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Über den Berg

Neue Ideen nehmen ihren Anfang häufig vom Ende der Welt. Halberstadt ist eine kleine Provinzstadt mitten in Deutschland, in Sachsen-Anhalt. Mittendrin, aber abseits. Eine Region die viele nicht kennen, maximal als nervige Wegstrecke zwischen Hannover und Berlin. Nun wollen die Halberstädter nach ihrer John Cage-Performance eine neue spektakuläre Aktion starten. Sie nennen es „Keine Handbreit Wasser“. Rund 200 Freiwillige wollen im Schweiße ihres Angesichts 100 Paddelboote ohne eine Handbreit Wasser unter dem Kiel über einen Berg schleppen. Geht`s noch? Während gerade der Südwesten Deutschlands in brauntrüben Fluten untergeht, ziehen die Halberstädter gegen den weltweit dramatischen Wassermangel zu Berge.

Überschwemmungen und Dürre, Sintfluten und Trockenheit, Bäche, die zu reißenden Flüssen werden und Wasserknappheit sind Extreme aber zwei Seiten einer Medaille. Mutter Natur rächt sich. Der Mensch zahlt die Rechnung. Hunger nimmt weltweit wieder zu. Folge von Pandemie, Klimawandel, gewaltsamen Konflikten und Ergebnis grotesker Ungleichheit. Wie kommen wir über diesen Berg? Ilka Leukefeld lacht. Die Künstlerin hat sich das Huy-Projekt „Keine Handbreit Wasser“ ausgedacht. „Wir sitzen alle in einem Boot. Wir müssen zusammen in eine Richtung rudern. Nicht im Kreis herum. Dann funktioniert`s.“ Die Kunstaktion am 24. Juli 2021 will zeigen, dass Menschen viel bewegen können, wenn sie es gemeinsam versuchen.

 

„Boote im Wald – Karawane im Huy“ – Kunstaktion in Halberstadt/Sachsen-Anhalt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Leukefeld: „Es ist fünf nach zwölf. Wir wollen eine Aktion starten, die Mut macht.“ Die Grundwasservorräte seien endlich, in vielen Regionen der Welt würden die Wasservorräte sinken. „Wir leben in Halberstadt im Vorharz. Wir sind bereits im dritten Jahr mit großer Trockenheit. Oder wir haben Extremregen. Deshalb tragen wir 100 Boote über den Berg. Das ist eine Versinnbildlichung für den Zustand, wenn kein Wasser mehr da ist.“ Am Zielpunkt in einer Scheune in Huy-Neinstadt werden die Boote hängend installiert. Auftakt für insgesamt vier Podien im Sommer und eine Abschlussveranstaltung am 2. Oktober. „Die Resonanz ist gut. Schüler, Studenten, Rollstuhl-Fahrer, Mitarbeiter von Stadtwerken oder Diakonischem Werk, aber auch Flüchtlinge machen mit“. Jede(r) zählt. Noch werden Freiwillige gesucht.

 

14 Kilometer 100 Boote tragen – Sinnbild, wenn das Wasser fehlt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Die Halberstädter haben einen langen Atem. Ihr international beachtetes Orgelprojekt „As slow as possible“ in einem ehemaligen Kloster ist auf 639 Jahre angelegt. Die Hommage an den Komponisten John Cage zieht seit über zwanzig Jahren Publikum aus der ganzen Welt an. Jeder Tonwechsel ist ein Grund zum Feiern. Nun zieht eine Boot-Karawane über den Berg. Ist das nicht Größenwahn, eine Art Klein-Fitzcarraldo im Harzvorland? Nein, meint Ilka Leukefeld, die nach zwanzig Jahren künstlerischer Arbeit in London in ihre Heimat zurückgekehrt ist. „Wir machen das absolut freiwillig. Für mich wäre es schon ein Erfolg, wenn auch nur ein einziges Boot die 15-Kilometer lange Strecke über den Berg getragen wird.“

 

Freiwillige für die Kunstaktion am 24. Juli 2021 können sich noch melden. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Am Morgen des 24. Juli 2021 soll eine Kilometer-lange Karawane in Halberstadt aufbrechen, um zu zeigen, dass Menschen nicht alle Katastrophen klaglos hinnehmen wollen. Die Kunst-Aktion mag verrückt sein. Aber kommen die besten Ideen aus den Zentren der Macht? Sie wachsen woanders. Zum Beispiel in Halberstadt. Auf geht´s. Das Unmögliche wagen. Das Mögliche machen. Über den Berg.

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Das Amt für Glück  

Aufschneider, Besserwisser, Coach-Helden, Damen-Imitatoren, Dampfplauderer, Fitness-Gurus, Freisprecherinnen, Narzissten, Positionierungsexperten, Salon-Löwen, Selbstdarsteller, Sinnsucher, Spielwütige, Schönheiten, Talker, Yoga-Krieger-Übende, Zyniker und noch mehr Zeitgeisthelden sind ständig online. Viele suchen das kleine oder große Glück. Andere teilen ihren Kummer, ihre Ratlosigkeit und Wut. Aber alle wollen Aufmerksamkeit, Klicks, Likes und möglichst viele Follower. Vom Glück ein gesundes Baby in Corona-Zeiten zu bekommen, erzählt diese Twitter-Episode. Die Geschichte mit dem neuen Menschenkind nimmt rasch eine unschöne Wendung. Die Folge: Eine alleinstehende Mutter* verzweifelt an der Berliner Bürokratie. Doch der Reihe nach.

