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Haus am See

„Und der Mond scheint hell auf mein Haus am See. Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.“ Peter Fox von Seed besingt diesen Traum. Ein Haus am Ende der Welt, wo man gerne ist und gerne bleibt. Es gibt diesen Traumort wirklich – die Villa del Balbianello. Am Comer See in Italien. Hier residiert die Mutter aller Traumhäuser. Mit verspielter Villa, Park, See und hochaufragenden Bergen. Für zwanzig Euro zu entdecken. Mit Führung, Sehnsuchtsseufzern und der Erkenntnis, dass hier James Bond und Star Wars ihre standesgemäße Kulisse gefunden haben.

 

 

Hausherr war zuletzt Guido Monzino. Ein Mailänder Unternehmersohn. Vom Glück verfolgt. Er musste nichts tun – außer das Geld seines Vaters auszugeben. Papa Franco hatte mit einer Kaufhauskette ein Vermögen gemacht. Guido machte also das, was in der Welt der Reichen und Besitzenden getan wird. Er zog sich zurück, ging auf Entdeckungsreisen und sammelte, was ihm unterwegs an Wertvollem in die Finger kam. Die Villa Balbianello wurde sein Adlerhorst. 1974 konnte er das Anwesen kaufen. Er ließ es mit allen zeitgemäßen Annehmlichkeiten versehen. Ein Fahrstuhl musste her, zur Bequemlichkeit. Geheime unterirdische Fluchtwege, wegen der Roten Brigaden. Ein Bücherregal, getarnt als Bar, um Gäste zu unterhalten.

 

Ein Muss für Guido. Die hauseigene Bar. Getarnt als Bücherwand.

 

Guido Monzino, ein Name wie eine Italienische Oper, eroberte von seinem Horst am Comer See die weite Welt. Expeditionen führten ihn nach Afrika, Südamerika, zum Nordpol und auf den Mount Everest. Dort blieb er nur im Basislager aber seine Botschaften an das Gipfel-Team kamen „in grüner Tinte wie Schlachtbefehle“. Die klimatisierte Villa ist voll mit edlem britischen und französischen Mobiliar aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Unter dem Dach ein weiterer Höhepunkt: ein eigener Museums-Saal. Dort erzählen Fahnen, Fotos und allerlei Fundstücke von Guidos Abenteuern.

 

Guidos Schreibtisch im privilegierten Stil des Mailänder Unternehmers. Rechts der Hausherr im Porträt.

 

Auf seinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Bild, das ihn als sonnenbebrillten Master of the Universe zeigt. In jedem Mafiafilm könnte er den Paten geben. Damit sein Blick ungestört auf das herrliche Alpenpanorama schweifen konnte, ließ er eine jahrhundertealte Stileiche vor dem Fenster zurechtstutzen – in Form eines Regenschirms. So schön Villa und Garten sich präsentieren, so verwöhnt und verzogen muss Guido wohl gewesen sein. In der offiziellen Broschüre heißt es diskret, Monzino habe sein Leben „als brillanter und hartnäckiger Organisator mit einem naturellen Hang für das Kommando verwirklicht“.

 

Blick vom „Arbeitszimmer“ über die jedes Jahr neu zurechtgeschnittene „Regenschirm-Eiche“ auf See und Alpen.

 

Es muss also ein klarer Ton in der Traumvilla am See geherrscht haben. Der arme, reiche Guido hatte weder Frau noch Kinder. Mama Mathilde weigerte sich, im speziellen „Apartment der Mutter“ auch nur eine Nacht zu verbringen. Als den ruhelosen Guido im Alter von sechzig Jahren das Herz versagte, nahm seine Geschichte einen unerwarteten Verlauf. Denn der notorische Einzelgänger hatte seine Villa 1988 an den Staat vermacht. Ein Glücksfall. Seit einigen Jahren kann nun jedermann und jedefrau Glanz und Gloria italienischer Lebenskunst genießen. Eine Einladung zum schwelgerischen Luxus verbunden mit dem Reichtum der Natur. Kein Zaun hindert den Besucher. Es reicht eine Eintrittskarte. Dann kann man sich für einige Minuten wie James Bond fühlen. Oder die Kussszene in Star Wars nachempfinden. Guido sei Dank.

Villa del Balbianello. Lenno. Comer See.

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Was aus Wunderkindern wird

Was treibt Musiker an, die mit Anfang dreißig alles erreicht haben? Internationale Preise, weltweite Auftritte, VIP-und Promistatus. Ein Turbo-Leben im Bonus-Meilen-Rhythmus. Der Geiger Iskandar Widjaj ist so ein Wunderkind. Wie Mozart begann er mit vier zu üben. Mit sieben hatte er sein erstes öffentliches Konzert in Italien- ein Vivaldi-Solo. Mit elf studierte er Geige an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler. Es folgte eine rasante Karriere. Jetzt ist er 32. Sein neues Album Mercy ist eine Reise ins Innere. Überrascht?

