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„Wahnsinn“

Es war einmal ein Land, das geteilt war. Das ist lange her. Heute teilen wir alles. Berlin, Deutschland, Europa und die Welt. Genau wie unsere Gefühle und Emotionen: Liebe, Hass, Leidenschaft, Wut, Überzeugungen, Ideologien, Hoffnungen, Enttäuschungen, Resignation, Trauer.

Sofort, per Klick, rund um die Uhr. Wir teilen auf facebook, twitter, instagram, telegram, tiktok. Make your day. Real people. Real videos, heißt es in den digitalen Netzwerken. Dort findet heute der Kalte Krieg statt. Wir teilen aus, teilen uns mit, teilen die Welt ein in Gut und Böse. Im einst durch Mauer und Stacheldraht eingeschnürten Land gab es eine geflügelte Redewendung. „…in dieser Frage sind wir aber absolut geteilter Meinung.

 

10.315 Tage hielt das deutsche Symbol von Abgrenzung und Abschottung. Die Mauer an der heutigen Wilhelmstraße, am Finanzministerium. Vorher Treuhand, zuvor Haus der DDR-Ministerien, davor Görings NS-Reichsluftfahrtministerium… Quelle: BSTU.

 

Vor genau dreißig Jahren war ich mit Notizblock und Stift unterwegs. Mobiltelefon, Laptop, IPad? Unvorstellbar! Aber ich traf reale Menschen, stellte reale Fragen und versuchte reale Filme zu drehen. Das reichte in den späten achtziger Jahren als Ansporn und Ausdruck. Am 9. November 1989 war ich die ganze lange Berliner Nacht unterwegs. Mit meinem Team Michael Koltermann, Hartmut Pauls und Marco Mangelli. Ihnen meinen Dank. Wir waren mittendrin, nicht nur dabei. Wir drehten, bis die Kassetten ausgingen und wir vor Müdigkeit fast umfielen. Es waren Momente, in denen Gänsehaut unser Begleiter war. Menschen wie du und ich rüttelten an der Mauer. Kein Politiker, kein Regime, kein Militär konnte die Menge aufhalten. In Berlin und anderswo.

 

Ohnmächtige DDR-Grenzer. Von oben keine Befehle, vor ihnen das Volk, hinter ihnen 28 Jahre Druck, Drill, Stress. Sie taten in dieser Nacht das einzig Richtige. Sie schossen als Angehörige der Nationalen Volksarmee nicht auf das eigene Volk. In der Stunde ihrer absoluten Niederlage errangen sie ihren größten Erfolg.  Foto: Die letzte Truppe ZDF.

 

Der 9. November 1989 war für mich ein Glücksfall. Als junger Reporter traf ich in dieser Nacht am Brandenburger Tor so viele fröhliche, friedliche und feiernde Menschen wie nie zuvor und auch nicht mehr danach. Sie kamen von überall, aus Ost und West. Alle einte der Wunsch, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Was viele umsonst mitbrachten – ungläubiges Staunen! Kein Schuss fiel. Nur und ab und zu krächzten Stimmen aus Armee-Lautsprechern, die aufforderten die Staatsgrenze der DDR sofort zu verlassen. Doch niemand rührte sich. Das Grenzregime war am Ende und das Wort des 9. November 89 war geboren – Wahnsinn.

 

Brandenburger Tor. Hauptstadt der DDR. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 2019. Gegen ein Uhr früh. Blick von Ost nach West am Pariser Platz.

 

Erinnern wir an diese Stunden als die Mauer in Berlin fiel, die so viel Leid, Tränen und Tote brachte. Und fragen nach, was aus diesem Glücksmoment der deutschen Geschichte geworden ist. Ein Fest ohne Buden, Gourmet-Meile, Kommerz. Ich teile hier 45 Minuten meiner Erlebnisse und Erfahrungen vom 9. November 1989 – mit realen Menschen und realen Bildern.

