post image

Wenn die Stunde schlägt

Es gibt Momente, die Geschichte schreiben. Am 6. Mai 1937 kurz vor halb acht stürzte ein Gigant brennend in die Tiefe. Der Stolz der deutschen Luftfahrt entzündete sich beim Anlegemanöver in Lakehurst unweit von New York.  Drei Explosionen erschütterten das Wasserstoffgefüllte NS-Vorzeige-Luftgefährt mit dem Namen Hindenburg. Wie durch ein Wunder überlebten 62 der 97 Passagiere. Noch wenige Stunden zuvor hatte der Zeppelin LZ 129 triumphierend Manhattan überflogen.

h01_05060113

Stolz überfliegt der Zeppelin „Hindenburg“ am 6. Mai 1937 die Skyline von New York.

 

Doch die Katastrophe war einschneidend. Der Zeppelin-Riese, ein Propaganda-Projekt Hitlers zerschellte wie Ikarus am Boden. Die Weltöffentlichkeit nahm teil. Ein Radioreporter schilderte die dramatischen Minuten des Zeppelins Hindenburg. Ein Filmteam drehte den spektakulären Absturz. Diese Bilder brannten sich in das kollektive Gedächtnis ein. Das Desaster von Flug LZ 129 markierte das Ende der Verkehrsluftschifffahrt.

 

s_h22_hbgpat01

Filmaufnahmen vom 6. Mai 1937 gegen 19.25 Uhr. Lakehurst. New Jersey. USA. Das Ende des Fluges L 129.

 

Diese atemberaubenden Aufnahmen sind nun allen und jederzeit zugänglich. Die Nachrichtenagentur AP öffnet gemeinsam mit dem Wochenschauarchiv British Movietone ihre Archivschätze. Mehr als eine halbe Million Videoclips sind ab sofort für jedermann zugänglich. AP hat sein gesamtes Nachrichtenarchiv von 1895 bis in die Gegenwart auf YouTube hochgeladen.

Es sind viele historische Momente und Ereignisse aus Sport, Politik, Forschung, Kultur und Gesellschaft. Das Erdbeben von San Francisco 1906 wie der Absturz der Hindenburg. Das Attentat auf Martin Luther King wie der Abriss der Berliner Mauer. Das 20. Jahrhundert kann nun durchgeklickt werden. Über eine Million Minuten digitalisiertes Bildmaterial steht zur Verfügung. Wer viel Ausdauer hat und alle Videos am Stück schauen will, ist damit die nächsten zwei Jahre beschäftigt.

 

post image

Heiter durch schlaflose Nächte

Ein Sonntag im August. Wummernde Bässe wabern die Spree hinauf. Harte Techno-Beats begleiten unsere Suche nach einem verwunschenen Ort. Das DDR-Funkhaus für einst 3.500 Mitarbeiter. Heute eine Geisterstadt an der Nalepastraße in Berlin-Oberschöneweide. Das riesige Areal im Osten der Hauptstadt wirkt verkommen, vergessen, wie von der Landkarte gewischt. Hier spielt Igor Levit an diesem Sommertag Bach.

Angekündigt sind die Goldberg-Variationen. Die Krönungsmesse für jeden Pianisten. Der junge russische Pianist nimmt im Aufnahmesaal von 1955 eine neue Einspielung vor. “Der Raum ist das Kleid der Musik”, heißt es. Das Funkhaus wirkt wie ein einziger Schneewittchensarg. Genau hier soll ein neues deutsches Mekka für Tonschaffende entstehen. Wachgeküsst nach Jahrzehnten Verfall und Stillstand.

2010-03-17-120dxo

Eine Geisterstadt – manchmal mit Tönen. Das Funkhaus Berlin in der Nalepastraße. Ein privater Investor soll das Gelände sanieren und retten. Es ist mittlerweile der dritte Versuch seit 1989.

