut Polizeiangaben rund 7.000, vergleichen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Damals entleibte sich der Reichstag mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ selbst. Ein Akt der Gleichschaltung auf Betreiben der NSDAP, nur die SPD stimmte dagegen. Die KPD-Abgeordneten waren bereits verhaftet oder geflüchtet. Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde die Weimarer Republik abgeschafft und der Führerstaat eingeführt.

Am Ende dieses trüben Novembertages ergibt sich folgende Bilanz: Eine symbolische Wasserschlacht am prominenten Ort direkt vor dem Brandenburger Tor. Zwei Wasserwerfer live-gerecht im Einsatz, die im Sprühmodus den harten Kern der Demonstration „beregnen“. Rangeleien, Pfefferspray, insgesamt 365 Festnahmen, zehn verletzte Polizisten und das schale Gefühl, wie sehr im aufgeladenen Treibhaus rund um den Reichstag Vernunft und Verstand außer Kontrolle geraten können.

 

November-Blues 2020.

 

Aber jeder Protest hat auch sein Gutes. In der S-Bahn zum Hauptbahnhof steigen Kontrolleure am Bahnhof Bellevue ein und posaunen ihr „die Fahrausweise biittte“. Ich krame in meinen Taschen und stelle verärgert fest, dass mein Portemonnaie mit der Umweltkarte im Mantel an der häuslichen Garderobe hängt. Mist!

Ich überlege kurz, entscheide mich, betont lässig zur Tür zu gehen. Mit gegenüber grinst ein Corona-Leugner mit Mundschutz auf dem in schwarzen Lettern „Diktatur“ steht. Eigentlich würde ich ihn gerne fragen, warum er die Diktatur in seinem Gesicht trägt. Und ich überlege, ob es sinnvoll wäre, ihn zu fotografieren, um zu zeigen wie sich Anti-Corona-Demonstranten präsentieren. Wie sehr sie sich verrannt haben oder verwirrt sind, denn in keiner Diktatur der Welt könnte eine solche Meinungsäußerung länger als eine Viertelstunde offen zur Schau gestellt werden.

 

Von wegen „immer uff“. Alles dicht. Berlin-Charlottenburg. November 2020.

 

Doch die Kontrolleure kommen bedrohlich näher. Allerdings sind die mitreisenden Anti-Coronisten äußerst diskussionsfreudig und verwickeln die kräftigen Kerle in Gespräche. Das seien doch reine Schikanen, gerade jetzt zu kontrollieren. Sie wollten wohl freie Menschen an ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hindern. Ein lebhafter Disput entwickelt sich. Währenddessen rückt die nächste Station näher und kann rechtzeitig erreicht werden. Geschafft! Glück gehabt.

Ich steige erleichtert aus, atme kräftig durch. Auf allen Ebenen des Hauptbahnhofs patrouillieren schwerbewaffnete Polizeistreifen. Aus der Ferne sind Rufe zu hören. „Widerstand“ und „Wir sind das Volk“. Berlin, Mitte November 2020.

 

Es geht auch anders. Zusammenhalt in Zeiten der sozialen Distanzierung.

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Wo ist der arme Poet?

In einer Dachstube hat sich der arme Schlucker in sein Bett verkrochen. Der Ofen ist aus. Das Dach ist undicht, selbst der Regenschirm hat Löcher. Vermutlich sucht er nach den richtigen Zeilen, hofft auf eine göttliche Eingebung. Was immer man im Bildnis des Überlebenskünstlers sehen möchte: Der arme Poet von Carl Spitzweg aus dem Jahre 1839 ist ein Lieblingsbild der Deutschen. Spitzweg hat es selbst wenig Glück gebracht. Die ersten Kritiken waren so vernichtend, dass Spitzweg seine Bilder nicht mehr mit seinem Namen signierte. Als er seinen Poeten 1841 dem Münchner Kunstverein anbot, lehnte die Jury kühl ab.

Der brave Poet mit der Biedermeier-Schlafmütze sollte das Meisterwerk von Spitzweg werden. Als Vorbild diente ihm vermutlich der Münchner Dichterfreund Mathias Etenhueber, der stets klamm war. Drei Versionen malte Spitzweg. Die Erstfassung befindet sich in Privatbesitz, die zweite Fassung hängt in der Neuen Pinakothek in München. Das dritte Poeten-Meisterwerk sollte eigentlich in Berlin zu sehen sein. Aber es wurde geklaut. Gleich zweimal.

 

Carl Spitzwegs dritte Version vom Armen Poeten. 1989 in Berlin gestohlen, seitdem verschollen.

 

Neue Natio­nal­ga­le­rie Berlin am 12. Dezem­ber 1976 gegen 13 Uhr. Der Aktionskünstler Frank Uwe Laysiepen – genannt Ulay – verlässt unbemerkt mit dem 36 x 45 cm großen Poeten-Bild unterm Arm das Haus. „Links­ra­di­ka­ler raubt unser schöns­tes Bild!“ schäumt die Bild-Zeitung. Ulay schleppt das Werk zum Künstlerhaus Bethanien, dokumentiert jeden Schritt mit der Kamera und erklärt den Kunstraub zur Kunstkritik. Seine damalige Lebensgefährtin Marina Abra­mović soll an der Entführung betei­ligt gewesen sein. Abra­mović zählt heute zu den berühmtesten Aktionskünstlern der Welt. Stunden später gibt Poeten-Räuber Ulay das Bild zurück.

 

Der Arme Poet wird geklaut. Ulays Kunstraub 1976, zur Kunstkritik erklärt. Das Bild wird zurückgegeben. Quelle: Ulay

 

Schloss Charlottenburg am 3. September 1989. Diesmal schleichen sich heimlich professionelle Kunsträuber in die Räume. Sie reißen den armen Poeten zusammen mit Spitzwegs Werk Der Liebesbrief gewaltsam von der Wand. Beide Bilder sind seit drei Jahrzehnten nicht wieder aufgetaucht, sie gelten als verschollen. Der Schätzwert von Spitzwegs Poeten liegt bei einer halben Million Euro aufwärts.

 

Marina Abramovic und Ulay 1980. Rest Energy. Quelle: MoMa

 

Und heute? Da kauert der arme Poet pandemiebedingt und zum Stillstand verurteilt in seiner Schreibstube und weiß nicht wie er über die Runden kommen soll. Er füllt fleißig Anträge auf Förderung aus, schwankt zwischen Hoffen und Bangen. Unabhängigkeit hat seinen Preis, heißt es. Seit Spitzwegs Zeiten vor fast 200 Jahren hat sich die Welt turbulent gedreht. Doch das Schicksal des armen Poeten ist geblieben. Vielleicht regnet es bei den modernen Solo-Selbstständigen nicht mehr durchs Dach?