 

Demnächst mehr.

Mit-Gefühl – Feeling

Sie ist jung, talentiert, sieht gut aus und wird als Jazz-Wunder in den Medien gefeiert.  Sie selbst ist bescheiden geblieben. Kinga Glyk. Singen kann sie nicht, sagt die junge Polin über sich selbst. Will sie auch nicht. Lieber beherrscht sie ihren Bass wie keine andere ihrer Generation. Dabei ist der Bassist in der Regel männlich, eher zurückgezogen und zupft diskret im Hintergrund. Als Instrument übernimmt der Bass vorzugsweise eine dienende Rolle. Nicht bei Kinga Glyk. Virtuos entwickelt die Polin auf ihrem Lieblingsgerät eine eigene Handschrift, die überrascht und überzeugt. Kinga ist mittlerweile zwanzig Jahre alt. Sie gilt als eines der großen Talente im europäischen Jazz.

Kinga ist ihr polnischer Vorname und bedeutet auf Deutsch Kunigunde. Glyk kommt aus dem Griechischen und steht für „süß schmeckend und Zucker“. Kinga Glyk stammt aus einer polnischen Musikerfamilie. Vater Irek ist ein versierter Schlagzeuger, ihr Bruder ebenfalls Musiker, meistens sitzt er am Mischpult. Die Mutter organisiert das Management. Lange funktionierte die Band als Familienbetrieb. Mit zwölf begann Kinga den Bass zu entdecken. Nun legt sie ihr neues Album in verändeter Besetzung vor. Anfang November erscheint Feeling.

 

 

„Als Kind interessierte ich mich für den Bass, weil er mir eine ungewohnt kraftvolle Stimme gab, die ich damals nicht besaß“, erinnert sich Kinga. „Inzwischen sind seine Sounds längst zu meiner eigentlichen Sprache geworden, in der ich meine Empfindungen viel intensiver ausdrücken kann.“ Für Feeling komponierte sie sieben Stücke. Zwei weitere schrieb sie zusammen mit ihrem Pianisten und Produzenten Pawel Tomaszewski.

Ihr neues Album zollt dem Mainstream bei einigen Titeln Tribut. Zum Beispiel bei 5 Cookies, eine der ersten Auskopplungen. Jazz-Puristen werden die Nase rümpfen und solche populären Abstecher als Himbeer-Jazz verdammen. Zu süß? Zu seicht? Zu leicht? Von wegen. Kinga Glyk ist live ein Erlebnis. Da kann sie zeigen, wie sie modernen Jazz präsentiert. Ungeschminkt, voller Energie und mit dem richtigen Feeling.

 

 

Hier einige deutsche Tourneedaten für den Herbst 2019.

7.11.      Hamburg, Fabrik

8.11.      Göttingen, Festival

9.11.      Leverkusen, Jazztage

10.11.   Hannover, Pavillon

11.11.   Oldenburg, Kulturetage

12.11.   Marburg, KFZ

13.11.   Dresden, Jazztage

14.11.   Karlsruhe, Tollhaus

16.11.   Nordhausen, Theater

17.11.   Koblenz, Café Hahn

19.11.   Unna, Kühlschiff

20.11.   Mainz, Frankfurter Hof

Seelen-Futter

Je älter desto besser? Tja. Sagt man so. Gilt das auch für Van the Man? Für den Nordiren Van Morrison, der auf den Bühnen der Welt so gerne übelgelaunt die beste weiße Bluesperformance in die Herzen seines Publikum trägt. Und das seit über fünf Jahrzehnten. Ja, richtig. Es stimmt. Der Mann ist wie guter Wein. Und: Je trostloser die Lage, desto besser der Sound? Auch das trifft zu. Sir Van Morrison, von der Queen vor einigen Jahren geadelt, legt in diesen Tagen sein neues Album vor. Sein wievieltes? Ich weiß es nicht. Es sind so viele.