Igor Levit eröffnet den ersten berühmten Satz in G-Dur. Sinnlich souverän steigert sich der 28-jährige Pianist, erreicht in den dreißig Variationen mal Hochleistungstempo, dann wieder verhaltene Freude am leisen Spiel. Levit agiert körperlich, kriecht in Flügel und Tasten, vermeidet jedoch das laute Atmen eines Glenn Gould bei dessen berühmter Variation der Variationen. Die “Clavierubung” mit ihren 32 Sätzen hat es in sich.

IMG_1143

Allein im Aufnahmesaal von 1955. Igor Levit, Jahrgang 1987, spielt Bach.

 

Der Titel Goldberg fußt auf einer schönen Anekdote. Bach habe das Werk 1741 seinem dreizehnjährigen Klavierschüler Johann Gottlieb Goldberg gewidmet. Bach-Biograf Johann Nikolaus Forkel verbreitete diese Version. „Einst äußerte der Graf gegen Bach, dass er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.“

Igor Levit präsentiert einen hellwachen, fröhlich-forschen Bach. Neunzig Minuten Hochgenuss – leidenschaftlich, intensiv, überzeugend dem Motto des Meisters folgend: “Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget / von / Johann Sebastian Bach“. Bleibt zu hoffen, dass der Aufnahmesaal des Funkhauses nicht nur ein Geisterhaus bleibt, in das ab und zu Leben zurückkehrt. Hoffentlich hat das Funkhaus eine sichere und wohltemperierte Zukunft. Ein Investor soll ernsthafte Pläne verfolgen, heißt es jedenfalls.

Igor Levit 2014 im Funkhaus Berlin.  Igor Levit spielt Bach

 

Do it yourself

Der Kapitalismus ist von Grund auf böse, und die armen einfachen Menschen sind ganz lieb. Bis zu 70% der Deutschen stimmen in Umfragen für eine Abschaffung des Turbo-Kapitalismus. Eine ähnliche Zustimmung erreicht nur noch der Wunsch, problemlos abzunehmen, lästert Harald Martenstein in einer seiner Kolumnen. Was ist also faul in Zeiten der Selbstoptimierung und Vermarktung?

Jeder ist seines Glückes Schmied. Und: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Die einzige Konsequenz: Ändere dein Leben und zwar sofort. Die Priester des Zeitgeists predigen seit über einem Vierteljahrhundert den allzeit bereiten erfolgshungrigen Selbstvermarkter. Verlangt werden Unterwerfungshandlungen, die niemand mehr einfordern muss, weil sie alle akzeptieren. Höher, schneller, den anderen ausbremsen.

selbstverwirklichung-gross

Sei erfolgreich. Ändere dein Leben. Erreiche deine Ziele. Die Selbstoptimierungsmaschine läuft auf Hochtouren.

 

Bestseller und Quotenkracher, kurzum der Hirschfaktor bestimmen den Alltag. Hirschfaktor? Das ist die Kennzahl für Reputation eines Wissenschaftlers. Nachgewiesen in der Zahl der Veröffentlichungen und der Höhe der Drittmitteleinwerbung. Geistige Leistung muss punktgenau messbar sein. Das Ziel: die Ökonomisierung geistiger Güter.

 

So werden weltweit jährlich 1,5 Millionen Aufsätze veröffentlicht, die kaum jemand liest. Eine ernüchternde Analyse ergab: 82% der Artikel werden nicht ein einziges Mal zitiert. Nur 10% der Leser halten bis zum Ende eines Textes durch. Millionen Forscher produzieren Wissensmüll für die Löschtaste. Der Preis: Weder gibt es nennenswerte Innovationen noch neue Lösungsansätze. Wer lässt sich in Zeiten von befristeten oder prekären Jobs auch auf kritische Untersuchungen ein?

220px-AvHumboldt

Alexander Humboldt. Naturforscher. Entdecker und Vermesser der Welt.

Was ist die Folge? Im Angesicht einer rasenden Gegenwart bewegt sich die Wissenschaft nur noch im Elfenbeinturm. Ein Wirklichkeitsverlust, der weh tut, findet Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Uni Tübingen. Er vergleicht das Grundproblem mit einer Anekdote aus Vietnam. Während der französischen Kolonialherrschaft herrschte eine Rattenplage. Ein Gesetz wurde erlassen, das jedem, der eine tote Ratte ablieferte, eine Prämie versprach. Das Ergebnis: Die Menschen begannen Ratten zu züchten.