Anfang Juni 2021 war eine werdende Mutter kurz vor der Entbindung Covid-19-positiv getestet worden. Der Nachwuchs kam in der Charité mit Hilfe eines Kaiserschnitts zur Welt. Alles lief gut. Wegen des positiven Tests wurden Mutter und Kind isoliert. So hatte die frisch gebackene Mutter keine Möglichkeit ihr Kind bei der Geburtenmeldestelle anzumelden. Als sie das Krankenhaus verlassen konnte, ergab sich eine bizarre bürokratische Odyssee: ohne Geburtsurkunde kein Mutterschaftsgeld, kein Elterngeld, kein Kindergeld, kein Kinderzuschlag, kein Überbrückungsgeld. Nichts. Die Mutter berichtet: „Der erste Anruf beim Standesamt Berlin-Mitte war deprimierend. Die Dame am Telefon war unfreundlich und pampig zu mir. Wär ja mein Problem, dass ich mein Kind nicht In der Klinik gemeldet habe. Sie hätte die Geburt noch nicht im PC, ich solle kommende Woche noch mal anrufen aber mich nach Beantragen auf 12 Wochen Bearbeitungszeit einstellen.“ Das sind exakt drei Monate.

 

 

Verzweifelt rief die Mutter bei ihrer Krankenkasse an. Die Reaktion? „Ich schilderte meine Situation: Dass ich gerne bereit bin eine Kopie vom U-Heft oder Eintrag im Mutterpass als Beweis senden würde, dass mein Kind existiert. Dass ich auf mein Mutterschaftsgeld angewiesen bin und bat um irgendein Entgegenkommen. Keine Chance. Als ich anfing aus Verzweiflung zu weinen, wurde der Mann leicht pampig. Ich müsse Verständnis haben, dass sie nun mal ihre Vorgaben haben. Ich hätte mir Empathie gewünscht, dass ich ohne Mutterschaftsgeld, ohne Familienversicherung für mein Neugeborenes nun mal verzweifelt bin und nicht weiß, wie ich ihn ernähren soll.“

Doch auch Jobcenter und Sozialamt lassen die Anfragen der berufstätigen Erzieherin nach Überbrückungsgeld ins Leere laufen. Die unverschuldet in Notlage geratene Mutter schreibt: „Sie haben mich wegtreten lassen zwecks Überbrückungsgeld, weil ich ja prinzipiell einen Job habe und nur in Elternzeit bin. Ich wurde sogar dafür geshamed und als „selbst schuld“ angeprangert, weil ich alleinerziehend bin und derzeit auch keinen Unterhalt bekomme. Ich stehe derzeit also da, mit einem Kind, das versorgt werden muss. Mit 450 Euro weniger im Monat und bald komplett ohne einen Cent, weil das Elterngeld und Kindergeld ja erst bearbeitet werden muss“.

 

Verwaltung ist Herrschaft. (Max Weber) Der Rückstau. Rund 250.000 unerledigte Fälle in Berliner Bürgerämtern. Foto: 99pixel

 

In Berlin warten derzeit rund 250.000 Bürgeranfragen auf einen Termin. Ob Geburts- oder Sterbeurkunde, neuer Ausweis oder Wohnsitz-Ummeldung (alles gesetzlich vorgeschrieben): die durchschnittliche Wartezeit liegt bei drei Monaten. Verwaltung ist Herrschaft sagt ein alter Grundsatz. Und Kurt Tucholsky spöttelte: „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.“ Diese Lebenswirklichkeit beschrieb er vor genau 91 Jahren. Im Fall der jungen Mutter habe ich Anfang Juli 2021 beim zuständigen Bezirksamt Berlin-Mitte nachgefragt. Man habe von dem Fall gehört, hieß es, man müsse die Zuständigkeit prüfen. Geschehen ist seitdem – nichts.

 

*Die Mutter will namentlich nicht genannt werden.

Am Ende hilft zur Wirklichkeitsbeschreibung nur Loriot.

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Die letzten Reporter

Wenn Ihr den Zug der Zeit verpasst, dann werdet Ihr „Cadavers on the floor“. Auslaufmodelle. Dinos. Fossile. Die taffe Expertin rät: „Ihr müsst eine Marke werden. Macht Digital Storytelling. Ihr braucht neue, moderne Ausspielkanäle auf Notebook, Tablet oder Smartphone. Die alte Zeitung hat keine Zukunft.“ Die junge Marketingexpertin schaut in die ratlosen Gesichter der alten Hasen. Eine Spezies Berichterstatter, die sich verzweifelt an Stift, Notizbuch und ihre Überzeugung klammert. Journalisten sollten Inhalte transportieren und keine Klickzahlen produzieren. Der neue Dok-Film Die letzten Reporter erzählt drei bewegende Geschichten aus einer Welt, die dem Untergang geweiht zu sein scheint.

 

Thomas Willmann. Sportreporter. Jedes Wochenende im Einsatz. Jetzt auch auf Facebook.