Was ich aber weiß: In Zeiten von Attentaten, Anschlägen, Brexit-Gezerre, zynischen Eliten, Kriegen und Klima-Turbulenzen soll, kann und will Van Morrison die aufsteigende Seelenpein mit Musik heilen. Die Vorab-Auskopplung ist jetzt online und zu hören: In the dark night of the soul.

 

In the dark night of the soul

Meditate on this and it will be revealed
Meditate on this and you will get healed
Meditate on this and you will feel whole
Get the vision of the ghost, again

 

 

Das komplette neue Album „Three Chords And The Truth“ erscheint Ende Oktober 2019. Es ist bereits sein sechstes Werk allein in den letzten vier Jahren. Van Morrison ist mit seinen mittlerweile 74 Jahren offenbar nicht mehr zu stoppen. Als renne er wie ein 100-Meter-Läufer gegen alle Stopp-Uhren an. Der Mann aus Belfast ist produktiver denn je. Three Cords verspricht sein bestes Album seit langer Zeit zu werden, mutmaßen Kritiker. Der ausgekoppelte Song In the dark Night of the soul ist auf jeden Fall typisch ungeschminkter Van-The-Man-Sound. Einfach, klar, unverfälscht. Und Balsam für die geschundene Seele.

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Der Traum vom Baum

Neues zur Klimakrise. Politiker zeigen Entschlossenheit, wollen handeln. Ob in der Bundesregierung oder auf lokaler Ebene. Dort, wo Politik konkret ist. Der Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat in diesen Tagen den „Klimanotstand“ ausgerufen. Rot-Rot-Grün packt an. Denn: „Das Klima wartet nicht“, sagt der Sprecher der Bündnisgrünen. Was geschieht? Unzählige Papiere werden gedruckt, in Umlauf gebracht, verworfen, korrigiert, um am Ende wieder im Papierkorb zu landen. Kreislaufwirtschaft im 21. Jahrhundert.

Alle Beschlüsse vor Ort sollen künftig auf Folgen für die Umwelt überprüft werden. Auf Basis der 17 UNO-Nachhaltigkeitsziele. Das hört sich beeindruckend an – Klimarettung auf höchstem Niveau.  Und die Praxis?

 

Das Sturmtief „Xavier“  entfaltete 2017 volle Wirkung. Der Ahorn war weggeknickt. Das Auto der Nachbarin optisch verändert. (Totalschaden). Unsere Räder blieben wie durch ein Wunder verschont.

 

Tatsächlich hat der wohlsituierte Kudamm-Bezirk andere Probleme. Neue Bäume zu pflanzen ist hier schwieriger als zum Mond zu fliegen. Da das Setzen und Pflegen von Straßen-Bäumen im Kernland Preußens eine hoheitliche Aufgabe ist, passiert seit Jahren – nichts. Die Verwaltung hat keine Mitarbeiter, die sich um Bäume kümmern könnten. Der Bezirk hat seit Jahren einen Baum-Notstand. Deshalb scheitern wir seit über einem Jahr  beim Versuch mehr Grün für die Stadt zu spenden. Die passende Fläche ist vorhanden, ausreichend Spendengeld vorhanden. Jeder Baum wäre ein kleiner Klimaverbesserer, heißt es. Eine Win-Win-Situation, nicht aber in Berlin.

Alle schriftlichen Anfragen um Hilfe an den zuständigen grünen Stadtrat blieben unbeantwortet. Auch seine Fraktion ignorierte mit lässiger Eleganz unsere Bürgeranfragen, ebenso das verantwortliche Grünflächenamt. Ämter und Politiker flüchten in Schockstarre. Es lebt sich heute wie in Zeiten des Absolutismus, Friedrich der Große lässt grüßen. Die Verwaltung hat Recht. Der Bürger zu funktionieren. Und muss warten.