 

 

Iskandar Widjaja ist eine typische Berliner Pflanze. Geboren 1986 an der Spree. Der Vater hat arabisch-holländische Wurzeln. Die Mutter ist Pianistin, eine Indonesierin aus chinesischer Familie. Iskandar wuchs in dieser Multi-Kulti-Künstlerfamilie auf. Die Violine wurde sein Spielgerät. Er übte und übte. Ehrgeizig, fleißig, talentiert. Den Begriff „Wunderkind“ mag er nicht. Er habe sich seinen Weg hart erarbeitet, mit Ausdauer und Disziplin.

 

 

Seine Plattenfirma wird nicht müde die Werbetrommel zu rühren, Iskandar sei „kein Mann der Nische, sondern Allround-Künstler. Schriller Grenzgänger, Trendsetter und Medienstar“. In Asien genießt er Popstar-Status. Dort surft er mit seiner Stradivari auf der Erfolgswelle zwischen Entertainment und Ernsthaftigkeit. Zwischen Auftritten auf der Fashion Week, Miss World-Wettbewerben und Bachs Violin-Konzerten.

 

 

„Erbarme dich, mein Gott“. Die Interpretation aus Bachs Matthäus-Passion ist Teil seiner neuen CD. „Musik ist wie eine seelische Reinigung“, sagte Iskandar in einer Talkshow. Johann Sebastian Bach sei für ihn eine Art Religion. Überhaupt: das erwachsen gewordene Wunderkind hat sich auf eine stille, meditative Reise begeben. Musik zur Entschleunigung. Es begleitet ihn Urna Chahar-Tugchi, eine mongolische Sängerin, die aus einer Hirtenfamilie stammt. Oder er improvisiert mit dem Berliner Freund und Pianisten Friedrich Wengler zu „River flows in you“ des südkoreanischen Komponisten Yiruma. Iskandars Wunsch: Fantasie an die Macht.

 

Es wird oft gesagt, dass die Globalisierung unserer Tage alles ermöglicht nur kein Seelenheil. Keine Zufriedenheit, keine Gerechtigkeit. Stattdessen nur Hektik, Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Iskandar Widjaja ist für gute sechzig Minuten eine passende Antwort gelungen. Weltmusik vom Feinsten, mit Geige und Seele. Meditativ, melancholisch, musikalisch hoch spannend und abwechslungsreich. Sein neues Album berührt.

 

Ab 7. September 2018 ist „Mercy“ in den Plattenläden. Iskandar Widjaja startet zeitgleich seine Welttournee mit einem Berliner Auftritt.

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Rad-Los

Eine Liebesbeziehung zu meinem Fahrrad hatte ich nie. Eher eine Vernunftehe. 7-Gang-Schaltung. Rücktrittbremse. Altherren-Modell. Zweckmäßig, unauffällig, ohne Schnickschnack. Allerdings fiel mir jede Trennung schwer. Nachdem das vierte Rad in drei Jahren geklaut wurde, flog ich aus der Versicherung. Mein Blutdruck schoss nach oben – ins Bedenkliche. Man könnte sagen, ich wurde kurzzeitig zum Wutbürger. Doch dann geschah ein Wunder.

 

Tatort Berlin. Links stand mein letztes neues Rad. Dann war es weg – das vierte Mal. Seitdem dient ein fast dreißigjähriger Drahtesel als Gefährt. Er fällt bald auseinander. Aber er wird nicht geklaut.

 

Anfang April dieses Jahres meldete sich ein freundlicher Polizist. „Ihr Fahrrad ist aufgefunden worden.“ – Ich war sprachlos. Meine erste Frage: „Welches?“ – „Marke Pegasus.“ – Wir stellten schnell fest, es war der letzte Diebstahl. Das gute Stück war am anderen Ende der Stadt an einem S-Bahnhof entdeckt worden. Fahrgestellnummer. Kaufvertrag. Radpass. Ich konnte alles liefern. Perfekt. Der Polizist brummte freundlich. „Na, prima. Es ist ramponiert, aber noch einigermaßen fahrtüchtig.“ Ich platzte fast vor Freude. „Wann kann ich es abholen?“

 

 

„So einfach geht das nicht“, meinte der Amtsträger. Er müsse den Fall mit meiner Versicherung klären. Einen Monat später, im Mai, erfuhr ich nach vielen Kontakt-Versuchen, die Versicherung erhebe keine Ansprüche mehr. „Und? Bekomme ich jetzt das Rad?“ – „So schnell schießen die Preußen nicht“, stoppte er mich. Das Rad sei jetzt ein Fall für den Staatsanwalt. Da die Versicherung den Kaufpreis erstattet habe, sei ich nicht mehr der Eigentümer. Nun müsse das weitere Vorgehen geklärt werden. Drei Möglichkeiten gebe es: Rückgabe. Vergabe an eine soziale Einrichtung. Oder Versteigerung zugunsten der Staatskasse.

