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Oh wie schön …

Janosch. Das Leben ist so schön. Der Meister des heiteren Müßiggangs liebt seine Hängematte in seiner Finca auf Teneriffa. Mehr braucht es nicht im Leben. Der mittlerweile 86-jährige ist Kinderbuchautor. Romantiker. Weltverbesserer. Ein Mann der feinen Ironie. Und: Der Vater der Tigerente. „Scheiß Tigerente. Ich halte die für Kitsch“, antwortete Janosch einmal einer naseweißen Reporterin. Er hasst Interviews und Talkshows. „Die sind doch nur zum Lügen da“ warf er einmal bei einem seiner wenigen Auftritte in die Runde. Das Publikum tobte begeistert.

 

Der kleine Bär und der kleine Tiger suchen das Land ihrer Träume. Wo ist es?

 

Geboren wurde er 1931 als Horst Eckert im schlesischen Dorf Hindenburg. Er selbst hatte als Kind eine schwierige Kindheit. Der Vater ein prügelnder Nazi. Krieg, Flucht, Vertreibung und Neuanfang in München. Dort wollte er Kunst studieren. Der Professor warf ihn raus, wegen „mangelnder Begabung“. Dann erfand er die Geschichte von Panama. Warum? „Ich hatte die Schnauze voll von Kinderbüchern. Keiner kaufte die. Und da wollte ich einen Racheakt an der Welt landen. Ich wollte ein Kitschbuch machen. Da gibt es so ein paar Regeln. Da muss ein Kuschelbär dabei sein und der Bär muss eine Reise machen und muss einen Freund haben und schon fangen die Weiber an zu heulen.“

 

Der Durchbruch kam für Janosch im Alter von 47 Jahren mit seiner Panama-Geschichte. Der Erfolg machte ihn jedoch keineswegs glücklicher. Im Gegenteil. Im Jahr 2000 verkaufte er seine Nutzungsrechte. Die cleveren Vermarkter verdienen seitdem allesamt an Janosch prächtig, packen die Tigerente sogar auf die Wurstscheibe.

Sein Glück fand Janosch in den Bergen von Teneriffa. Hier lebt er zurückgezogen. Kinder liebt er, nicht aber deren Eltern. Janosch ist ein liebenswerter Anarchist und Aussteiger. Sein Herr Wondrak, jede Woche zu Gast im ZEIT-Magazin bleibt stets froh, heiter und gelassen. Die beste Antwort auf die vielen leistungsoptimierten Burn-Out-Zeitgenossen. Älter werden, na und? „Das Alter ist die beste Zeit meines Lebens. Es ist so was von schön. Das kann ich jedem nur empfehlen. – Was ist am Alter so schön? – Der Geschlechtstrieb ist abgestorben bzw. beseitigt. Man wird nicht mehr ernst genommen von den Leuten. Man kann machen, was man will.“

 

 

Janosch. Was für ein Leben, was für eine wunderbare Botschaft! Warum hektisch herumeilen? Es gibt doch so einfache Lebensweisheiten, Marke Janosch.

  • Das Paradies ist in uns.
  • Ein guter Freund ist unbezahlbar.
  • Glück heißt, frei sein.
  • Irrtum ist manchmal besser als Wahrheit.
  • Vielleicht ist auch alles Unsinn was ich sage.
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Guten Morgen, Berlin

„Guten Morgen!“ Er grüßt freundlich, wünscht einen guten Tag und lächelt auf seinem Stammplatz am Berliner Savignyplatz. Einer der vielen Bettler in der Hauptstadt. Die Menschen eilen an ihm vorbei durch die Passage von oder zur S-Bahn. Ich bleibe stehen, frage endlich einmal, wie er heißt. Zu oft habe ich ihn schon gesehen, ab und zu eine Münze in den Blechnapf geworfen, um dann weiter zu hasten. Gefragt hatte ich ihn noch nie. Der Mann antwortet. „Ciprian!“ – Mmh. Wie? – „Ciprian. Schöner Name. Kommt in meiner Heimat häufig vor“, sagt der Mann auf der Decke.

 

Morgens am Savignyplatz. Das Herz des vornehmen Berliner Westens.