Eine winzige Chance bleibt. Der Senat propagiert die Aktion „Stadt-Bäume für Berlin“. So will Berlin die dicke Luft in der Hauptstadt bekämpfen. Rund 60.000 Bäume seien allein in den letzten Jahren verloren gegangen. Überraschenderweise antwortete eine Senats-Mitarbeiterin (Referat Bäume) binnen vierzehn Tagen. Doch sie dampfte aufkeimende Hoffnungen zwei Zeilen später gleich wieder ein. Die praktische Umsetzung – sprich Pflanzung von Spendenbäumen – obliege dem zuständigen Bezirksamt. Endstation Baumsucht. Das war´s wohl. Munter wedelt der Schwanz mit dem Hund.

 

September 2019. Mut zur Lücke. Struppiges Berliner Straßengrün gedeiht, wo seit zwei Jahren ein Baum fehlt.

 

Letzter Stand: 2020 werde unsere Baumspende in der Bedarfsplanung „priorisiert“, verspricht die Frau vom Senat. Es bestehe eine gewisse Möglichkeit, dass die Lücke im nächsten Jahr geschlossen werden könne. Charlottenburg-Wilmersdorf hat ja offiziell den Klima-Notstand ausgerufenen. Per Amtsblatt und mit Aktenzeichen. Das muss reichen. Auftrag erfüllt. Gewissen beruhigt.  So funktioniert Berlin.

 

Quelle: Tagesspiegel

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Genau richtig

Hat Literatur die Macht, Wut, Hass und Vorurteile zu überwinden? Können Bücher wirklich etwas verändern? Jostein Gaarder müsste es eigentlich wissen. Der Norweger hat seinen Bestseller Sofies Welt sechzig Millionen Mal in die Welt verkauft. Momentan entdecken die Chinesen seine Betrachtungen über die Fragen des Woher und Wohin der Menschheit. Jostein Gaarder zögert mit seiner Antwort. Er schaut mich an. Überlegt. Der große alte Erzähler aus Norwegen bleibt skeptisch.

Er sagt: Wir leben in einem Zeitalter der Bilder. Sie haben längst mehr Wert als Worte. Aber! Die Zukunft des Wortes sei dennoch nicht zu unterschätzen. In diesem Sommer erscheint in Deutschland sein neues Buch: Genau richtig. Die Geschichte von Albert und Eirin. Der Mann erhält von seiner Ärztin und ehemaligen Geliebten eine niederschmetternde Diagnose. Während Ehefrau Eirin auf einem Kongress weilt, zieht er sich verstört in eine einsame Ferienhütte zurück. Was soll er tun? Sein einziger Freund ist sein Tagebuch. Fragen über Fragen.

 

Mit Ellen Olerud und Jostein Gaarder nach dem Interview in Lillehammer.

 

Was bleibt am Ende? Darf man mit einer Lüge die Welt verlassen? Geht ein Check-Out ohne ehrlich zu bleiben? Gaarder entwickelt eine kurze Geschichte über die großen Fragen. 136 Seiten Gedankenfutter zum Sinn des Lebens. Fragen, die ihn seit seiner Kindheit umtreiben. Soweit sein neues Buch. Im echten Leben, sagt er dann im Interview, gelte es die Welt zu retten. Die Jugend habe Recht. Er lächelt. Dann zeigt er mir seine Ohrstöpsel, die er wegen einer lauten Fridays for Future-Demo direkt vor seinem Hotelzimmer in seine Gehörgänge gestopft hatte. Sonst komme er nicht zum Denken, meint er, das sei dies doch die vornehmste Aufgabe der Literatur.

 

 

Eine bessere Welt mit Hilfe der Literatur erträumen? Ist das ein Plan, der überzeugt? Der Traum in uns ist das Motto der Norweger auf der diesjährigen Buchmesse 2019 in Frankfurt. 255 deutschsprachige Neuerscheinungen sind angekündigt. Das ist für ein kleines fünf Millionen Volk eine ganze Menge. Die Skandinavier wollen zeigen, dass sie mehr zu bieten haben als Öl, Lachs, Hurtigruten und Kaviar aus der Tube. Ihr Versprechen: spannende, gute, aufregende Bücher.