 

 

Der Juni kam und ging. Ich hörte nichts mehr. Der Juli zog ins Land und war schon wieder fast vorüber als ich den freundlichen Polizisten eines Tages am Telefon erreichen konnte. „Nichts passiert. Seit drei Monaten. Ungewöhnlich. Mmmh!“ antwortet er. – Ob der Berliner Flughafen schneller fertig werde, als die Rad-Entscheidung des Staatsanwaltes, entgegne ich ratlos. Er lacht. So sei eben der Dienstweg. Da könne man nichts machen. Dann verspricht er in der Sache weiter zu ermitteln.

 

 

Eine halbe Stunde später. Ein amtlicher Anruf. Und eine überraschende Wende. „Eine Entscheidung ist getroffen!“ Der Polizist aus Hohenschönhausen hebt die Stimme: „Der Staatsanwalt hat verfügt, das Rad einer gemeinnützigen Einrichtung zuzuführen. Für 18 Euro.“ Eine Behindertenwerkstatt habe mein ehemaliges Gefährt sogleich wieder instandgesetzt. „Na, wenigstens für einen guten Zweck“, bemerke ich erleichtert-resigniert. Der Polizist fällt mir ins Wort. „Na, ja. Nach einer Woche war es weg. Das Rad ist sofort wieder geklaut worden.“

 

 

Kurze Pause in der Leitung. Dann beginnen wir beide ausgiebig und lange zu lachen. So ist es in Berlin. Nun bin ich wieder radlos. Die Ermittlungen im Fall Pegasus aber gehen weiter.

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Hitzefrei

Es ist kurz vor Mitternacht. Alle Fenster sind aufgerissen. Lüften! Von draußen dringt der Sound von Berlin ins vertraute Heim. Das Grundrauschen mit Hupen, aufheulenden Motoren, ab und zu das quälende Martinshorn eines Notarztwagens. Irgendwo ist immer was. Auch im Hochsommer. Die Stadt ist im Urlaubsmodus. Leerer als üblich, aber auch heißer. Viel heißer. Die Luft steht. Das Thermometer im Arbeitszimmer sinkt in den Abendstunden kein bisschen. 30 Grad kurz vor Mitternacht. Kaum auszuhalten.

Manchmal weht der Hauch einer Brise durchs Zimmer. Es kühlt nur virtuell. Alles klebt, Schweiß auf der Stirn. Warten auf Abkühlung. Berlin – ein Sommernachtstraum? Die Stadt hat längst das Hitze-Level von Athen, Istanbul oder Marrakesch erreicht. Auf dem Land verdorrt das Korn. Bauern klagen bei Weizen, Kartoffeln und Mais über riesige Ausfälle. Notprogramme werden diskutiert. Wir müssen uns daran gewöhnen, sagen die Experten. Andere beschwichtigen. Wieder andere erklären, dass sei eben so und die biblische Hitzewelle wäre alles nur nicht menschengemacht.

 

Allein der Mond war gut. Mondfinsternis am 27. Juli 2018. Blutrot war der Mond – wie eine glühende Kohle. Die nächste Mondfinsternis ist 2123.

 

Die Statistiken sind eindeutig. Es wird wärmer. Berlin ist dabei die heißeste Stadt des Landes. Meteorologisch gesehen. Die Stadt ist eine Wärmeinsel. Die Anzahl der Tropentage steigt. Dann verharren Temperaturen in der Mitternachtsstunde bei dreißig Grad. Also Nächte wie in diesen Stunden. Die Tropentage und Nächte sollen weiter zunehmen von derzeit zwei auf zehn im Jahr. Den Saunagang im Sommer gibt es nunmehr kostenlos. Immerhin: In warmen Wintern sinken die Heizkosten, verringert sich die Zahl der Knochenbrüche, weil Naturereignisse wie Schnee und Eis so exotisch werden wie eine Telefonzelle oder Briefe mit der Hand schreiben. Unser vertrautes Klima ist am Limit.

 

Der richtige Blick. Die richtige Haltung. Das ist wichtig. Gesehen beim „Rundgang“ an der Universität der Künste Berlin. Juli 2018.