 

Heimat? Wo das sei, frage ich nach. „Rumänien.“ Jeden Morgen grüßt er mich an der gleichen Stelle. Er ist da wie der Bäcker und der Kiosk nebenan mit seinen bunten Boulevard-Schlagzeilen. Ciprian hat wache offene Augen, die Hand bereit zum Gruß. Vor ihm eilen Menschen zur Arbeit, neben ihm liegt eine Krücke, hinter ihm ist ein feines katalanisches Delikatessengeschäft. Dessen Jalousien sind noch geschlossen. Meistens trägt Ciprian eine Pudelmütze und einen grünen dicken Parka, auch im August. In seiner Hand eine Tasse aus Blech. Sein Arbeitsgerät.

 

Ciprian ist ohne Obdach. Einer von mindestens 6.000 Menschen in der Hauptstadt.

 

Ciprian mag Mitte vierzig sein, vielleicht auch jünger. Er ist schwer zu schätzen. Tatsächlich ist er Anfang dreißig, verrät er mir. Das Leben hat sein Gesicht gezeichnet. Der freundliche Mann vom Savignyplatz erzählt mir nun mit Händen und Füßen von Pitescht. Ich verstehe ihn nicht richtig. Ich google den Namen später. Es muss wohl Pitesti sein. Eine Provinzstadt mitten in der Walachei. 160.000 Einwohner. Ciprian schaut mich fragend an. „160 Kilometer von Bukarest entfernt. Kennst Du Bukarest –unsere Hauptstadt.“ Was ihn nach Berlin verschlagen hat, will er nicht sagen. Er winkt ab. Was zählt, dass er jetzt hier sei. Ciprian ist EU-Bürger. Wie ich. Und doch trennen uns Welten. Zum Abschied lächelt er – wie jeden Morgen und wünscht einen „Guten Tag!“

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Glückskind

„Der Mensch ist frei, und würd´ er in Köthen geboren“, spottete einst Heinrich Heine. Michael Naumann erblickte genau dort das Licht der Welt, in der verträumten Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Von Köthen zog er in die Welt hinaus. Er kam bis nach New York, als erfolgreicher Verleger. Oder ins Kanzleramt, als erster Kulturstaatsminister der Ära Gerhard Schröder. Nun hat er sein Leben aufgeschrieben. Keine Frage: Seine Memoiren sind nicht unbescheiden. Eine Berufskrankheit sei diese verdammte Eitelkeit, zwinkert er. Aber Naumann das Glückskind aus Köthen hat viel zu erzählen. Anekdotenreich, süffisant und so manches Mal mit überraschendem Mehrwert.

Michael Naumann schlüpfte in seinen 75 Jahren in viele Rollen. Er war Journalist, Politikwissenschaftler, Kulturstaatsminister, ZEIT-Chefredakteur. Lobbyist. Am Ende mühte er sich als einer von zehntausend Türöffnern auf dem Berliner Hauptstadtparkett. Allerdings mit kulturellem Auftrag und einem vorzeigbaren Ergebnis. Naumann fungierte als intellektueller Bauleiter für den schicken neuen Pierre-Boulez-Saal. Er diente als Macher und Manager seinem Hausherrn Daniel Barenboim. Eine Erfolgsgeschichte.

 

Michael Naumann. Seit 2015 Gründungsdirektor das Barenboim-Said-Akademie in Berlin.

 

In seinen Glücks-Memoiren schaut Naumann ausführlich zurück auf prominente Zeitgenossen. Dichter, Minister, Schauspieler beiderlei Geschlechts kommen zahlreich vor. Aber er lässt auch Unbekanntes aufscheinen. Von schwarzen Listen des Verfassungsschutzes in den siebziger Jahren erzählt er. Vom Elend von Bochum: Die Ruhr-Universität. Ein Komplex, der „in alle Ewigkeit als Monument von Großmannssucht, bildungspolitischer Protzerei, architektonischem Brutalismus“ eingehen wird. Scharf rechnet mit der liberalen Zeit ab. Das Hamburger Magazin sei ein „Konsensblatt“ geworden, „ein wenig schrill war nur das bunte Layout“.