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Landregen

Wie wäre es mit einem langen, ergiebigen, auf Dächer und Fensterscheiben platternden Regen? Nicht generiert auf der App „Rainy“ oder „Relax“ zum besseren Einschlafen. Nein. Vielmehr in der wirklichen Wirklichkeit. Im richtigen Leben. Landregen hieß es bei den Großeltern, wenn es mehr als sechs Stunden gleichmäßig aus dunkel-grauen Wolken tröpfelte, goss und plätscherte. Wenn Regen über das Land hinwegzog. Und einfach verweilte. Kein Starkregen. Keine Unwetter mit tennisballgroßen Hagelkörnern. Nein, einfach ein stiller, langanhaltender, unspektakulärer Dauerregen.

Bereits im zweiten Sommer in Folge erweist sich diese Form von Landregen als äußerst sparsam und zurückhaltend. Petrus verweigert in weiten Regionen des Landes seine Dienste. Da kann die Wetter-App vorab noch so viel versprechen, meist bleibt der feuchte Segen von oben aus. Welche Wohltat wäre es für Garten und Flur, welche Hilfe für verbrannte, ausgezehrte, versteppte Natur. Landregen – was für ein angenehm altmodisches Wort! Ohne Wasser kein Leben. So einfach sind die Regeln, nicht nur in der Sahel-Zone.

 

 

Uns bleibt derzeit nur der Griff ins digitale Archiv, um das Lob auf den Regen wenigstens musikalisch zu unterstreichen. Auf Mallorca komponierte vor fast zweihundert Jahren Frédéric Chopin seine zweite Klaviersonate. Genau die mit der berühmten Feier des Regentropfens. Lasst uns seine Regen-Fantasie genießen, in der Hoffnung, dass Musik uns lehrt, Freude und Demut für die Natur und ihre Launen wiederzuentdecken. Ohne sofort wieder auf das Smartphone zu starren. Ohne dessen Wetter-Prognosen heutzutage kaum noch jemand seinen Fuß vor die Haustür setzt. Man könnte ja im Regen stehen. Oder gar nass werden.

Genau. Singing in the rain… noch so ein wunderschönes Lied. Ein Lobgesang auf das frisch verliebte, feucht-fröhliche Vergnügen im Dauerregen. Ein Song zur Freude der Allergiker und Stärkung der Regenschirm-Branche, die in diesen trockenen Zeiten ohnehin unter Umsatzrückgang zu leiden hat. Gene Kelly macht es vor. Was schert ihn schon die prasselnde Himmelskraft. Wenn es lauter Glückshormone regnet.

 

https://youtu.be/D1ZYhVpdXbQ

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Flieg, Amsel, flieg

Abheben, Fliegen, Frei sein. Paul McCartney packte in seine zwei Minuten und zwölf Sekunden Blackbird alles, was ihn bewegte. Er verdichtete das wilde Jahr 1968 in wenige Zeilen. Aufbruchstimmung. Protest. Hoffnung. Ausrufezeichen einer Generation, die unbeschwert an ein besseres Morgen glaubte. Blackbird fly into the light. Musikalisch inspiriert durch Johann Sebastian Bachs Bourée griff McCartney die alltägliche Diskriminierung der schwarzen Minderheit in den USA auf.

Die Amsel verkörpert für ihn eine Frau, die sich schlimmsten Attacken ausgesetzt sieht. Nur wegen ihrer Hautfarbe. „Anstatt konkret zu werden und von einer ‚schwarzen Frau in Little Rock‘ zu singen, wurde diese Frau zum Vogel, ein Symbol, das die Zuhörer dann auf ihr spezielles Problem beziehen konnten“, schrieb damals Beatle Paul und damit gelang ihm ein kleines Stück Musikgeschichte. Ein stiller Song, voller Kraft, Poesie und Zuversicht. Trotz gebrochener Flügel nicht aufgeben, nicht einmal in der dunkelsten Nacht.