Dabei wären innovative Lösungen statt belangloser Auftragsproduktionen wichtiger denn je. Die Liste der aktuellen Menschheitsthemen ist lang: Flüchtlingselend, Krise des Kapitalismus, Klimawandel, Krise Europas, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Totalüberwachung durch Geheimdienste, Rückkehr des Kalten Krieges, Alterung und Fragmentierung der Gesellschaft.

An die Arbeit – Forscher, findet der Tübinger Wissenschaftler Pörksen. Der große Entdecker Alexander Humboldt habe auch nicht als erstes gefragt, welche Drittmittel bereitstehen. Er legte los, um die Welt zu verstehen. Wie lernt man aufrecht laufen? Ganz einfach: Von Fall zu Fall.

post image

So macht der Sommer Spaß

Celina Bostic geht zu Fuß. Und ist wie ein Vulkan. Wenn sie singt, dann gurrt, gluckst, röhrt, schnalzt sie, mal leise, mal kräftig, aber stets mit einem unwiderstehlichen Augenzwinkern. Ihre Lieder haben eine einfache Botschaft: Das Leben ist schön, trotz aller Widrigkeiten. Denn: „Hauptsache der Schlüppi sitzt!“

Live geht es sofort ab. „Alle Männer sind Stricher außer Papa“, ist ihr Hit. Die Frauen singen begeistert mit. Die waschechte Berlinerin aus Charlottenburg stimuliert das männliche Publikum zur Antwort. „Alle Frauen sind Schlampen außer Mutti“ brummen nunmehr die Kerle, während die Damenwelt konternd den Papa hochleben lässt. Celina Bostic ist ein echtes Live-Erlebnis. Auf der Bühne zeigt sie, was sie kann. Alleine. Nur mit einer Gitarre, der Loop-Station zu Füßen und einer wunderbaren Stimme.

4185_10280

Alleine mit der Gitarre. So präsentiert sich Celina Bostic.

 

Viele Jahre war sie im Background versteckt. Sang für Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer und besonders Farin Urlaub von den Ärzten. Jetzt mit 35 Jahren schwimmt sie sich frei. Und sie singt sich in die Herzen ihres begeisterten Publikums. Eine Band – wozu? Celina traut sich was. „Ich bin mein eigener Beatboxer und mein eigener Chor.“ Das Schönste. Es funktioniert.

Als ihre jüngere Schwester Laila mit auf die Bühne kommt, folgt beim gemeinsamen Lagerfeuer-Soul eine weitere Kostprobe ihres Könnens. Die Bostic-Schwestern trompeten um die Wette. Es ist, als würden junge Delfine in der Morgendämmerung vor Freude in die Höhe hüpfen. Wieder solo verwandelt sie ihren Song „Kartoffelsuppe“ fröhlich in Michael Jacksons pulsierenden „Billy Jean“. Und sie verzaubert bayrisches Schuhplatterln in eine coole Stepping-Nummer.

„Ole ole ole – ich erfülle das Klischee“, singt sie ironisch. Kein Wunder, sie geht ja zu Fuß. So heißt ihr neues Album. Celina Bostic ist eine echte Entdeckung. Vielleicht schafft sie es doch noch auf eine der großen Bühnen. Ganz vorne. Verdient hätte sie es. Denn diese Berliner Göre hat den Groove.

 

post image

Sommergäste

Es ist ein Erlebnis – dieses irre Gefühl, in der Dämmerung am Rande des Flusses zu sitzen. Einen weichen Teppich von Sand, Gras und Blättern unter den Füßen, mit dem Wind, der die Bäume und Sträucher zu einer beweglichen lebendigen Kulisse werden lässt. Mit den Stimmen der Natur, die sich scheinbar endlose Wortduelle liefern. Alles wirkt so natürlich-irdisch, zum Greifen nah. Der Fluss, die Wiesen. Das Ufer auf der anderen Seite. Die Ruhe.