Gnadenlos geht er mit seiner Generation, den 68ern ins Gericht. Als sie am Kabinettstisch saßen, wurden sie „pragmatisch – bis zum Rand der Selbstverleugnung.“ Rot-Grün hätte nur erreicht, dass man oben reicher wurde, „in der Mitte bescheidener und unten ärmer.“ Das macht ihn wütend. 23,6 Milliarden Euro habe Rot-Grün den Banken geschenkt. Finanzminister Hans Eichel erließ die Körperschaftssteuer für Banken und Versicherungen. Urheber „dieser strategischen Großmutsregelung“ sei ein ehemaliger Steuerabteilungsleiter der Bayer AG“ gewesen, klagt Naumann. „Eine linke Regierung subventionierte also das deutsche Großkapital“. Da sei selbst Kohl sozialer gewesen.

 

Naumann: „Unsicher und eitel? Das passt zusammen, aber die journalistische Berufskrankheit der Eitelkeit hatte ich im Verlag überwunden“.

 

Michael Naumann kann sich mit seinen 75 Jahren noch so herrlich erregen wie einstweilen der zornige junge Mann von 1968. Sein größtes Glück sei übrigens gewesen, dass er bei der Blockade der Auslieferung der Bild-Zeitung in München in jenen Tagen nicht erwischt wurde, erzählt er beiläufig. Seine Freunde seien allesamt geschnappt worden.

Michael Naumann. Glück gehabt. Hoffmann und Campe 2017.

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Letzte Ruhe

Ein Sonntagmorgen im August. Heinz werkelt im Hof des kleinen Anwesens. Ein einfaches Büdnerhaus im Brandenburgischen. Hinterm Schuppen ein paar Hühner, auf der Wiese einige Ziegen. Ich rufe ihm zu und frage, wie es der Frau Mutter gehe. Missmutig nähert sich der Anfang Sechzigjährige. „Sie ist tot.“ – Wie, frage ich ahnungslos nach. Heinz knurrt: „Ja, lieste keine Zeitung?!“

Dann erzählt er, seine Mutter sei im Dezember letzten Jahres hier im Haus verstorben. Er habe sie bis zum Schluss gepflegt. „Das Herz wollte nicht mehr. Ein Vierteljahr war sie im Krankenhaus. Dialyse und all der Quatsch. Sie wollte nicht mehr. Nur noch nach Hause.“ Heinz fixiert mich. Dann geht sein Blick ins Leere. „Nach Steinwehrsruh, nach Hause wollte sie immer noch einmal hin. Aber wie denn? Wir haben doch kein Geld!“

 

Louis Busman 1997

 

In So viel Anfang war nie beschreibe ich die einfache Landfrau Marie. Mutter von acht Kindern. Ein Flüchtlingskind. Mit 15 Jahren vertrieben aus ihrer Heimat. Ihr Zuhause war rund zweihundert Kilometer weiter östlich. 1945 musste sie mit nichts als einem guten Willen komplett neu anfangen. Geblieben waren ihr ein Bündel mit wenigen Habseligkeiten und ein Sack voller Erinnerungen. Ich traf Marie im August 2010 in ihrer kargen Küchenstube. Im Buch heißt es:

 

„Die Küchenuhr tickt. Marie Herres wirkt müde und erschöpft, aber eines will sie doch noch loswerden. Das Leben habe es nicht gut mit ihr gemeint. Vielleicht sei sie nicht die beste Melkerin gewesen, aber sie habe acht Kinder großgezogen. Ihr Mann konnte einen Hof nicht führen, sei ein Totalausfall gewesen. Ständig litt er an Krankheiten, trank, verlor ein Bein und starb früh. Marie Herres atmet tief durch. Über sechzig Jahre sei sie nun hier und fühle sich doch so fremd.

 Ich will es kaum glauben. So ein Dorf hat eigene ungeschriebene Gesetze. Wer hier neu anfängt, lernt sie eines Tages kennen. Meist ist das sehr schmerzhaft. Einheimisch wirst du vielleicht in der zweiten oder dritten Generation, meint Marie Herres. Am Ende antwortet sie kurz und knapp: „Ich bin nicht freiwillig hier. Wir hatten ein so schönes Haus in Steinwehrsruh. Dort ist mein Zuhause. Dort will ich begraben werden.“

 

Maries letzte Reise.