Blackbird ist vielfach gecovert und neu interpretiert worden. Von Crosby, Stills, Nash & Young in Woodstock über Alicia Keys bis Jacob Collier. Genauso zahlreich sind die Deutungen. Doch der Ur-Song ist es, der berührt und überzeugt. The Beatles at its best.

 

 

Der Song Blackbird bleibt zeitlos aktuell. Die Amsel muss weiterfliegen – trotz gebrochener Flügel. Mit einer neuen, indigenen Cover-Version des Beatles-Hits sorgt in diesem Sommer die 16-Jährige Emma Stevens für einiges Aufsehen. Die Nachfahrin kanadischer Ureinwohner nahm das Lied in ihrer traditionellen Sprache Mi’kmaq auf. Als wäre alles beim alten geblieben. Als hätte sich die Welt in den letzten fünfzig Jahren nicht bewegt. Amsel, flieg.

 

 

Blackbird singing in the dead of night

Take these broken wings and learn to fly

All your life

You were only waiting for this moment to arise

Blackbird singing in the dead of night

Take these sunken eyes and learn to see

All your life,

You were only waiting for this moment to be free

Black bird fly, black bird fly Into the light of the dark black night

Blackbird singing in the dead of night

Take these broken wings and learn to fly

All your life

You were only waiting for this moment to arise

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Nichts müssen

„Nichts machen, nichts wollen, nichts müssen! – Einfach sein.“ Was für ein einfacher, bestechender Gedanke. Einmal die Woche zählt nur diese Erfahrung – für eine Viertelstunde. Entspannen. Loslassen. Abtauchen. Keine Termine, keine Hektik. Keine Konkurrenz, keine Konflikte. Keine bange Frage – wie schaffe ich das nur? Dann weckt die Yoga-Lehrerin ihre versammelten Zöglinge mit der Klangschale. Runter von der Matte. Zurück ins Leben. Auf zu neuen Taten.

John Metcalfe kommt vom anderen Ende der Welt. Geboren und aufgewachsen in Neuseeland, fand er in London eine neue Heimat. Der 55-jährige Komponist sucht den richtigen Ton. Für sich und seine Zuhörerschaft. Der Bratschist entdeckt mit Hilfe der Musik die Welt, wandert durch das Labyrinth des Lebens, immer auf der Suche nach innerer Ruhe und äußerer Gelassenheit. Er arbeitet als Produzent mit Größen wie Peter Gabriel oder Simple Minds. Zwei seiner Alben sind mir aufgefallen. Appearance of Colour aus dem Jahre 2013. In diesem Sommer legt Metcalfe seine neueste Produktion vor. „Absence“. Es ist seine fünfte Veröffentlichung.

 

 

Das Kernthema von „Absence“, so erzählt John Metcalfe, bildet ein imaginäres Gespräch zwischen ihm und seinem verstorbenen Vater. In seinem zentralen Stück „Solitude“ geht es um den Verlust. Die Frage „Was wäre wenn?“ beschäftigt den Neuseeländer bis heute. Übersetzt in Klänge und Soundeffekte verarbeitet er den schmerzlichen Schicksalsschlag in berührende, melodiöse Songs. Doch bei allem Schmerz, allen Klagen und aller Trauer vermittelt seine Musik am Ende verlässlich Hoffnung: „I dream / Open the door“.