 

Die Lyrikerin Kathrin Schmidt hat den Hitzegraden eine literarische Note abgewinnen können. Extremwetterlagen können Stoff für gute Texte liefern. Warum nicht? Erwähnt werden muss, dass es sich bei ihrem Gedicht „L´absence d´eau“ – die Abwesenheit von Wasser – um eine Auftragsproduktion handelt. Die Umweltorganisation WWF hat Künstlern Raum für Ideen und Auseinandersetzung mit der Klimakrise gegeben. Hier eine Kostprobe.

 

„Der Garten jammert, fleht um nasse Gnade.

Man springt. Man sprengt. Das wechselwarme Reh,

das scheu den Kopf schob durch das trockene Weh,

zeigt sich im Sonnenuntergang malade.

Aus Tau wird mau. Maufrisch steht notgereiftes

Getreide auf den Feldern, und die Kirschen

Einst rotgroß rund, vergehen mit einem Knirschen

im Mund.“

 

Guten Appetit. Ich gehe jetzt duschen. Das Wasser fließt weiter fröhlich aus dem Hahn. Ist doch alles bestens. Danach empfehle ich noch ein passendes Video aus guten alten Zeiten. FKK 1983. Die DDR-Band Juckreiz singt von der Sünde in Warnemünde. Wahnsinn. Als die Welt noch voller Versprechen war…

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Donna, donna

Wer kennt es nicht – dieses Lied mit der einprägsamen Melodie? Donna, donna wird oft gespielt und gemeinsam gesungen. Abends am See, mit Freunden, wenn das Feuer knistert und die Hitze des Tages weicht. Manche meinen, es sei von Donovan, andere bestehen darauf, es sei von Joan Baez. Alle haben nicht ganz recht. Das Lied ging in den Sechzigern um die Welt. Doch der Song hat tiefere Wurzeln.

1941 entstand „Donna, Donna“. Das jiddisches Lied erzählt von einem Kälbchen, das hilflos ist und sich nicht wehren kann. Es wird zur Schlachtbank geführt. Es träumt davon, eine Schwalbe zu sein, die ihr Schicksal selbst bestimmen kann. Das Lied war eine stille und trotzig-verzweifelte Antwort auf die Verbrechen der Nazis. Es stammt von den jüdischen Künstlern Aaron Zeitlin (Text) und Sholom Secunda  (Melodie). Aber erst Joan Baez  machte dieses Lied Anfang der sechziger Jahre weltberühmt – als wirkungsvollen, oft gesungenen Protestsong.

 

 

DAS KÄLBCHEN (deutsche Übersetzung)

Auf dem Wagen liegt ein Kälbchen,
liegt da, gefesselt mit einem Strick.
Hoch im Himmel fliegt ein Vogel,
fliegt und flitzt hin und zurück.

Da lacht der Wind im Kornfeld,
lacht und lacht und lacht,
lacht den ganzen Tag über
und noch die halbe Nacht.

Das Kälbchen schreit, der Bauer sagt:
„Wer hat dich geheißen, ein Kalb zu sein??
Du hättest doch auch ein Vogel werden können!
Du hättest doch auch eine Schwalbe werden können!“

Die armen Kälblein – sie werden gefesselt
und geschleift und geschlachtet. –
Wer Flügel hat, fliegt aufwärts,
macht sich bei keinem zum Knecht!

 

 

Im Mai 1989 sang Joan Baez dieses Lied zum ersten Mal in Prag. Zu diesem Zeitpunkt herrschte die Kommunistische Partei noch uneingeschränkt. Die Folksängerin bat Vaclav Havel auf die Bühne. Der verbannte Dissident wurde frenetisch begrüßt. Demonstranten wie Polizisten verstanden sofort die Symbolik. Daraufhin drehten die Behörden den Ton ab. Die viertausend Besucher sangen das Lied mit Joan Baez einfach weiter.

So entstand ein magischer Moment. Lieder können den Lauf der Welt sehr wohl beeinflussen. Donna, Donna wurde zur Hymne der Samtenen Revolution in der CSSR. Damit schloss sich ein Kreis. Vor genau fünfzig Jahren, im August 1968, hatten sowjetische Panzer den Prager Frühling niedergewalzt. 21 Jahre später zeigte ihnen das Lied den Weg in eine neue Zukunft. Ohne Willkür und Rechtlosigkeit. Ohne Strick um den Hals.

Joan Baez ist übrigens in diesen Tagen auf Europa-Tournee. Unter anderem in Wien, Halle, Berlin, Ludwigsburg, Schwetzingen und Köln.