 

Marie liegt nun auf dem Friedhof gleich nebenan. Dort hat sie ihre letzte Ruhe gefunden, neben ihrem Mann. Obwohl sie viel lieber in ihrer Heimat begraben sein wollte. Sohn Heinz verschränkt die Arme. „Nun ist es eben so!“ Wie es ihm gehe, frage ich noch. Er brummt, von „der Euro-Rente“ könne er nicht leben. „Lausig. Kannste Vergessen!“ Grundsicherung. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Seinen 45er hat er noch. „Den lass ich mir nicht nehmen. Der ist versteckt, dass er nicht geklaut wird.“ Es ist sein Moped-Kleinwagen, mit dem er nicht schneller als 45 Km/h fahren kann. Was wird, will ich wissen. „Mist. Was soll das Ganze noch?“ Heinz zuckt mit den Achseln. Dann zieht er sich zurück über den Hof in sein kleines Haus.

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Großes Kino

Der letzte Schauer ist gerade übers Land gezogen. Eine feuchte Wiese am Ende der Welt. Am Rande steht ein knallrotes Magirus-Feuerwehrauto, dazu ein kleines Zelt, ein paar Bänke. Das Wanderkino ist da. In Warnkenhagen – im Niemandsland zwischen Lübeck und Wismar. In der Ferne rauscht die Ostsee. Ein privater Gastgeber hat sein Gelände geöffnet. Es gibt selbstgebackene Pizza, einheimisches Bier und über Hundertjahre alte Filme. Stummfilme in Schwarz-Weiß mit kleinen und großen Helden.

 

Das Wanderkino braucht eine kleine Wiese, gutes Wetter und eine stabile Stromversorgung. Dann kann es losgehen!

 

Bei Einbruch der Dunkelheit hat sich eine große Schar Interessierter eingefunden. Das Publikum trotzt dem nassen Regensommer. Einheimische und Urlauber. Kinder, Opas, ganze Familien. Der Eintritt ist frei. Alle sind blitzgespannt. Dann eine kurze Ansprache des Gastgebers. Es kann losgehen. – Doch als würde aus heiterem Himmel ein Blitz von oben herabsausen, fällt der Strom aus. In Sekundenschnelle herrscht Dunkelheit. Dann Ratlosigkeit. Schließlich emsige Suche nach den Ursachen. Plötzlich flackert das Licht wieder. Der Generator springt an. Jetzt geht es wirklich los. Das Wanderkino in Warnkenhagen.

 

Es kommt Leben auf die nächtliche Wiese. Die kleinen Strolche ziehen los, um ihre Streiche zu spielen. Charlie Chaplin ist der Abenteurer von 1917, immer auf der Flucht vor den Gesetzeshütern. Harald Lloyd balanciert in atemberaubender Höhe. Unentwegt auf der Suche nach dem kleinen und großen Glück. Den Sound liefern Tobias Rank am Piano und Gunthard Stephan auf der Violine. Besser als jedes youtube-Mäusekino. Ein herrlicher Sommerspaß. Großes Live-Kino auf der Wiese. Am Ende prasselt der Beifall in den Augusthimmel. Jeder kann spenden so viel er will. Die Büchse füllt sich.

 

 

Noch bis Oktober ist das Leipziger Wanderkino unterwegs. Von der Ostsee bis zum Weißwurstäquator. Die Kinowandergesellen treten bevorzugt in Dörfern und Kleinstädten auf. Einzige Station in der Nähe von Berlin ist am 26. August 2017 in Erkner vor dem Gerhard Hauptmann-Museum. Wenn es trocken bleibt und der Generator durchhält, heißt es dann wieder: Film ab!

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Flieg, Engel, flieg

Jeder ambitionierte Gitarrenspieler kennt das Intro. Viele haben sich daran versucht. Ganze Generationen von Garagen- und Hinterhofmusikern. Little Wing. Diese Ballade von Jimi Hendrix gehört zu den Jahrhundertsongs. Geschrieben, komponiert und aufgenommen in einem New Yorker Studio. Unzählige Male gecovert und variiert. Von Amateuren und Profis. Eric Clapton. Santana. Sting. Toto. Pearl Jam. Steve Ray Vaughan. Nigel Kennedy, The Corrs. Und vielen anderen. Ein Song zum Abheben. Little Wing wird nun genau fünfzig Jahre alt. Am 25. Oktober 1967 lernte der Engel das Fliegen.