 

Da ist Sportreporter Thomas Willmann aus Schwerin. Motto: Auf dem Platz ist die Wahrheit. Mit stoischer Ruhe berichtet er Wochenende für Wochenende vom Dorf-Kick, Radball oder Ringen. Er hört zu. Jeder kennt ihn. Ein Reporter mit Notizbuch und Nokia-Handknochen, der sich von nichts ablenken lässt. Der seinen Job liebt, dem die Ehefrau weggelaufen ist. Egal. Hauptsache, die Zeitung bleibt. Nun soll er seine „Storys“ auf Instagram und Facebook posten. Wie das?

 

Werner Hülsmann. Immer auf Draht. 30 Jahre lang Osnabrücks Boulevard-König.

 

Amüsant der Promi-Reporter von Osnabrück Werner Hülsmann. Dreißig Jahre lang hauchte er in seiner Kolumne Werners Cocktail dem Provinzdasein Glanz und Glamour ein.  Ob Peter-Maffay-Verschnitt oder blondierte Operndiva, die fürs Autohaus Werbearien trällert, dieser Gerhard Schröder in der Osnabrück-Ausgabe – Motto: Wie war ich? – hatte sie alle. Sogar Thomas Gottschalk. Auch er muss sich umstellen, in Rekordzeit den Quantensprung zum Multitasking-Media-Mann wagen. Als Entertainer alter Schule weiß er allerdings: „Heißer Scheiß“ verkauft sich immer besser als „alter Scheiß“.

 

Anna Petersen. Ganz nah dran. Nachwuchshoffnung aus Lüneburg.

 

Und da ist Anna Petersen, 25-jährige blonde Berichterstatterin aus Bienenbüttel. Sie berichtet für die „Lüneburger Landeszeitung“ über Rentnerinnen im Rufbus, besorgte Bauern, übende Feuerwehrwehrleute und wegdämmernde Ratsmitglieder. Besonders sensibel porträtiert die junge Lokalreporterin eine schicksalsgebeutelte Tochter einer Alkoholikerin. Petersen will dicht dran sein an den Leuten, über die sie schreibt. Nicht weit weg, wie bei ihrer Ausbildung in der Süddeutschen Zeitung, wo sie in der 9. Etage eines gläsernen Hochhauses fremdelte. Anna Petersen hat Zukunft. Sie macht Mut. Für ihr mehrteiliges Porträt „Chaos im Kopf“ über die junge, leidgeprüfte Frau erhielt sie vor wenigen Tagen den renommierten Theodor-Wolff-Preis für Lokaljournalismus.

 

 

Filmemacher Jean Boué ist eine eindrucksvolle Hommage an Die Letzten Reporter gelungen.  Menschen, die schlecht bezahlt in einem prekären 60 Stunden-Wochen-Job drei bis vier Geschichten am Tag abliefern müssen. Getriebene, die gegen dramatisch sinkende Auflagen anschreiben. Immer im Wettlauf mit der Zeit und nun auch „On-Air“. Diese Reporter trinken den Kaffee nicht, sie stürzen ihn weg. Am Ende zeigt der Film fast wehmütig, wie Zeitungsjournalisten gegen den Lauf der Zeit anrennen – wie einst die Bergleute in ihren Zechen und Gruben.

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Fuggern

„Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.“ Maklerpoesie vom Feinsten. Wer in Großstädten eine bezahlbare Bleibe sucht, wird im Alltäglichen schnell auf den Boden geholt. Im Herzen Kreuzbergs“ ist mittlerweile eine 4-Zimmer-Altbauwohnung mit 165,81 Quadratmeter für4642,68 Euro kalt zu haben. Das ergibt eine Warmmiete von 5062,68,- pro Monat.  Kein Wunder, dass weniger Betuchte wie in Berlin dem Mietendeckel nachtrauern (hat nicht funktioniert) oder dreihunderttausendfach eine Initiative zur Enteignung von großen Wohnungskonzernen unterstützen. (soll im September 2021 per Volksentscheid entschieden werden). Doch es geht auch anders. Ganz anders zum Beispiel in Augsburg.

 

Seit 500 Jahren erfolgreicher sozialer Wohnungsbau. Die Fuggerei in Augsburg. Quelle: Wikipedia

 

In der Fuggerei in Augsburg gibt es die einmalige Chance für einen rheinischen Gulden = 88 Cent im Jahr eine Sozialwohnung zu mieten. Günstiger geht es wirklich nicht. Hinzu kommen noch pro Monat rund 85 Euro Betriebskosten. Das ist der Preis für eine rund 60qm große Wohnung mit kleinem Garten, separatem Eingang und einer mechanischen Türglocke wie zu Opas Zeiten. Dieser traumhafte Niedrigpreis gilt seit genau 500 Jahren. Am 23. August 1521 führte Jakob Fugger der Reiche – „ein langer rainer herr, hips und frölich von andlit“ – den ältesten Mietendeckel der Welt ein, in der älteste Sozialsiedlung der Welt.