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Was für ein Blick

Der Rand der Welt ist interessant, nicht die Mitte. Davon war die Ost-Berliner Fotografin Sibylle Bergemann zeitlebens überzeugt. Sie beobachtete den Wandel der Jahreszeiten, Menschen und Systeme. Niemand schaute so genau hin wie sie. Ihre Aufnahmen sind Dokumente feiner, fliehender, flüchtiger Momente. Meist beiläufig, stets unaufgeregt, gleichwohl sorgfältig und präzise. So hielt sie das Besondere im Banalen fest. Bilder zum Entdecken. Mit einem Augenzwinkern oder einem Aha-Effekt. Jetzt erinnert die große Ausstellung „Landläufig“ im Kurt-Mühlenhaupt-Museum in Bergsdorf bei Berlin an die vor acht Jahren verstorbene Künstlerin.

 

Sibylle Bergemann. Hochzeit. Teschendorf 6. November 1971. Der andere Blick.

 

Sibylle Bergemann (1941-2010) sagte einmal: „Der Wandel hat die bekannten Zeichen vielleicht verwischt, aber nicht unkenntlich gemacht.“ Landläufig beschreibt die großen Veränderungen seit dem Mauerfall am Beispiel einfacher Menschen und kleiner Alltagssituationen. Die Fotografin hatte bereits Ende der siebziger Jahre an den Wochenenden Berlin gegen das Land eingetauscht. Eine Pionierin. Heutzutage pendeln Zehntausende am Freitagnachmittag zu ihren Zeitwohnsitzen, bewohnen aufgehübschte Bauernhöfe und edelsanierte Ställe.

 

Sibylle Bergemann. Jana. Margaretenhof. 1983

 

Bergemanns Sehnsuchtsort war das heruntergekommene Schloss Hoppenrade. Der traditionsreiche Landsitz ist nicht weit entfernt vom heutigen Ausstellungsort in Bergsdorf. In dieses kleine Dorf bei Zehdenick hatte sich der West-Berliner Maler und Bildhauer Kurt Mühlenhaupt nach der Wende aufgemacht. Beide Künstler einte der Wunsch nach Ruhe und Rückzug. In der märkischen Sandbüchse gelangen Bergemann einige ihrer bekanntesten Fotografien. Aber der Wechsel aufs Land war nicht nur stille Kontemplation: „Oft enden hier die Tage nach der Arbeit zwar in ausschweifenden Festen, die Fotografie bleibt dabei aber immer im Mittelpunkt“, deutet der Ausstellungstext dezent an.

 

Sibylle Bergemann. Kirsten, Hoppenrade 1975.

 

So sind nicht nur die Bilder Sibylle Bergmanns in der stilvoll sanierten Feldsteinscheune zu empfehlen. Das Kurt Mühlenhaupt Museum selbst ist einen Besuch wert. Es lockt ein Mix aus Kunst aller Art mit Bildern, Grafiken, Werkstatt und Skulpturen, Angereichert mit dem Duft von Esel, Heu und Hängebauchschwein. Eine entspannte Kombination aus Natur, Landleben und anregender Kunst. Im Café gibt es selbstgebackenen Kuchen. Manchmal wird im Hof ein Wildschwein gegrillt. Die unvergleichliche Atmosphäre ist das Verdienst von Gastgeberin Hannelore Mühlenhaupt, der Witwe des Künstlers. Besuchen Sie das Museum. Wer weiß, wie sich die Welt an den Rändern weiter wandelt?

 

Sibylle Bergemann. Selbstporträt.

 

Landläufig. Fotografien von Sibylle Bergemann. Bergsdorfer Dorfstraße 1 in Zehdenick. Ortsteil Bergsdorf. Nur am Wochenende von 13 bis 18 Uhr und nach tel. Vereinbarung geöffnet. Bis 9. September 2018.

 

Sibylle Bergemann. Barbara Paz. Sao Paulo 2001.

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Mein Freund der Baum

Der kräftige Ahorn-Baum vor unserem Haus wankte, dann krachte er auf das Auto unserer Nachbarin. Ihr kleiner Sportflitzer war platt. Sie hatte Glück. Zwanzig Minuten zuvor war sie ausgestiegen. Das war im letzten Herbst als der Orkan Xavier über Berlin hinwegfegte. Die Feuerwehr zerlegte den Baum. Zurück blieb ein hässlicher Stumpf, aufgerissenes Pflaster und eine Lücke. Diese wird wohl lange bleiben.

 

 

Seit dem Orkan passierte neun Monate – eine ganze Schwangerschaft lang – nichts mehr. Außer einer rot-weißen Flatterleine, die notdürftig gespannt wurde. Der Berliner Amtsschimmel ruhte. Ende Juni 2018 ein kleines Wunder. Zwei freundliche Mitarbeiter einer Gartenbaufirma gruben das Wurzelwerk aus und transportierten den traurigen Rest ab. Auf unsere Frage, ob nun ein neuer Baum gepflanzt werde, lächelten sie nur. Sie sprachen kein Deutsch.