Die sich leerenden Dörfer Brandenburgs rücken ins Visier der städtischen Kopfarbeiter, der Theatermacher, Literaten und Soziologen. Mit der Schrumpfung sind die Rückkehr der Wölfe und neuer Sehnsüchte verbunden. Das kleine Strodehne an der Havel hat bereits eine längere Karriere als Aussteiger- und Sehnsuchtsort hinter sich. Das kleine märkische Dorf zwischen Rathenow und Havelberg ist seit Jahrzehnten Anlaufpunkt für Künstler und Ausstiegswillige.

IMG_1023

Versorgungsengpass Strodehne. Ein Künstlerprojekt im Sommer 2015.

 

Ein schmucker Dorfanger. Eine Kneipe mit dem Namen Stadt Berlin, das Versprechen: „rustikale deutsche Küche“. Eine herrliche Badestelle am Fluss. Barfußkinder und nackte Mütter. Enten, Hühner, Kraniche. Eine Astrid-Lindgren-Bullerbü-Idylle. Irgendwo kläfft ein Hund. Eine Künstlerinitiative verkauft im ehemaligen Konsum selbstgebackenen Kuchen und träumt den Traum von selbstbestimmter Kunst. In der alten LPG-Kantine gibt es Mahlzeiten zu 1,50 (EVP) oder 2,50 für Auswärtige. Ach, auch der große Bernhard Heisig hat früher in Strodehne einmal gemalt.

 

IMG_1019

„Früher war alles besser.“ Mahlzeit in der LPG Essenküche Strodehne – mit Kulturprogramm. Das Comeback ist bereits vorbei. Vielleicht gibt es eine Wiederholung?

 

Es riecht nach Erde, Apfel und Kindheit. Hier grüßt das ungeschminkte Gesicht des einfachen Landlebens. Naive Aussteiger-Prosa? Von wegen. Provinz ist doch stets dort anzutreffen, wo man sich nicht mehr bewegen mag: gedanklich, materiell oder mit der eigenen Neugier. Wenn einen nichts mehr interessiert, alles gesagt ist. Die Provinz ist immer in den eigenen vier Wänden, im Kopf zuhause. Provinzler kann man in der größten Stadt der Welt sein. Das kleine Strodehne lädt zum großzügigen Leben und Schwärmen ein. Solange der Sommer zu Gast ist.

 

Versorgungsengpass Strodehne. Landkreis Havelland. 90 Kilometer westlich von Berlin.

 

IMG_1033

Auch das nahe Wassersuppe unweit von Kotzen im Havelland ist eine Reise wert.

post image

Homeland

„Brot kann schimmeln. – Du kannst gar nichts.“ Kurzer Schlagabtauch in einer Dorfkneipe. Tresen-Weisheiten. Der gemeine Brandenburger macht nicht viel Aufheben. Er verliert nur wenige Worte. Die trockene Pointe zählt. Brandenburg stammt von Branten. Es ist ein altes Wort für Pratzen oder Tatzen, in dem klanglich „Bandenburg“ mitschwingt. Da liegt doch die Geschichte vom störrischen Esel Buridan nahe, der zwischen zwei vollen Heuhaufen wählen, aber sich nicht entscheiden kann. Am Ende verhungert er.

artikelkopfgalerie_876x584_05-f6c72a3a069e9b00

Die Mühle von Gülpe. Bei Tage. Nirgendwo in Deutschland sind die Nächte aufregender als hier – jedenfalls der Sternenhimmel.

„Es ist nicht alles Chanel es ist meistens Schlecker, kein Wunder dass so viele von hier weggehen, aus Brandenburg. Da stehen drei Nazis auf dem Hügel und finden keinen zum Verprügeln, in Brandenburg. Brandenburg, ich fühl‘ mich heut‘ so leer, ich fühl‘ mich Brandenburg. In Berlin bin ich einer von drei Millionen, in Brandenburg kann ich bald alleine wohnen…“, lästerte schon vor Jahren Liedermacher Rainald Grebe. Wo wohnt der gute Mann? – In Brandenburg.

artikelkopfgalerie_876x584_01-4d95f2662a3e6ce6

3.000 Seen gibt es in Brandenburg. Und fast so viele Herren- und Gutshäuser. Nicht alle sind so gepflegt wie hier in Gülpe im West-Havelland. Rund 100 Kilometer von Berlin entfernt.