Familie Fugger machte ihr Geld mit Tuche, Textilien, Südfrüchten, Juwelen und Gewürzen. Die Fuggers finanzierten Kriege und kassierten beim päpstlichen Ablasshandel bis zu 3% Provision. Eine geschäftstüchtige Familie. So eine Art Amazon des Mittelalters. Allerdings hatte die Familie ein Herz. Die Armut in deren Blüte-Zeit  war groß. Jeder zweite Augsburger zählte im 16. Jahrhundert zu den Habenichtsen. Also ließ Jakob der Reiche ab 1516 eine Siedlung bauen: Für kleine Handwerker, Tagelöhner, kinderreiche Familien und auch einen gewissen Franz Mozart. Der einfache Maurer war übrigens der Urgroßvater des späteren Maestros Wolfgang Amadeus Mozart.

Die Aufnahmebedingungen für eine der 142 Wohnungen in 67 Häusern sind immer noch dieselben wie vor 500 Jahren. Wer in die Fuggerei einziehen will, muss Augsburger und katholisch sein. Und: Er oder sie muss bereit sein, dreimal täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis für den Stifter Jakob und die Stifterfamilie Fugger zu absolvieren. Ob die tägliche Lobpreisung noch kontrolliert wird, ist unbekannt.

 

Tagsüber (wieder) Touristenmagnet. Abends Stille mit Rad und Brunnen. Das Tor zur Fugger-Siedlung wird um 22 Uhr verschlossen. Quelle: Wikipedia

 

Derzeit wohnen etwa 150 bedürftige Augsburger für eine Jahres(kalt)miete von 88 Cent in der Fuggerei. Subventioniert von den Fugger-Stiftungen, die ihr Vermögen mit Immobilien und Waldbesitz machen. Kein Wunder: Die Bewerberliste hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Zum diesjährigen Jubiläum planen die Fugger-Stiftungen ein „Next 500“. Ihre Idee von günstigen Sozialwohnungen soll weltweit Schule machen. Wäre das nicht die „wahre Lebenskunst“, die „im Alltäglichen das Wunderbare“ sieht? Wohnen ohne Monatsmieten, die Menschen jede Luft zum Atmen nimmt.

 

 

Fuggern wäre doch ein Plan. Wenn es sein muss, auch mit einem täglichen Dankesseufzer „Vater unser, dein Reich komme, im Himmel wie auf Erden…“

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Einen alten Baum…

… verpflanzt man nicht. Sagt der Volksmund. Ben Wagin ist 91 Jahre alt. Knorrig, nicht mehr ganz knackig. Doch im Denken, Fühlen, Handeln kreativer als die meisten der jüngeren Nachgeborenen. Ben ist eine echte Berliner Pflanze. Baumpate, Bildhauer, Lebenskünstler, Maler und unermüdlicher Kämpfer Er duzt jede(n), egal ob be-porschter Makler, mächtiger Minister oder tatendurstige Feministin. Ben ist sauer. Mächtig sauer. Sein letztes großes Wandbild soll weg. Und zwar flott. Zum 30. Juni 2021. Da ist nicht mehr viel Zeit. Die bittere Pointe: Sein Weckruf für mehr Umweltschutz aus den Achtzigern soll weichen – im Namen des Umweltschutzes. Die schwarzbraune verrußte Ziegelwand erhält einen neuen Dämmputz.

 

 

„Wir trinken was wir pinkeln!“ Wie oft habe ich am S-Bahnhof Savignyplatz auf seinen Weltenbaum II geschaut? Ich kann es nicht mehr zählen. Meistens so lange, bis die nächste Bahn kam und mich nach Berlin-Mitte beförderte. Sein Werk ist 105 Meter lange Kunst. In der Mitte ein Riesenbaum mit Ästen, züngelnder Schlange, verzweifelten Gesichtern, Trauernden, Toten, dazwischen ein Mädchen, das lächelt. „Idealisten sind immer in der Gefahr/An ihrem Idealismus zugrunde zu gehen.“ Schiller grüßt. Wagin schrieb es in den achtziger Jahren an die Wand, als die Züge seltener fuhren, als die Mauer die Stadt noch stabil teilte.

 

Weltenbaum II. Detail. Berlin. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

„Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur.“ Seinen Satz auf seinem riesigem in die Jahre gekommenen Wandbild hat sich mir eingebrannt. Ob die Smartphone-Generation Wagins Botschaften noch wahrnimmt? Heute heißt auf den Zug warten, aufs Gerät starren und subito zum nächsten Bild wischen. Was man verpasst? DenWeltenbaum II, 2013 komplett saniert. Das Wagin-Gesamtwerk verbindet bekannte Künstler wie Beuys, Grass oder Frida Kahlo, schlägt eine Brücke von den Nazi-Jahren 1933 bis 1945 bis zur Umweltzerstörung unserer Tage. Wagins Werk soll nun „irgendwie“ gerettet werden. Nach Vorstellungen von Investoren und mancher Politiker am besten im Internet. Als Instagram-News. Dann sehen es die Menschen vielleicht wieder.

 

Alt wie ein Baum. Der Putz fällt ab. Im Namen des Umweltschutzes soll der Umweltbaum weg. Frist des Investors bis 30. Juni 2021.