 

Berlin. 5. Oktober 2017. Sturm Xavier zeigt seine Kräfte. Das Auto unserer Nachbarin ist reif für die Schrottpresse. Unsere Fahrräder im Glück. Foto: Jürgen Ziegenhagen

 

Längst hatten Anwohner und Nachbarn überlegt, was zu tun sei. In Berlin werden mehr Bäume gefällt als gepflanzt. Über zehntausend Straßenbäume fehlen. Die Verwaltung ist überfordert und unterbesetzt. Unser Ahornbaum war stolze zwanzig Meter hoch, spendete im Sommer Schatten und dämpfte den Großstadtlärm. Der Ahorn, lese ich, hatte schon immer eine große Bedeutung. Die Ruhe, die er ausstrahlt, soll dazu dienen, böse Geister fernzuhalten. Daher ist er noch heute in vielen Gärten zum Schutz vor Eindringlingen zu finden. Zudem ist der Ahorn sehr genügsam, kann sich an widrige Verhältnisse gut anpassen.

Der robuste Ahorn ist eine optimale Berliner Pflanze. Der ideale Straßenbaum für aufgeheizte Großstädte. Ein neuer „kompletter“ Jungbaum kostet um die tausend Euro. Er kann bis zu fünfhundert Jahre alt werden. Also reifte der Entschluss, den Baum einfach zu spenden. Nachdem Bürger dazu aufgefordert wurden, aktiv zu werden, meldeten wir uns bei der Hotline. Doch die Nummern beim Grünflächenamt führten ins Nichts. Sie sind abgeschaltet.

 

Erste Aufräumarbeiten nach dem Orkan.  Foto: Maurizio Gambarini.

 

Wer in Berlin etwas Gutes tun will, darf sich von solchen kleinen Hindernissen nicht aufhalten lassen. Nach vielfachen Versuchen erreichten wir auf einer internen Nummer eine Mitarbeiterin des zuständigen Amtes. „Baumspenden geht nicht mehr“, erklärte sie genervt. „Der Stadtrat hat verfügt, bis Ende 2019 sind Baumpflanzungen nicht mehr möglich. Kein Personal.“ Ende der Durchsage.

Was tun? Der Baum fehlt. Der Wille zur Selbsthilfe ist vorhanden. Also Selbstpflanzen? Das geht nicht im preußischen Berlin. Laut Vorschriften heißt es: „Eine komplette Jungbaumpflanzung in Maßen 18-20 cm Stammumfang, 3mal verpflanzt mit Ballen“ plus „Einbau der Baumsicherung, Dreierbock mit Verlattung, Urinschutz und Stammschutz“ auf öffentlichem Straßenland geht nur auf Veranlassung des Grünflächen- und Tiefbauamtes.

 

Sommer 2018. Ein Quadratmeter Baum-Erwartungsland. Gesichert mit amtlichen Flatterband.

 

Ein Quadratmeter Berliner Baumerwartungsfläche hofft nun auf 2020. Das Jahr, in dem der Flughafen BER an den Start gehen soll und unsere Lücke möglicherweise mit neuem Grün versehen wird. Oder bleibt nur noch das Warten auf ein Wunder? Selbstbestäubung durch die Natur? Wäre möglich aber nicht zulässig. Dann wäre der neue Baum ein Fall für das Ordnungsamt. Das funktioniert noch und verfügt über genügend Personal. Unsere Straße befindet sich in einer gebührenpflichtigen Parkzone. Szenen aus dem Alltag einer Stadt, deren Verwaltung dazu auffordert mit Sandalen in die Arktis zu ziehen. Wer sich kalte Füße holt, ist selber schuld.

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Auf und davon

„Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern!“ Das notierte Rainer Maria Rilke in seinen Briefen. Was für ein Wunsch! Zeitlos bohrend, hoch aktuell. Gestresste Stadtmenschen mit zu hoher Drehzahl suchen Ruhe. Schnell, preisgünstig, nachhaltig. Innere Ruhe ist ein kostbares Gut geworden. Das Landleben verspricht Alternativen: Bäume umarmen, Unkraut jäten, Marmelade einkochen, sein Seelenheil finden. Wirklich?

 

Kunststück Natur. Ein Gemälde von Louis Busman.

 

Der Zug aufs Land ist ungebrochen. Je voller die Ballungszentren werden, desto mehr Städter siedeln auf dem flachen Land. Hübschen verfallene Bauernkaten auf. Organisieren Opern in Kuhställen. Verrenken sich zur Kirschblüte auf Yoga-Matten. Lobpreisen die Stille der Landschaft. So joggen, reiten und radeln sie durch Feld und Flur. Dorfkinder schütteln den Kopf und wenden sich ihrem Smartphone zu. Die Alten träumen von Zeiten, als die Feuerwehr noch Feste feierte und jederzeit zum Löschen ausrücken konnte.