Während in Berlin-Mitte und angeschlossenen Szenevierteln allerletzte Brachflächen zugebaut, Wohnraum knapp und teure Luftschlösser geplant werden, schrumpfen im Umland Städte und Gemeinden, werden Dörfer von der Außenwelt abgehängt oder verschwinden ganz von der Landkarte. Die Ideologie des stetigen Wachstums weicht einer Kunst des Schrumpfens. Hier können nunmehr gepflegte Langeweile und Müßiggang geübt werden. Es ist die Suche nach dem Modell für ein neues Leben.

artikelkopfgalerie_876x584_06-cb67237534df63d7

Der Himmel über Gülpe.

Es ist der Versuch in menschenleeren Gegenden zu siedeln. Immer mehr Menschen suchen in der Streusandbüchse ihr Glück, während viele junge Einheimische nur noch weg wollen. Der dunkelste Ort in Deutschlands liegt natürlich in Brandenburg. Gülpe heißt er, knapp einhundert Kilometer westlich von der boomenden Hauptstadt entfernt. Hier schlägt das Herz Dunkel-Deutschlands. Das hat einen wesentlichen Vorteil: Nirgendwo ist die Nacht schwärzer. Nirgendwo die optische Luftverschmutzung so gering. Hier kann der aufmerksame Beobachter die meisten Sterne sehen.

Gülpe ist Deutschlands erster Sternenpark. Umsonst und draußen. Ein Campingstuhl genügt. Und ein bisschen Geduld und Glück…

post image

Fasanenjagd im Englischen Garten

An einem keineswegs geruhsamen Ostersonntag notiert Victor Klemperer in sein Tagebuch: „Kommunion und Kommunismus, Ludwigstraße und Schellingstraße, sind buchstäblich schwarz von den Tausenden, die aus der Messe strömen.“ Es ist der 20. April 1919. In München herrscht seit drei Wochen eine Sowjetrepublik. Es ist Weltrevolution in Schwabing. Klemperer schreibt für die erzkonservative Leipziger Neuesten Nachrichten Revolutionsberichte aus der bayrischen Unruhe-Metropole.

Unter dem Pseudonym Anti-Bavaricus notiert er am 20. April 1919: „ Kein Tag, an dem dieses gewissenlose Jagen, das eine bloße Gaudi ist, nicht seine Opfer fordert. So stirbt man für die Freiheit! Das Fahren ist Gaudi, das Knallen auch. Man kann jetzt schöne Fasanenfedern, wie Bajonette an den Gewehren steckend, sehen: die Fasanen im Englischen Garten sind sehr verlockende Jagdobjekte.“

06-klemperer-victor-01

Victor Klemperer alias „Anti-Bavaricus“ – unbestechlicher Beobachter der Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919.

Wenige Tage und viele Versammlungen, Resolutionen, Streiks, Gerüchten und Parolen später hält Klemperer fest. „Jetzt, da die Bürger zu merken begannen, dass das räterepublikanische Spiel, in dem sie halb apathisch, halb missmutig zugesehen hatten, für sie doch wohl Schlimmeres bedeuten konnte als nur eine wilde karnevalistische Veranstaltung, wie zeigten sie jetzt ihr Erwachen zum Widerstand? – Durch spontanen Antisemitismus. Saujuden!“ Nun soll dem Spuk ein Ende gemacht werden. „Wenn sie nur kämen und uns endlich von dem Gesindel befreiten!“, beobachtet Klemperer Volkesstimme.

hitler_sozialist

Ein Soldat mit Händen in den Taschen (Pfeil) beobachtet das revolutionäre Münchner Treiben im Februar 1919. Es soll sich um den Gefreiten Adolf Hitler handeln.