Metcalfe will uns auf behutsame Weise daran erinnern, dass nichts für immer währt, dass sich alles in wenigen Momenten ändern kann. Wir seien es unseren geliebten Verstorbenen schuldig, meint er, dass wir weiterkämpfen und „unser Leben leben – ihnen zu Ehren“. So ist es. Mitten hinein ins Leben. Bis zur nächsten Entspannung, wenn es heißt: „Nichts machen, nichts wollen, nichts müssen! – Einfach sein.“ Und danach staunen und zuhören, was uns die Welt bietet.

 

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Schiller. Punkt!

„Der ist allein glücklich und groß, der weder zu gehorchen noch zu befehlen braucht, um etwas zu sein.“ Stimmt das noch? Über zweihundert Jahre sind diese Worte alt. Damals gab es weder Trump, Twitter, Selbst-Optimierungsstrategen und digitalen Pranger. Die Gedanken sind frei, hieß es vielmehr. So einfach formulierte es dieser schwäbische Freigeist. Schiller sein Name. Er mochte das Pathos, liebte die Freiheit, kämpfte für seine Ideale. Als er 1805 starb, sollte er bald auf Berlins schönsten Platz – den Gendarmenmarkt – befördert werden.

Doch das dauerte. Noch zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahre 1859 verboten die Preußischen Behörden einen geplanten Straßenumzug – aus Angst vor Unruhen. Dennoch wurden Zehntausende Taler für ein Denkmal des Dichters gesammelt und bereitgestellt. Aber erst 1861 konnte ein Wettbewerb ausgeschrieben werden. Den gewann der Bildhauer Reinhold Begas. Es war sein erster großer Auftrag. Den jugendlichen Schiller mit Locken stellte er auf einen Marmorsockel, ihm zu Füßen platzierte er vier Musen. Eine schöner als die andere: die Lyrik, die Philosophie, die Tragödie und die Geschichte.

 

Im April 1986 reiste Schiller visafrei aus Westberlin in die DDR-Hauptstadt ein. Die Aufnahme zeigt den Transport in der Elsenstraße im Bezirk Berlin-Treptow. 1988 stand Schiller wieder am ursprünglichen Standort vor dem Schauspielhaus. Quelle: Bundesarchiv

 

Die Einweihung war 1871. Zehn Jahre nach Planungsbeginn. So viel zum berühmten Berliner Bau-Tempo. Danach stand Schiller ein halbes Jahrhundert unerschütterlich in Berlins Mitte – bis die neuen Machthaber von der NSDAP den Schillerplatz (heute Gendarmenmarkt) zum militärischen Aufmarschplatz umfunktionierten. Das Schiller-Denkmal wurde abgeräumt, dabei beschädigt und im Westen der Stadt am Lietzensee notdürftig zwischengelagert.

Im Zweiten Weltkrieg fiel auch der Platz in Trümmern und mit ihm das Schauspielhaus. Die DDR taufte das Areal Platz der Akademie, restaurierte in den achtziger Jahren mit großer Sorgfalt das von Schinkel errichtete Schauspielhaus. Dann stellte die DDR Schiller wieder 1988 auf seinen angestammten Platz, um ein Jahr später selbst abzutreten. Endlich ist die Herrschaft, die nicht auf freiem Denken basiert, hätte Schiller wohl geraunt.

 

Friedrich Schiller am Gendarmenmarkt. Mit Punkt. Versteht sich.

 

Wer sich nun heute das Marmor-Denkmal für Friedrich Schiller (1759-1805) genauer anschaut entdeckt eine Besonderheit. Es geht um einen kleinen Punkt hinter dem Namen. Die Legende erzählt, darauf habe der preußische König Wilhelm I bestanden, um die jahrelange Debatte über das richtige Denkmal mit dem richtigen Helden zu beenden. Da kommt Schiller hin. Punkt, verfügte er. Am Ende mussten die widerspenstigen Berliner parieren. So steht Schiller heute noch genauso auf seinem Sockel – mit Punkt. Versteht sich.

