Category : aktuelles

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Ein weites Feld

Buchhändler Kaspar hat eine Menge erreicht. Er hat seinen Traumjob, ist an der Welt interessiert und wähnt sich in der Regel auf der richtigen Seite. Nur mit seiner Frau, da läuft alles schief. Seine erste große Liebe stirbt früh, an Alkohol, Kummer und Verzweiflung. Die Frau, die der Mann aus dem rheinischen Westen im Osten kennengelernt hatte. Auf dem Bebelplatz in Berlin-Mitte, während eines FDJ-Treffens in den Sechzigern. Birgit, so heißt sie in Bernhard Schlinks neuem Buch „Die Enkelin“, ist strahlend, schlagfertig, einfach anders als die anderen. Nicht ideologisch borniert, sondern offen und neugierig. Er organisiert einen Fluchthelfer. Sie lässt die DDR zurück und ihre Tochter. Das verschweigt sie bis

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„Drei-Treppen-hoch-Leute“

Eine schöne Wohnung. Hell, geräumig, bezahlbar. Mitten in Berlin. Am besten mit Dachterrasse. Blick auf Fernsehturm, Park und Spree. In der verkehrsberuhigten, begrünten Straße Kneipe, Club und in der Nähe einen gepflegten Italiener. Dazu nette Nachbarn. Hausfeste. Stets ein Parkplatz vor der Tür. Wenn´s sein soll, Nightlife – bis der Arzt kommt. Wer will das nicht? Alles eine Frage des Portemonnaies. Wer zahlungskräftig ist, kann in der Hauptstadt eine Menge haben. Der Boom will nicht enden. Wer nicht mithalten kann, hat Pech gehabt. Alles neu? Von wegen. Geschichte wiederholt sich.   Der Mann – ein renommierter Dichter, aber knapp bei Kasse – ist Anfang fünfzig, im besten Alter. Frau, vier

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Wenn der Schuh drückt

Es riecht nach Leder und nach frischem Kleber. Endlich geschafft! Ein Schuster, der noch besohlt. Mittlerweile sind Handwerker gefragt wie eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt. Schuhmacher sind mindestens so begehrt wie faire Vermieter. Schnaufend erbarmt sich Meister Luschanski aus dem hinteren Teil seiner kleinen Werkstatt in den Verkaufsraum. Mit Kennerblick zieht er seine buschigen Augenbrauen kraus, als er meine desolaten Treter auf dem Ladentisch begutachtet. Es ist ein dänischer Markenschuh, keine Billigware. Er ist mir an den Fuß gewachsen. Ich will mich nicht trennen. Die Gummi-Sohle hat sich an der Schuhspitze aufgerollt. Akute Solpergefahr. Mmh, meint der Meister. „Alles Plastik! Keine Qualität. Das hält höchstens drei, vier Jahre.“ –

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Wünsch Dir was

Die Landstraße wird schmaler, die Wiesen werden weiter. Kraniche ziehen am Himmel vorbei. Irgendwann hinter abgeernteten Kornfeldern taucht das unscheinbare Lögow auf. Ein kleines märkisches Dorf im Nordwesten Brandenburgs zwischen Neuruppin und Kyritz. Eine gute Autostunde von Berlin entfernt. Am Dorfanger neben der Feldsteinkirche steht ein langgezogenes, geducktes Haus. Knapp 350 Jahre ist es alt, jedoch frisch und hübsch renoviert. An einem der Fenster zur stillen Schulstraße Nummer 2 hängt ein kleines Schild. Dorfkino Lögow. Hereinspaziert! Im alten Klassenzimmer der ehemaligen Schule laufen neue Filme aus aller Welt.  In Lögow befindet sich das kleinste Kino Brandenburgs. Ein Kleinod mit Katze, Glockenläuten der Kirche von nebenan, 16 Plätzen auf gepolsterten Kinositzen

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Die Kunst des Verhüllens

Paris genießt in diesen Tagen Christos letztes Werk: die Verhüllung des Arc de Triomphe. Seit 1962 wollte der Künstler das Nationalheiligtum im Herzen der Stadt verpacken. Erst kurz vor Christos Tod im Mai 2020 gab Präsident Macron grünes Licht. Im zweiten und letzten Teil einer Annäherung an den bulgarischen Aktions- und Performancekünstler, der mit seiner französischen Frau Jeanne-Claude die Kunstwelt umkrempelte, soll an den Sommer 1995 erinnert werden. Als die Deutschen einmal beschlossen, für genau vierzehn Tage ein glückliches Volk zu werden. Als sich der mächtige, damals leerstehende Berliner Reichstag in ein leichtes, schwebendes Gebäude verwandelte. Als dieser geschichtsträchtige Klotz an der einstigen Mauer verhüllt wurde, um Neues zu enthüllen.

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Wen wählen?

Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler, brummte einmal der konservative Winston Churchill über die Tücken von Wahlen. Und heute? Fast vierzig Parteien stehen demnächst auf dem Zettel. Eine Vielfalt, die alles verspricht. Sie heißen Liebe, Demokratie in Bewegung, V-Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer, Gartenpartei, Tierschutzpartei, Die Urbane HiphopPartei, Bürgerbewegung für Fortschritt und Wandel, Die Pinken, Der Dritte Weg oder Menschliche Partei für das Wohl und Glücklichsein aller. Das Blaue vom Himmel und ewiger Jahrmarkt auf Erden verheißen die Programme. Natürlich stehen die Etablierten ganz oben auf der Liste. Von CDU, SPD, FDP, Grüne, AfD bis Linke. Aber wen wählen?    

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Last Exit, Kabul

Check-in Kabul. Am deutschen Flughafen pflaumt uns die Lufthansa-Mitarbeiterin an: „Da haben wir nichts zu suchen!“ In der Maschine sitzt eine merkwürdige Mischung aus Geheimdienstleuten, Militärs, Vertretern von NGOs, mein Kameramann und ich. Eine Woche lang wollen wir herausfinden, wie der Stand der Demokratisierung im Land am Hindukusch ist. Wir treffen Frauenrechtlerinnen, Journalistinnen, den Leiter einer Lehrlingswerkstatt, einen vorsichtigen, einheimischen Wahlbeobachter und einen traumatisierten Filmemacher. Das war vor gut zehn Jahren. Was hat sich geändert? Was die Hoffnungen betrifft, nichts. Was die Befürchtungen angeht, alles. Ein filmreifes Ende wie in einem Hollywood-Blockbuster. Die korrupte Elite hat sich im Hubschrauber abgesetzt. Doch für die Menschen sind alle Illusionen zerstört. Der 36-jährige

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Lost in Berlin

„Wer hier wohnt, hat verloren“. Das meint die Berlin-Bashing-Kolumne der Süddeutschen aus München. Das Blatt stellt fest: „Was in Berlin schiefläuft? So ziemlich alles.“ Das Verrückte ist: Trotzdem kommen weiter viele Menschen in die deutsche Hauptstadt. Berlin ist nach wie vor Magnet. Die Stadtregierung lobt sich gerne über den grünen Klee. Berlin sei Melting Pot. Drehscheibe. Zukunftswerkstatt. Place to be. In einem Loft am Landwehrkanal lässt es sich leicht über den Alltag der meisten Bewohner hinweglächeln. Was der Stadt fehlt? Eine funktionierende Verwaltung. Wer seinen Ausweis verlängern oder einen Kitaplatz beantragen will, scheitert bereits beim zuständigen Bürgeramt. Termine sind so rar wie bezahlbare Wohnungen. Wartezeiten bis zu drei, vier Monate

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„Holt uns raus!“

An einem Sonntag im August liest ein Achtzehnjähriger das Neue Deutschland. Damals hatte das SED-Parteiorgan noch eine Sonntagsausgabe. Die Grenze ist geschlossen, heißt es, die Kriegspläne der Bonner Ultras sind durchkreuzt. Die Geburtsstunde des antifaschistischen Schutzwalls, weltweit nur Mauer genannt. Peter Joachim Lapp ist entsetzt. Er sitzt mit der Gefangnenennummer 1373/60 im Kommando 1 des sächsischen Zuchthauses Waldheim. Verurteilt wegen staatsfeindlicher Hetze. Mit seinen Zellenkameraden diskutiert er deprimiert, was die Grenzschließung zu bedeuten hat. „Es gibt Krieg“, sagt einer. Andere lachen höhnisch. „Die Westmächte werden wieder nichts tun, wie am 17 Juni 1953“, dem Tag des DDR-Volksaufstandes. Andere fantasieren, dass „demnächst Hubschrauber der Amerikaner im Gefängnishof landen und uns rausholen“.

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Machs gut, Ben

Einen alten Baum… verpflanzt man nicht, schrieb ich vor gut einem Monat. Hätte ich ihn doch besucht. Ben Wagin. Bildhauer, Baumpate, Lebenskünstler, Maler und unermüdlicher Kämpfer „Komm einfach vorbei“ knurrte er ins Telefon. „Die Deppen von der Firma verstehen sowieso nichts von Kunst. Das soll alles weg. Die Welt ist so.“ Pause. „Vom Fernsehen bist Du? – Ja, vielleicht hilft´s, antworte ich. „Du weißt ja, wo ich wohne…“ Ich kam nicht vorbei. Weder mit noch ohne Kamera. Niemand wollte die Geschichte über das Wegsanieren seines letzten großen Wandbildes in Berlin. Also besuchte ich ihn nicht. Ein Fehler. Ende Juli ist Ben Wagin im Alter von 91 Jahren gestorben „wie er

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