 

Jimi Hendrix. 1943-1970.

 

Jimi Hendrix spielte das Lied im Rahmen seines Albums Axis: Bold as love ein. Da war der hochtalentierte Linkshänder 24 Jahre alt. Ein Meisterstück der Balladen für Stratocaster, Bass, Glockenspiel und Schlagzeug. Eine Hommage an engelsgleiche Gestalten, die einem das Überleben im tristen Alltag erleichtern. Möglicherweise war es aber auch ein Liebeslied für seine damalige schwedische Freundin Katharina. Who knows? Sein letztes Konzert gab Jimi Hendrix am 6. September 1970 auf der Ostseeinsel Fehmarn. Wenige Tage später starb das Gitarren-Genie im Alter von 27 Jahren. Jimi Hendrix zählt zum fiktiven Club 27. Deren Devise lautet „live fast, love hard, die young“.

Drei in Deutschland eingespielte Coverversionen zum 50. Geburtstag von Little Wing will ich vorstellen. Randy Hansen in Solingen, der seit Jahrzehnten in seine Fußstapfen getreten ist. Der Jazz-Gitarrist Nguyên Lê in einer Live-Version, aufgenommen in Leipzig. Und eine äußerst gelungene Studio-Version junger Leipziger Hendrix-Fans.

 

 

Little Wing

„Well she’s walking through the clouds
With a circus mind that’s running ‚round.
Butterflies and zebras, fairy tales,
That’s all she ever thinks about.

When I’m sad she comes to me
With a thousand smiles she gives to me free.
Said, „It’s all right, take anything you want,
Anything you want, anything.“

 

 

Well she’s walking through the clouds
With a circus mind that’s running ‚round.
Butterflies and zebras, fairy tales,
That’s all she ever thinks about.

When I’m sad she comes to me
With a thousand smiles she gives to me free.
Said, „It’s all right, take anything you want,
Anything you want, anything.“

Fly on, little wing.“

 

 

Noch ein Tipp. Lohnenswert ist das Museum „Handel & Hendrix in London“ im Stadtteil Mayfair. Das neue Museum umfasst zwei Häuser, in einem wohnte Hendrix, gleich nebenan im 18. Jahrhundert der deutsche Komponist Georg Friedrich Händel.

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Sommer auf dem Land

Wohlfühlmagazine wie „Glücklich“ „Landlust“ oder „Ma Vie“ florieren. Gestresste Digitalos dürsten nach analoger Nestwärme. Die umgebaute Scheune in der Uckermark ist für viele Berliner Kultur- und Kopfmenschen ein erstrebenswertes Ziel. Auf jeder verfügbaren Grünfläche ziehen Großstädter Bohnen, Beeren oder Tomaten. Der Kampf mit der Feldmaus um gärtnerische Ernte-Hoheit ist zum Event der Saison geworden. Zurück zur Datsche, zur Laube, zum Schrebergarten! Unruhige Zeiten wecken den Wunsch nach Idylle, Gemeinschaft und Sicherheit. Derartige Garten-Bewegungen versprechen Antworten auf den optimierten Alltagskapitalismus.

 

Hinaus aufs Land.

 

So schwärmen Großstadtmenschen von Wiesengrün und Himmelsblau, Erdbraun und Ziegelrot. Nicht wenige zeigen eindeutige Symptome von Aussteigertum und Stadtflucht. Sie hassen Lärm jeder Art, suchen die Ruhe. Leere Häuser gibt es auf dem Land noch, wenn auch immer weniger. Es drängt die Städter aus dem boomenden Berlin ins Jrüne. So kommen sie am Wochenende auf dem Lande an, mit ihren teuren Halbschuhen. Doch länger als ein paar Tage halten es nur Hartgesottene aus.