 

Alt wie ein Baum. Ben Wagin hat in seinem langen Leben an die 50.000 Bäume gepflanzt. Als Junge musste er am Ende des II. Weltkrieges aus den ehemaligen Ostgebieten nach West-Berlin flüchten. Der Großvater gab ihm eine Lebensweisheit mit: „Egal, was kommen wird, die Bäume werden zu dir sprechen.“ Wenigstens sein bekanntes Parlament der Bäume am Reichstag genießt Denkmalschutz. Was wird nun aus seinem großen Lebenswerk? Ein Umpflanzen des Weltenbaums ist kaum möglich, dem Künstler fehlt das Geld und mit seinen 91 Jahren vielleicht auch die Kraft. Ob sein Werk auf Dämmschutzplatten gepinselt werden kann? Kaum vorstellbar. Der ewigjunge Ben Wagin zitiert einen anderen alten, sperrigen Idealisten: Ernst Jünger. „Bruder Mensch hat uns schon oft verlassen. Bruder Baum nie.“

 

Weltenbaum II. Detail. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

Weltenbaum II ist noch zu sehen am S-Bahnhof Savignyplatz. 24/7. Eintritt frei. Soundtechnisch untermalt von der Berliner S-Bahn.

Alles so schön bunt hier

Als die Computer das Laufen lernten, bauten deren Hersteller für ihre neuen Wunderwerke ganze Paläste. So auch die Stadt Leipzig für ihr VEB-Datenverarbeitungszentrum. Wir schreiben das Jahr 1986. VEB steht für Volkseigener Betrieb. Auf den schwarzen Monitoren der neuen Robotron-Kisten flackern grüne Buchstaben, Zahlen und Männchen. Eine bessere Welt ist das Versprechen. Schneller, effektiver und natürlich sicherer. Das Datenzentrum etablierte sich vis-à-vis vom Sitz der Staatssicherheit. Die Wende bescherte das Ende der volkseigenen Datenerfassung. Längst ist hier die G2 Kunsthalle beheimatet. Dieser spezielle Ort ist wie geschaffen für einen Maler wie Norbert Bisky. Der gebürtige Leipziger will wissen, was aus dem Geist wurde, der einst so vielversprechend aus der Flasche fluppte.

 Bisky nennt diese schöne neue Welt Disinfotainment. Die neue Medienwelt ist für ihn ein Alltag aus Überinformation, Unterhaltung und Desinformation. Trollfarmer (2021) zeigt beispielsweise in bunten Popfarben einen jungen Mann, der völlig versunken vor seinem Gerät nicht einmal den Stinkefinger bemerkt. Bisky reizt das Zeitgeist-Phänomen der Internetsucht, genannt „Doomscrolling“. Gemeint sind Menschen, die unentwegt nach neuen Katastrophen, Clips und Kontakten jagen. Immer auf dem Sprung, stets getrieben von der Angst etwas zu verpassen. Die Apokalypse auf dem Schirm, beschleunigt durch die Einsamkeit in der Quarantäne der Corona-Pandemie. „Ich finde das krass, was da gerade passiert.“

 

 

Das Surfen im Netz als Jagdrevier der einsamen Herzen. Freiwillig folgen sie der Macht der Algorithmen. Sie scrollen durch Kammern der Selbstinszenierung, flanieren abgestumpft in Emotionsblasen aus Hass und Hetze. Bisky zeigt uns Menschen im freien Fall. Es gibt kein Halt mehr. Hurra, die Welt geht unter. Einer von Biskys jungen schönen einsamen Männern heißt Pascal. Kein Zufall. Pascal ist die physikalische Einheit für Druck. Bisky sagt, reale Konflikte werden längst virtuell ausgetragen. So gebe es mittlerweile genügend Menschen, die glaubten, «Probleme wie den Nahostkonflikt auf Instagram zu lösen».

 

 

Mit seinen Ölbildern und Installationen aus Computerschrott der volkseigenen DDR-Achtziger reitet Bisky wie einst Don Quichote gegen die Windmühlen unserer Zeit. Die modernen Räder drehen sich in Echtzeit. Schneller als je zuvor. Das Netz verspricht  Abwechslung, Entertainment und die neuesten News. Bis zum Burnout auf Krankenschein. Bisky stellt die richtigen Fragen. Wie gehen wir mit Überreizung, innerer Unruhe und einer nicht mehr zu stoppenden Bilderflut um? Schnelle Antworten gibt es in Leipzig nicht. Aber viele Denkanstöße.

Norbert Bisky
„Disinfotainment“
G2 Kunsthalle, Leipzig
Bis 26. September 2021

Mein Land, dein Land, unser Land

Nennen wir sie Jana. Jana ist vierzig Jahre alt. Aufgewachsen in einer ostdeutschen Kleinstadt, arbeitet und lebt sie im Südwesten der Republik. Jana verspürt manchmal Heimweh. Sie ist mittlerweile genauso alt wie der kleine Staat mit den drei Buchstaben DDR, in den sie 1981 hineingeboren wurde. Jana lernte den Pioniergruß und das nur die Gemeinschaft zählt. Als sie neun wurde, änderten Eltern, Lehrer und Erwachsene die Tonlage, warfen ihr altes Leben wie Trabis und die Bitterfelder Schrankwand auf die Müllhalde. Das Alte, Morsche, Verkommene ist tot. Es lebe die Neue Zeit.