 

„Echte“ Natur als Foto. Eine Momentaufnahme aus dem Juni.

 

Andere auf dem Lande wettern gegen die Dummheit im Kommunismus und die Gier im Kapitalismus. Was bringt die Zukunft? So die bange Frage. Sie fürchten um ihre Heimat. Wollen sie schützen. Einer sagt den schönen Satz: „Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm als ein Wald der wächst.“ Eigentlich sei alles in Ordnung, betont er. Auf den ersten Blick. Aber wer genauer hinschaue, könne die Risse entdecken. Heute denke doch jeder nur noch an sich. Gemeinschaft? Ein Wort aus der Vergangenheit.

 

Windräder. Ikonen der Moderne. Ärgernis der Anwohner.

 

Das Teilzeit-Leben auf dem Lande ist für viele die neue Lebensform. Auf und davon. Raus am Wochenende. Für Zugezogene ist das Dorf eine Mischung aus Ponyhof, Outdoor-Fitnessstudio und Therapiekurs. Für Einheimische ein Schlafort, um sich von den Strapazen des Pendelns zur Arbeit zu erholen. Städter knipsen Sonnenuntergänge und posten sie auf Instagram. Sonntagabend wird die leere Kühltasche wieder im Wagen verstaut. Zurück im Stau. Was bleibt? Im Kofferraum die Sehnsucht nach Heimat und Selbstverwirklichung. Ach, dieser alte Wunsch. „Du musst dein Leben ändern.“ Hat Rilke Recht?

Wer wissen will, wie der Traum vom einfachen Landleben ganze Regionen verändert hat, dem sei ein Hinweis in eigener Sache erlaubt: So viel Anfang war nie erzählt die Geschichte vom Aufbruch eines kleinen märkischen Dorfes in den neunziger Jahren. Es ist die Reise in eine blühende Pionierzeit, in der alles möglich war.

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Frohe Botschaften

Ein kleiner Schaukasten in Berlin-Mitte. Er fällt kaum auf. Die verglaste Mitteilungstafel steht vor einem hohen Zaun, dahinter ein Siebzigerjahre-Betonklotz. In diesem Schaukasten befindet sich eine Art nordkoreanisches Facebook unserer Tage. Zu sehen sind einige Bilder und Texte, die das aktuelle Zeitgeschehen kommentieren.

 

Der Schaukasten. Neues aus der Nordkoreanischen Botschaft.

 

Das offizielle Mitteilungsorgan der nordkoreanischen Botschaft wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Allerdings lässt man sich dabei Zeit. Im Mittelpunkt des Kastens ist derzeit der Staatsführer. Keine Frage. So heißt es: „Der verehrte Oberste Führer Genosse Kim Jon Un bei der Vor-Ort-Anleitung.“ Alle lächeln, genau wie die behelmten Kinder auf dem Foto nebenan mit der Unterschrift „In einem Sportpark“.

 

Hinter Glas. „Der Verehrte Führer Genosse Kim Jong Un.“

 

Die aktuellen Entwicklungen der letzten Tage werden noch nicht erwähnt. Dabei war über den 34-jährigen Führer Genossen Kim viel Neues zu hören. Der Mann sei „ehrlich und direkt, unterhaltsam und strategisch.“ Schließlich: „Er ist klug, er liebt sein Volk und liebt sein Land.“ Diese Einschätzungen stammen jedoch nicht vom Kulturattaché der nordkoreanischen Botschaft sondern vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Donald Trump stellte fest, das sei eine „großartige Beziehung“.

 

Botschaften aus einer anderen Welt.

 

Werden in diesen unruhigen Zeiten aus alten Feinden neue Freunde? Mag Donald Trump Kim Jong Un mehr als Angela Merkel oder Kanadas Justin Trudeau? Das Treffen der beiden Staatsmänner in Singapur produzierte wahre Perlen politischer Inszenierung. Trump führte Kim ein Vier-Minuten Werbevideo vor. Titel: „Zwei Männer, zwei Führer, ein Schicksal.“

 

 

Wann wird die Hollywood-Botschaft die Schautafel von Nordkoreas diplomatischer Vertretung erreichen? Bisher herrscht Funkstille. Die PR-Spezialisten in Pjöngjang scheinen sich Zeit zu lassen. Wie immer. Obwohl sie wissen, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches mittlerweile länger ist als die eines heutigen Facebook-Nutzers. Egal. Wandel ist möglich. Noch hat es Donald Trump nicht in den Schaukasten geschafft. Jedenfalls nicht in den der nordkoreanischen Botschaft in Berlin.