 

Treffen der Wanderburschen in Netzeband (Land Brandenburg)

 

Das Umland hat sich stark verändert. Eine Faustformel gilt: Je weiter von Berlin entfernt, desto leerer die Dörfer. Es sind längst reine Schlaforte. Wenn mehr als drei Frauen vor einer Haustür stehen, ist das ein seltener Anblick. Zudem besagt eine alte Regel, dass Neuankömmlinge drei Generationen brauchen, bis sie wirklich akzeptiert werden. Dabei sind mittlerweile selbst auf dem Land die meisten Bewohner Zugezogene. Für Verbrüderungsmaßnahmen mit Einheimischen eignen sich besonders Kümmerling oder, wenn es sein muss, auch der Kleine Feigling.

Der Städter fragt: was gibt es Neues im Dorf? – Was soll es Neues geben? lautet die Antwort. Die Tage kommen und gehen. Vor kleinen Büdnereien oder stillgelegten Bauernhäusern parken morgens und abends bunte Kleinwagen der ambulanten Pflegedienste. Zweimal die Woche kachelt der Bäckerwagen durchs Dorf und klingelt die Restbevölkerung zum mobilen Verkaufsstand. Kein Wunder: Alle Läden, Poststellen und Arztpraxen sind längst geschlossen. Ohne Auto geht gar nichts. Die Feuerwehr kann nur noch am Wochenende ausrücken, wenn überhaupt.

 

Sternenhimmel über Gülpe (Land Brandenburg)

 

Im Sommer huschen bepackte Radfahrer vorbei. Junge Leute, Familien, kleine Gruppen, Professionelle. In der Regel starren sie auf ihren Navi am Lenker. Keine Zeit, das nächste Etappenziel muss erreicht werden. Die Sehnsucht treibt sie voran. Immer weiter, immer schneller. Nur wohin? So übersehen sie die kleinen Begebenheiten, wie sie sich nur in der ländlichen Provinz ereignen können. Das Weinregal in einem der wenigen noch verbliebenen Tante-Emma-Läden ist leer. Frage an den Verkäufer, was denn los sei. Dessen knappe Antwort: „Wir machen jetzt DDR-Wochen.“

Alle meschugge?

Paul Levite ist eine total verkrachte Existenz. Er war Vertreter, Callcenter-Verticker und Drücker für Finanzmodelle. Aber er hat ein unnachahmliches Talent: er kann Menschen besoffen reden. Ein Pfund, mit dem er wuchern will. Denn er hat die Nase „von denen da oben“ gestrichen voll. Er will alles fürs Volk ändern, Karriere machen. So schließt er sich der aufstrebenden rechtspopulistischen Bewegung an. Levite legt einen kometenhaften Aufstieg bis ins Kanzleramt hin.

 

 

Ein Märchen? Eine Seifenoper? Realsatire, reif für die Heute-Show? Ja und doch viel mehr. Die Geschichte von Paul ist einfach meschugge. Sie geht so: Der neue Kanzler ist ein jüdischer Bub aus Offenbach. Talent, Ehrgeiz und unbedingter Machtwille katapultieren ihn an die Spitze der neuen Deutsch-Nationalen Mehrheitspartei (DNMP). Die Populisten koalieren nach einer gewonnenen Bundestagswahl 2019 mit den Linken, genannt – Die Deutschen Realsozialisten (DDR). Gemeinsam jagen die Wutbürger die alte verhasste Elite der Großen Koalition aus dem Amt.

Ausgedacht hat sich diesen Plot Rafael Seligmann. Er ist Politikwissenschaftler und Publizist. Ein Berufs- oder Quotenjude sei er nicht, sagt er gleich. Er beschäftige sich als Autor, Historiker und Chefredakteur mit der Gegenwart. Das treibe ihn um. Natürlich ist die Geschichte vom Aufstieg des jüdischen Kleinbürgers Levite eine bittere Satire auf den heutigen Politbetrieb. Aber undenkbar? Seligmann winkt ab. Vergessen werde, dass Marine Le Pen in Frankreich 34 Prozent der Stimmen erhalten habe. In seinem Roman hätten es die Rechtspopulisten gerade mal auf 27% geschafft. Seligmann: „Die Wirklichkeit ist immer radikaler als das, was die menschliche Fantasie sich ausdenken kann.“

 

Rafael Seligmann. Autor, Historiker, Chefredakteur: „Die Realität überholt längst jede Satire“

 