 

 

Jana bekam nach 1990 neue Schulbücher, machte ein neusprachliches Abitur. Sie verließ ihre kleine Welt, in der alles atemlos stillstand, suchte westwärts das versprochene Paradies. Sie studierte in einer schmucken Universitätsstadt, entdeckte ein verwirrendes System von Möglichkeiten. Ihr offenbarte sich ein Land voller Abfahrten, Umgehungsstraßen, Bau- und Supermärkten, Tankstellen, Reihenhäusern und schicken Villenvororten, versteckt hinter meterhohen Buchenhecken und gesichert durch dezente Videoanlagen. Keine Orte zum Verweilen. Auf ihren gelegentlichen Berlin-Touren erlebte Jana Castorfs Volksbühne, Christos eingepackten Reichstag, Filme von Quentin Tarantino oder David Lynch.

Jana absolvierte ihren Master in Landschaftsplanung, lernte rasch, dass Investoren zu viele Grünflächen nicht mögen, weil sie die Betriebskosten erhöhen. Sie spürte, dass man über Geld nicht spricht sondern einfach hat. Wer arm ist, hat eben Pech gehabt. Der Zeitgeist lehrte: Wer öffentliche Kassen plündert, ist bestens geeignet am Ende Inventur zu machen. CumEx, Wirecard oder Maskenvermittler zeigen bis heute, wie es geht. Sie traf Menschen, denen es an nichts fehlt außer an Bescheidenheit. Dafür pflanzte die neue Zeit ein Netz an Antidiskriminierungsbeauftragten, veränderte die Sprache und erklärte Diversity zum Menschheitsideal und Fortschritt.

 

Unbekannter Osten. Gesehen in Waren an der Müritz. Mecklenburg-Vorpommern. 2020.

 

Jana verschwieg eisern ihre Ost-Biografie, das ersparte unnötige Fragen. Der Lohn folgte in Form einer steilen Karriere.  Dennoch suchte sie etwas anderes. Halt, Geborgenheit und einen lebenswerten Ort, um eine Familie zu gründen. Sie haderte mit einer Gesellschaft, in der nur noch eine Religion herrschte. Die des Eigentums. Ein Land, in dem Meinungen und Gesinnungen wie Waschpulver oder Parfum angedreht werden, fand Jana. Vor kurzem zog sie zurück in die kleine Stadt ihrer Eltern. Dort aßen, tranken, sagten und wählten die Menschen das Falsche. Aber sie stellten auch richtige Fragen, auf die sie keine Antwort bekamen. Wie ist es möglich, dass man sparsam jedes Jahr weniger Strom verbraucht und dennoch am Ende mehr bezahlt? Wie kommt es, dass Familien Vollzeit arbeiten, aber nicht wissen, wie sie mit 1.400,- netto bis zum Monatsende kommen?

Jana gefiel, dass sich Nachbarn gegenseitig helfen, ohne viel Lärm zu machen. Ihr fiel auf, dass zu jeder Wahl Reporter auftauchten, die wissen wollten, warum sie „Demokratie und Freiheit“ nicht schätzten? Warum sie falschen Heilspredigern nachliefen? Sie fragte sich aber auch, warum sie am Ende die immergleichen Geschichten schrieben, mit der angesagten Haltung: Anlächeln, sich moralisch überlegen fühlen, weiterziehen.

 

Berlin. Oberbaumbrücke. Die Stadt, in der Gemeinsamkeit jeden Tag neu gelebt werden kann. Foto: Renate Pinné

 

Jana ist vierzig Jahre alt. Genau so alt wie die untergegangene DDR mit ihrem unerfüllten Versprechen von einem gerechten Land. Wer verstehen will, was es mit dem „unbekannten Osten“ auf sich hat, sollte Jana fragen Es gibt viele Janas. Im Osten wie im Westen. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

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Denken ohne Geländer

Manhattan, 4. Dezember 1975. Plötzlich wollte das Herz nicht mehr. Es beschloss stehen zu bleiben. Das Herz von Hannah Arendt. In der Schreibmaschine steckte die erste Seite eines neuen Textes über „Das Urteilen“. Am nächsten Tag wollte die 69-jährige streitbare Denkerin loslegen. Von Arendt stammt der Satz: „Der Sinn von Politik ist Freiheit und nicht Einschränkung.“ Freies Denken und der Streit um den richtigen Weg waren der Motor ihres Lebens. Dabei war die Kettenraucherin eine Außenseiterin hoch drei. Sie war Jüdin, Frau und Intellektuelle. Zweimal musste die Bürgertochter aus Königsberg neu anfangen. 1933 nach der Flucht aus Hitler-Deutschland. 1941 als Exilantin in New York.

„Wir sind nicht geboren, um zu sterben, sondern um gemeinsam etwas Neues anzufangen.“ Typisch Arendt. Wir sollten unsere Tage besser mit konkretem Handeln nutzen bevor wir wieder in jenem „Nirgends“ verschwinden, aus dem wir gekommen sind. Bei unserem Verschwinden würde „der Kosmos nicht einmal zucken“, meint sie augenzwinkernd. In ihrer speziellen Mischung aus Schnoddrigkeit und Schärfe beschreibt sie das Lebensgefühl des modernen Menschen, in dem jede Freiheit von Anpassung, Sach- und Leistungszwängen erdrückt werde. Bürger hätten brav zu sein, sollten Dinge herstellen und verbrauchen, auch diejenigen, die sie gar nicht brauchen. Durch kapitalistische „Vergeudungswirtschaft“ verlören „ganze Bevölkerungsschichten ihren Platz in der Welt“. Die Gesellschaft dränge auf Veränderungen, doch Machteliten schotteten sich ab. Experten behaupteten beschwichtigend, die Gesellschaft sei eben so komplex wie die Evolution. Das schrieb sie vor über fünfzig Jahren.