Es kommt zum blutigen Showdown. Über 30.000 Freikorps- und Reichswehrsoldaten erobern auf Befehl des preußischen Innenministers Gustav Noske (SPD) das rote München. Die Intellektuellen-Revolution wird niedergeschossen. Anti-Bavaricus registriert am 2. Mai 1919: „Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben – die Herrlichkeit dauerte keine zwei Tage – sah ich eine freudige bayrisch-preußische Verbrüderung.“

ba006669

Einige Köpfe der Münchner Sowjetrepublik. Es ist eine Revolution der Bohémians. Mit Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller und anderen standen auffällig viele Dichter und Denker an der Spitze der Rätebewegung.

Es folgen Standgerichte, Hinrichtungen, Fememorde. Die meisten der Führer werden ermordet. Der Spartakusaufstand fordert über tausend Opfer. Klemperer hält mit unbestechlichem Blick fest, „in alle Straßen verteilen sich starke Patrouillen und Abteilungen verschiedener Waffen, und an allen Ecken, wo man gedeckt ist und doch Ausblick hat, drängt sich das Publikum, häufig das Opernglas in der Hand“.

bayern-reaterepublik-gefangener100~_v-img__3__4__xl_-f4c197f4ebda83c772171de6efadd3b29843089f

Die „Weißgardisten“ nahmen bei der Niederschlagung der Räterepublik in München heftig Rache. Die Zahl der Toten wird auf über 1.000 geschätzt.

Nach vier Wochen ist die Münchner Sowjetrepublik Geschichte. Klemperer am 10. Mai 1919: „Es ist die alte grausame Naturnotwendigkeit: von einer schwächlichen Regierung ungehindert haben die Spartakisten Tod säen dürfen, und nun haben sie ihn hundertfach geerntet.“ Die Bilanz des Chronisten deutscher Tragikomödien lautet: „Alles ist jämmerlich, und alles ist blutig, man möchte immer weinen und lachen in einem.“

 

Victor Klemperer. Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Aufbau-Verlag. 2015.

post image

Mit dem Rad durch die Mark Brandenburg

Meide vielbefahrene Straßen! Radfahrer jedweder Couleur gelten als natürliche Gegner eines durchschnittlichen Automobilisten. Meide idyllische Waldwege! Du versinkst zielsicher im märkischen Sand. Sei zurückhaltend und erwarte Nichts! Dann werden die Menschen dieser großartigen Landschaft mit endlos gelben Rapsfeldern und tiefblauen Seen freundlich und auskunftsbereit deine Tage und Stunden verkürzen.

IMG_1038

„Was ist der wichtigste Beruf auf der Erde?“ – Antworten gesucht in der Mark Brandenburg zwischen Hafer und Gerste.

„Jeder nach seiner Fasson!“ Des fritzschen Preußenkönigs Motto begleitet uns, immerwährend und hoch aktuell. Jeder wie er will und wie er kann. Frage an einen Museumsmitarbeiter in einer touristischen BUGA-Stadt, wie es denn laufe? Antwort: – „Katastrophe! Zu viele Menschen. Voll wie auf dem Bahnhof. Kaum auszuhalten.“ Frage an eine Kellnerin in Otto Lilienthals Absturzort Stölln. Wo genau ist er damals in ihrer Gaststätte gepflegt worden? – „Keene Ahnung. So alt bin ick doch nicht. War vor meiner Zeit!“

IMG_1027

Flug über das weite Land. In Stölln stürzte Otto Lilienthal am 9. August 1896 ab. Er wurde in ein nahes Gasthaus gebracht. Auf dem Rücktransport nach Berlin verstarb der Flugpionier.

Wer durchaus spannende Ausstellungen und Museen auf dem Land besuchen will, braucht ein dickes Fell und genaues Timing. Da wird der Reisende aus liebevollen Sammlungen um 16 Uhr hinausgebeten, denn: „Jetzt ist Schluss, die Alarmanlage muss scharf gestellt werden“. Anderswo sind in den Ferienmonaten Sehenswürdigkeiten montags und dienstags grundsätzlich geschlossen. Begründung: „Das war schon immer so.“ Oder Ausstellungen sind einfach zu. Ohne Angaben von Gründen.