So führt der ehrgeizige Levite die Rechtspopulisten in den Kampf mit Flüchtlingsströmen und gegen die NATO. Er trommelt für patriotische Gesinnung und deutsche Werte. In seiner Regierungserklärung redet er sich in einen wahren Rausch. Er schafft den Soli ab. (Beifall) Er wettert gegen Islamisten. “Die Scharia mag in Iran Geltung besitzen. In Deutschland greift ausschließlich deutsches Recht.“ Der Beifall explodiert. Er setzt den entscheidenden Punkt: „Wer als Ausländer gegen deutsches Recht verstößt, wird unnachsichtig ausgewiesen werden.“

Das Volk jubelt. Levite ist fest davon überzeugt, dass Menschen privat wie politisch unbelehrbar sind. Macht ist für ihn Lebenssinn. Seine einzige Schwäche ist typisch für einen Machtmenschen wie ihn. Eitelkeit gewinnt allzu schnell über instinktive Vorsicht. Lebensfremd? Von wegen. Seligmann ist eine bitterböse Satire gelungen. Politik ist für Seligmann kein Streichelzoo. Politik ist viel mehr routinierte Heuchelei. In hellen Momenten kann Politik vielleicht „die Kunst des Möglichen“ sein. Bismarck lässt grüßen.

 

Sind alle meschugge? Alltag oder Satire?

 

Sind alle meschugge? Vielleicht, lächelt Seligmann. Übersetzt aus dem Hebräischen bedeutet meschugge leicht verrückt. Warum also nicht? Ein Jude als Kanzler. Dieser redet sich nach oben und besiegt den Antisemitismus mit den Mitteln von Stammtisch und Antiislam-Parolen. Ist das die deutsche Zukunftsvision in Zeiten von Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan?

 

Rafael Seligmann. Deutsch. Meschugge. Transit, 2017.

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Schinkels Burn-Out

Wenn er Bühnenbilder entwarf, fühlte er sich glücklich. Karl Friedrich Schinkel liebte das Theater. Über vierzig Kulissen für Opern und Schauspielstücke stammen aus seiner Feder. Wenn er traumhafte Schlösser, Kathedralen oder Kaufhäuser entwerfen konnte, ruhte er in sich. Vieles blieb Vision, einiges wurde tatsächlich gebaut. Berlin ist voller Schinkel-Spuren. Vom Schauspielhaus am Gendarmenmarkt über das Alte Museum am Lustgarten bis zur Neuen Wache Unter den Linden.

 

Kaufhaus Unter den Linden. 180 Läden. Geplant auf dem heutigen Standort der Staatsbibliothek. Einer von Schinkels modernsten Entwürfe. (1827). Nie realisiert.

 

Die Welt durch zeitlose Schönheit veredeln, das war sein Ziel. Für viele ist der Sohn eines Neuruppiner Pastors der bedeutendste deutsche Architekt. Ein Meister des Klassizismus. Ludwig Mies van der Rohe, der Stararchitekt der deutschen Moderne, Anhänger der Maxime „Weniger ist mehr“, war gleichfalls ein Perfektionist bis ins Detail und ein glühender Verehrer Schinkels.

 

Susanne und Karl Friedrich Schinkel. (um 1807/09)

 

Als Schinkel (1781 – 1841) mit Anfang Fünfzig zum Geheimen Oberbaudirektor von Preußen ernannt wurde, konnte er wie kein anderer Einfluss auf das Baugeschehen nehmen. Er überarbeitete und korrigierte zahllose Entwürfe. Doch das wurde seine Crux. Er war für so ziemlich alles zuständig, von der Entwicklung, Betreuung bis zur Begutachtung repräsentativer Bauten. Sein Aufgabengebiet erstreckte sich von Aachen bis Königsberg. Die ständige Überarbeitung zeigte Spuren. Er litt unter „Brustbeklemmung“ und „heftigem Kopfschmerz“. So musste er Verpflichtungen und Hoffeste absagen. Der König reagierte verärgert. Zumindest genehmigte sein Dienstherr eine „Gehaltszulage“ und Hilfe in der Person eines „Assessors“.