 

 

Scharf kritisiert Hannah Arendt „die Religion des Eigentums“. Sie bekümmert, dass Bürgern „Meinungen und Gesinnungen wie Seifenpulver und Parfum“ verkauft werden. Die blockierten sozialen Kämpfe verwandelten sich am Ende in Kulturkämpfe. (Heute wären das Gendern und Identität). In Stellvertreterdebatten werde nur noch aggressiv gestritten, nicht jedoch das Gemeinsame gesucht. Für Arendt war klar, dass in fragmentierten Teilwelten keine kommunikative Macht entstehen kann. Anything goes. Alles geht, aber das mit voll aufgedrehter Lautstärke.

Gegen ihre Morgenmelancholie half eine Tasse Kaffee und natürlich Zigaretten. Wer raucht, denkt, war ihr Credo. Natürlich irrte auch die Dame aus Manhattan, manchmal sogar gewaltig. Ihr berühmter Gedanke über den NS-Schreibtischtäter Adolf Eichmann von der „Banalität des Bösen“ kostete der Philosophin 1964 viele Freundschafen. Man warf ihr „Originalitätssucht, Arroganz und Verrat an der jüdische Sache“ vor. Sie erntete jahrelang gewaltige Shitstorms. Aber sie blieb dabei: „Eichmann ist ein Hanswurst. Das nahmen mir die Leute übel.“ Die Geschichte gab ihr Recht. SS-Täter Eichmann war kein Dämon, er war ein Bürokrat. Die Banalität des Bösen.

 

Gegen den Strom. Nicht immer einfach, besonders in Hamburg im Juni 1936.

 

Eigenständiges Denken ist und bleibt ihr Vermächtnis. Dinge verstehen wollen. Suchen, Nachdenken. Wie genial einfach ist dieser innere Kompass und wie schwer ist ihm zu folgen. Gerade in heutigen Zeiten von Twitter-Gewitter, Cancel Culture und selbstgerechter, moralischer Belehrung. Zum Schluss daher lieber noch einer dieser typischen Arendt-Sätze: „Wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust, zu leben.“

Der Mann mit der Maske

Wenige Minuten vor Konzertbeginn. Das Berliner Tempodrom am Anhalter Bahnhof ist rappelvoll. Das Publikum wartet ungeduldig auf den Meister. Kein Wunder. Seine Audienz ist sündhaft teuer. Plötzlich geht ein Spot an. Eine Dame im Business-Kostüm stöckelt auf die Bühne, nestelt an ihrem Headset und bittet routiniert im Stewardessen-Ton um Aufmerksamkeit. „Im Interesse der Künstlers und des Konzerts sind Handyaufnahmen und Fotos unerwünscht.“ Abgang. Die Kapelle legt los. Aus dem Nichts betritt ein Mann mit Hut das Geschehen. Gesicht verschlossen. Ganz in schwarz. Der knarzende Nobelpreisträger singt maskenhaft. Seit 1988 jettet er rastlos mit seiner Never Ending Tour um die Welt. Bob Dylan. Sechzig Jahre Bühnenpräsenz, 600 Songs und jetzt vielleicht etwas mehr als sechzig Minuten in Berlin. Der Mann auf der Bühne hält Distanz. Deutlich mehr als 1 Meter 50. Lange bevor Abstand pandemiebedingt gesellschaftsfähig wurde.

 

 

Mit dem Auftaktsong beginnt ein digitales Blitzgewitter. Hunderte Smartphones leuchten. Rowdies beziehen hinter den Boxen Position und zielen mit riesigen Mag-Lite-Taschenlampen auf jeden Knipser. Luftkampf im Tempodrom! Dylan singt unbewegt seine Lieder von Abschied, Hoffnung und Liebesleid. Knockin on heavens door. Seine Songs sind Balladen für die Ewigkeit. Texte, die andeuten, verschlüsseln, verwirren. Forever young. Wie er. Der ewige Lonesome Cowboy aus Minnesota/USA. Im Publikum flitzen Ordner zu Besuchern, die das Knipsen nicht lassen können. Mehr oder wenig rustikal werden sie gestoppt. All along the watchtower. Dylan nuschelt unbeeindruckt seine Songs von der Suche nach Erfüllung und Erlösung. Er formuliert diesen Kinderwunsch von einem guten Ende, an dem sich alles fügt, was bislang schief ging.

 

 

Hat der Bote auf der Bühne eine Botschaft? – Antwort Dylan: Warum fragt Ihr mich? Strengt Euren Grips an. Er sei kein Erfinder von Ideen, nur so eine Art Erbe. Das sagte er einmal. Oh, Mister Tambourine Man. Die Texte seien ihm nicht eingefallen, sondern „geisterhaft“ zugetragen worden. In seiner Biografie Chronicles von 2004 schreibt er: „Ganz egal, was man sagt, es ist nur Gestammel. Man hat nie die Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Zusammenflicken, drüberbügeln, rein damit, und ab geht die Post – so läuft das normalerweise.“ Don´t think twice it´s all allright.