 

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Zimmer frei

Anfang 1990. Ein Mecklenburger steht am Gartentor. Zigarillo im Mund. Er fixiert den Fotografen. Auf den ersten Blick wirkt der Mann misstrauisch-skeptisch. Dabei versprechen seine Schilder das pure Gegenteil: Gastfreundschaft und ein warmes Bett. „BRD-Bürger. Übernachtung kostenlos.“ Dreißig Jahre später lächeln wir über seine Offerte. Beim Nachdenken spüren wir wie sich die Zeiten geändert haben. Ob jemals ein Bürger aus der BRD das Angebot angenommen hat, wissen wir nicht. Was heute dominiert, das wissen wir wohl. Geschäftssinn statt Gastfreundschaft. Fremdeln mit allem Fremden, so tickt der Zeitgeist.

Zimmer frei? – Umsonst? – Für Fremde? – Wer ein Nachtquartier sucht, der bekommt es heute nur für Zahlung im Voraus. Dreißig Jahre Einheit hat die Menschen verändert. Die Wende hat allen Festreden und Statistiken zum Trotz offenbar – gefühlt – mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht. Die Einheit empfinden viele nicht als freundliche sondern feindliche Übernahme. Das Trauma Treuhand bedeutet für zahllose Familien Enttäuschung und Kränkung. Die Verletzung von Biografien und Seelen. Die Flüchtlingsfrage entwickelt sich zur Sollbruchstelle für die liberale Demokratie westlicher Prägung. Vereint? Von wegen. Integriert doch erst mal uns, heißt es trotzig.

 

Mecklenburg, Anfang 1990. Quelle: Robert Havemann-Gesellschaft

 

Ohne uns! So lautet die andere Botschaft. Längst existiert eine Parteiendemokratie ohne Mitmacher. In Sachsen lautet die magische Zahl aller Parteimitglieder 0,8% gemessen an der wahlberechtigten Bevölkerung. Somit sind die Sachsen Spitzenreiter, tragen die Rote Laterne. Parteimitgliedschaft? Nein, danke. Im Westen pendelt die Quote zwischen 1 und 2%, im Saarland immerhin bei über 4%. Alle sächsischen Parteien zusammen haben nur etwas mehr Mitglieder als der Fußballverein Dynamo Dresden. (rund 20.000). Parteiendemokratie heißt in Sachsen von 0,8% regiert zu werden.

 

Gesehen in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße.

 

Das Problem sind wir. Aber auch die Lösung.“ Das sagt Dirk Neubauer, Bürgermeister von Augustusburg bei Chemnitz. Der Quereinsteiger versucht seit Jahren das Unmögliche. Aus stummem Frust und besorgter Bürgerwut einen Neuanfang zu schmieden. Noch sei es nicht zu spät, schreibt er in seinem Buch, das Anfang September 2019 – am Tag nach der Sachsenwahl – erscheinen wird. Seine Botschaft: Nicht auf Zeit spielen. Etwas daraus machen. Handeln. Kennen wir das nicht? Erinnert uns dieser Stoßseufzer nicht an die sattsam bekannte Klimadebatte?

 

„Ich war gerne DDR-Bürger.“ Gesehen in Hoyerswerda auf der Heckscheibe eines Mittelklassewagens.

 

Der Osten eine fremdenfeindliche Zone? – Von wegen. An einem heißen Juliabend erreichten wir nach einem langen Arbeitstag erschöpft eine Gaststätte in Thüringen. Potzblitz. Was sahen wir? Ruhetag! Geschlossen. Doch unser Klingeln und Betteln half. Am Ende der Welt, mitten im ehemaligen Grenzgebiet zur „BRD“, ließ sich die Wirtin erweichen, packte die Pfannen aus und servierte ihren hungrigen Gästen „Thüringer Rostbrätl mit Bratkartoffeln“. Das Wegebier für die Nacht verkaufte der Sohn für einen Euro die Flasche. So viel Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit geht auch – dreißig Jahre nach dem Fall der sichtbaren Mauer.