 

 

Als oberster Baumeister machte sich Schinkel in Preußen keineswegs nur Freunde. Im Gegenteil. Die Zahl seiner Feinde wuchs. Einer der prominentesten Gegner war König Friedrich Wilhelm III. Als dieser 1839 bei der Einweihung der Potsdamer Nikolaikirche das neu erbaute Gotteshaus von Schinkel vorzeitig verließ, spottete er über die schlechte Akustik. Man habe nichts verstanden, nicht mal das könne Schinkel ordentlich bewerkstelligen. Er sei einfach ein unfähiger Baumeister.

Das war zwei Jahre vor Schinkels Tod. Zwar erhielt der Architekt eine ganze Reihe preußischer Auszeichnungen. Wirkliche Erfolge blieben jedoch zu Lebzeiten aus. Dabei arbeitete der Oberlandesbaudirektor Tag und Nacht. Er kämpfte mit Bauvorschriften, entwickelte Denkmalschutzvorgaben. Ein Workaholic, der schließlich ausbrannte. Das Reisen wurde lästig. Er starb im Alter von sechzig Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.

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Magische Momente

Eine Koreanerin in Europa. Eine von vielen. Fleißig, wohlerzogen, unscheinbar. Ihr Name: Youn Sun Nah. Die junge Frau soll in Paris französische Literatur studieren. Das wünschen sich die Eltern. Die Tochter aus Seoul pariert und parliert los. Doch vielmehr als die Sprache fasziniert sie das Leben und besonders europäische Musik. Savoir vivre. Nun will sie Klassischen Gesang studieren. Beethoven Chopin und Schubert, gerne auch Brel und Piaf. Der Dozent rät ab. Sie sei zu alt. Sie könne es ja mit Jazz und Chanson versuchen. Ein Glücksfall. Denn die 25-jährige Youn Sun Nah erobert eine Neue Welt – die des Jazz. Unbekümmert, konsequent und voller Energie. Eine Kostprobe aus Havanna 2017.

 

 

Youn Sun Nah ist ein Stimmwunder und längst eine atemberaubende Jazz-Interpretin. Die Sängerin ist in einer koreanischen Musikerfamilie aufgewachsen, die das Schicksal ihres Landes teilt. Der Vater, ein Dirigent, ist in Nordkorea geboren. In Seoul wird sie in neunziger Jahren gefragt, ob sie bei einem Casting für ein Musical mitmachen möchte. Worum es geht, fragt Youn. Um die Linie 1. – Nie gehört! Der weltberühmte Berlin-Klassiker aus dem frisch vereinten Deutschland soll im geteilten Korea zum ersten Mal auf die Bühne gebracht werden. Youn setzt sich als singende Göre durch, erhält die Chance und nutzt sie. Viele Jahre brilliert sie als koreanische Stimme des Berliner Grips-Theaters und rattert mit der Linie 1 in höchsten Tönen durch den Untergrund.

 

 

Mit dem schwedischen Gitarristen Ulf Wakenius entwickelt sie in den Nullerjahren ihren eigenen Stil. Klassiker des Chansons und des Pops interpretiert sie neu – auf ihre Youn Sun Nah-Art. Frech, frisch und frei von falschen Allüren. Die bescheidene Künstlerin wandelt traumwandlerisch sicher zwischen Genres, Kulturen und Kontinenten. Sie legt innerhalb weniger Jahre mehrere Alben vor, in der sie zu einer der Größen des Jazz reift.

 

 

Auf der Bühne ist sie in ihrem Element. Mittlerweile tourt sie mit einer neuen Band aus den USA. Ihr Titel Momento Magico ist live ein Ereignis der Extraklasse. Ohne Pathos, aber mit viel Präzision, Witz und Tempo. Die Kritik überschlägt sich. Die mittlerweile 47-jährige Echo-Preisträgerin gehöre „zu den besten Sängerinnen unserer Zeit“. Im persönlichen Gespräch wirkt sie immer noch wie eine junge Studentin. Still, höflich, zurückhaltend. Wie ein zerbrechliches Wesen, das seinen Platz auf der Welt noch sucht. Doch sobald sie die Bühne betritt und die Band den Groove vorgibt, dann strafft sich der kleine Körper der Youn Sun Nah und sie wird eine ganz Große. Wie einst Edith Piaf in Paris.