 

 

Das Konzert knarrt dem Ende zu. Wieder blitzen Dutzende Handylichter auf. Tapfer hält die Dylan-Crew mit ihren Lampen dagegen. Ein wundersames Spektakel. Spannender als die routiniert heruntergeschnurrten Songs des Meisters. Als wollte Meister Dylan die Zeit aufhalten. Hört lieber zu. Als mit Euren Geräten verwackelte Selfies zu produzieren. Schnell ist die Stunde um. Eine Zugabe gibt es noch. Blowin in the wind. Verjazzt, verfremdet und doch freundlich wiedererkennbar. Keine Version zum Mitschunkeln. Aber zum wundern, dass in diesem alten, weißen Mann so viel an Potential steckt. Einer, der auch im achten Lebensjahrzehnt Lust an Neuem hat. Dylans Blowin in the Wind verweht leise im weiten Rund des Tempodroms. Die Lichter gehen an. Der Meister mit der Maske ist längst entrückt. Das Blitzen der Handys hat aufgehört.

Mein Berliner Dylan-Konzert war 2015. Live und mit Publikum. Happy Birthday zum 80ten, Bob.

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Irisch Man

Ein 75-jähriger Nordire stellt Fragen wie: „Why you are on Facebook? Why do you need secondhand friends?” Der Mann röhrt mit Leib und Seele: “Suchst Du dort etwas, was Du nicht finden kannst?” Der Facebook-Song ist einer von 28 neuen Songs des Urgesteins Van Morrison. „Latest Record Project“ heißt sein mittlerweile 36. Album. Sir Van, geadelt für sein Lebenswerk, kann es nicht lassen. Im neuen Album folgt sein Sound altbewährten, vertrauten Pfaden. Der Van the Man-Sound aus Blues, Bläsern und seiner seit sechzig Jahren einzigartig aufgerauhten Balladen-Stimme. Der Mann kann es. Übel gelaunt den besten Blues auf die Bühne bringen.

 

 

Jetzt schlagen Tugendwächter Alarm. Das neue Album sei musikalisch uninteressant, inhaltlich jedoch höchst bedenklich. Van nur noch ein „knurriger „Aluhütchen-Protestsänger“ und ein „frustrierter Rebell im Rentenalter“. Was ist passiert? Van Morrison kritisierte bereits 2020 in den Songs “Born to Be Free,” “As I Walked Out” and “No More Lockdown die Corona-Maßnahmen seiner Regierung. Der nordirische Gesundheitsminister Robin Swann war sauer und nannte Morrisons Texte „gefährlich“.

Ein Licht in Cancel Culture-Zeiten, jubeln seine Fans. Was denn nun? Gefährlich oder großartig? In mehreren Songs des 2021-Albums, vor allem in „They Own the Media“ heißt es zum Beispiel: „They control the story we are told“. Kritiker sagen, damit bediene Van Morrison ein klassisches Verschwörungsnarrativ. Wie sich die Zeiten ändern. 1968 hatten die Medien sein aufmüpfiges Werk Astral Weeks in den Himmel gelobt. Das Album sei ein Meilenstein. Einfühlsame, kritische Texte, musikalisch innovativ. Astral Weeks entstand in nur zwei Tagen mit renommierten Jazzmusikern in New York. Die außergewöhnliche Mischung aus Folk-, Blues-, Soul- und Jazzelementen errang 68er-Kultstatus, verkaufte sich nur äußerst miserabel.

 

 

Kritiker schwärmten dennoch weltweit: Astral Weeks sei unangepasst und ein mutiges Zeichen gegen den Mainstream. „Eine in sich geschlossene musikalische Welt aus akustischen Gitarren, Streichern, Vibraphonen, Cembalos und Van Morrisons seelenvollem Gesang. Ein Gemälde aus Klang, das erst unzugänglich erscheint und sich dann zu einem ganzen Universum purer Schönheit öffnet“. Und der Bayrische Rundfunk jubelte noch vor kurzem: „Wenn dieses Album dich einmal auf dem richtigen Fuß erwischt hat, dann bleibt es für den Rest deines Lebens“.

 

 

Und jetzt beim 36. Album „Latest Record“? Van auf dem falschen Fuß erwischt? Alles vorbei? Der Tenor der Verrisse lautet: Der alte weiße Mann wisse nicht mehr was er tut. Bitte mal einen Moment innehalten. Luft holen. Nachdenken. — Sind wir auf dem Weg zurück in den Kalten Krieg? Damals wurden „falsche“ Meinungen angefeindet in der Version-West: „Geh doch rüber!“ oder eingesperrt in der Logik-Ost: „Hetze für den Klassenfeind“. Heute werden Abweichler von Nena bis Van Morrison verteufelt.

Mein Tipp: Album anhören, eine eigene Meinung bilden. In der Frage des Corona-Krisen-Managements ließen sich viele Argumente austauschen. Van the Man, „ich teile Deine Meinung nicht. Ich werde aber bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen, dass Du Deine Meinung frei äußern kannst“.

Dieses Zitat ist von Voltaire.