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Tanz, wenn du kannst

Es waren heiße Tage im September. Ich musste schnell nach Hoyerswerda. Wohin? Hoyerswerda kannte ich nicht. Spätsommer 1991 und weit weg von Berlin. Als wir dort zwei Stunden später eintrafen, herrschte eine brisante Mischung. Ungehemmt tanzten Wutbürger in den Straßen. „Ausländer raus“, schallte es. Im Visier vor allem Mocambikaner, Gastarbeiter in der DDR. Es hieß, sie lebten auf Kosten der Einheimischen.

Fünf Tage Ausnahmezustand. Jagdszenen in Sachsen. Am helllichten Tage. Als wir in der Thomas-Müntzer-Straße für das Heute Journal unsere Kamera auspackten, wurden wir beschimpft. Das Ausländerheim war attackiert und geräumt worden. Busse transportierten die Bewohner ab. Dieser Moment brannte sich mir ein. Wir waren ratlos. Nicht wenige Hoyerswerdaer jubelten. Die meisten schwiegen. Die Polizei schaute weg. Im Rathaus wiegelte man ab.

 

Zum Nachahmen empfohlen. Hilft gegen Wut und Frust.  „Eine Stadt tanzt: Manifest“. Hoyerswerda. Ehem. Centrum-Warenhaus. Juni, 2018. Alle Fotos: Dirk Lienig.

 

Ein Augenzeuge berichtet: „Siebzig haben am Anfang randaliert. Sieben haben sich dagegengestellt. Mehr nicht. Und jetzt kommt eigentlich das Schlimme: 700 – junge Familien mit Kindern – die haben Beifall geklatscht – jetzt schmeißen sie endlich die Nigger raus. Und 70.000 – die haben geschwiegen.“

Hoyerswerda hatte von nun an sein Image. Von diesen Tagen hatte sich das einstige Prestigeprojekt der DDR lange nicht erholt. Die bange Frage: Welches Leitbild, welche Zukunft kann eine solche Stadt entwickeln? Da von der Politik allenfalls ausweichende Antworten kamen, nahm eine Handvoll Kulturenthusiasten das Schicksal in die Hand. Die Geburtsstunde eines bemerkenswerten Projekts: Hoyerswerda tanzt. Am Abgrund. Aber aus eigener Kraft. Und mit eigenem Programm. Das Beste: Niemand redet rein.

 

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Hoyerswerda will und sucht eine Zukunft.

 

Drei Tage lang eroberten in diesem Juni Tänzer, Sänger, Musiker und Schauspieler eine viertausend Quadratmeter leere Kaufhausfläche. Ihr Programm heißt „Manifest“. Sie spielten sich selbst: die Geschichte ihrer Stadt vom Aufstieg aus dem Nichts zu einer 70.000 Einwohner-Industriestadt der DDR. Der Absturz nach der Wende. Die neue Zeit mit Abwanderung, Abriss, Arbeitslosigkeit, Betriebsschließungen und Demontage. Kapitalismus als Abstiegserlebnis, als Rutschbahn nach unten. Mittlerweile zählt die ostsächsische Plattenstadt noch 35.000 Bewohner.

 

„Ihr hört später von uns“. Das Team um Dirk Lienig und Olaf Winkler hat eine ganze Stadt in Bewegung versetzt. Alle Vorstellungen waren ausverkauft.

 

Dagegen wird angetanzt. Was auffiel: Das Lächeln in den Augen der Beteiligten. Die Inszenierung ist ein Mix aus Szenen, Situationen, Theater-Chor- und Tanz-Projekt. Für die gewählte Form von „Manifest“ gibt es keinen wirklich passenden Begriff. Ein Stück weit Dokumentartheater vielleicht. Vor allem aber Lebensfreude und Selbtsbehauptung. Dargeboten von Amateuren. Mit professionellem Ergebnis. Ein kluges, intensives, temporeiches Programm. Siebzig Minuten, die sich lohnen.

 

 

“Zukunft ist ne abgeschossene Kugel“, singen die Hoyerswerdaer aus voller Brust und zitieren ihren Helden Gundi Gundermann. Der „singende Baggerfahrer“ und großartige Rockpoet ist früh verstorben und längst eine Legende.  Ikone einer Region am Rande, die inständig hofft, dass die Kugel endlich einmal ins Ziel trifft. Keine Frage: Wer tanzt, lebt. Im Herbst will Initiator, Tänzer und Filmemacher Dirk Lienig die Botschaft in einem neuen Dokumentarfilm in die Welt hinaustragen. Sie ist so einfach wie genial: Hoyerswerda hat Zukunft.