IMG_1044

„DDR-Erinnerungen“ in Kampehl bei Neustadt/Dosse. Zutritt ist reine Glückssache. Hat der Chef Lust, ist geöffnet. Ansonsten bleibt das kleine Museum geschlossen.

Merke: Erreiche eine der wenigen Gaststätten nie nach 19 Uhr oder du wirst bist zum nächsten Morgen hungrig bleiben. Decke dich in den Diskountern AldiLidlNetto ein, auf den Dörfern wirst du sonst verdursten. Es gibt weit und breit keine Läden, auch nicht die von Tante Emma. Und ein letzter Hinweis: Steigst du aufs Rad im Land des Roten Adlers  grüße wortlos mit der linken Hand. Erhebe zügig den linken Arm und nicke kurz entschlossen. Mehr bedarf es nicht, um mit den Bewohnern dieses stillen weiten Landes – genannt Brandenburg – wunderbare Wochen zu verbringen.

post image

Fliegen wie ein Adler

Das Haus der Flugpioniere Otto und Gustav Lilienthal in Anklam steht nicht mehr. Zerstört im Krieg. Genau wie die nahe und mächtige Nikolaikirche mit einem Turm von imposanten 103 Metern Höhe. Einst Lotsenpunkt für die Kapitäne der Ostsee. Doch der Turm ist weggeschossen worden. Am schwärzesten Tag der Stadt, am 29. April 1945.

Das kleine Städtchen Anklam im äußersten Nordosten Deutschlands hat eine Geschichte wie Ikarus. Früher stolze und reiche Hansestadt an der Peene brachen erst die Nazis, dann die SED-Sozialisten der Stadt das Genick. 1943 zerstörte ein Angriff der US-Luftwaffe die Innenstadt. Ende April 1945, am letzten Kriegstag wurde Anklam zu 85 Prozent dem Erdboden gleich gemacht. Ritterkreuzträger Erich Mende, ein späterer Minister in Bonn, ließ aus sicherer Distanz auf die eingerückte Rote Armee feuern. Der Turm der Nikolaikirche fiel. Zudem startete die deutsche Luftwaffe am Nachmittag einen Angriff auf Anklam – auf die eigene Stadt. Ein bizarrer Vorgang.

das-neue-denkmal-fuer-brueder-70159

Anklam eine Kirche ohne Turm. Eine Stadt ohne Mitte. Das soll anders werden. Foto: Christhard Läpple

 

Nach dem Fanatismus der Nazis gab die sozialistische Stadtplanung Anklam den Rest. Zurück blieb eine Stadt ohne Mitte und Seele. Nach der Wende zogen erst die Menschen in Scharen weg, dann Verwaltung, Polizei und Gericht. Die Einwohnerschaft hat sich nahezu halbiert. Schlagzeilen über gewaltbereite Neo-Nazis taten ein Übriges. Anklam, die geschundene Stadt, wurde vergessen und sich selbst überlassen.

„Wir heben ab. Spätestens im Jahre 2020 hat die Stadt wieder ein Gesicht. Ein Zentrum. Ab in die Mitte.“ Peer Wittig strahlt Zuversicht aus. Der gelernte Ingenieur gibt sich selbstbewusst. „Wir schaffen das“. Die Nikolaikirche soll ein renommiertes Museum für den Traum vom Fliegen werden. Wo Jahrzehnte lang in der Kirchen-Ruine Tauben hausten und grüner Rasen gedieh, soll sich der Adler von Anklam wieder stolz in die Luft schwingen, Der 53-jährige ist voller Energie. „Wir haben eine Zukunft.“ Die Kirche als letzte große Hoffnung.

ikar1

Der Traum vom Fliegen ist die Zukunft. Anklam setzt auf das Ikareum. Das etwas sperrige Kofferwort steht für Ikarus und Museum. 2020 soll die zerstörte Nikolaikirche mit neuem Turm eröffnet werden.

 

„Ikareum“ soll das neue Mekka der Luftfahrt heißen. Fluggeräte und Geschichten der Gebrüder Lilienthal, Montgolfiere und Wright sind bereits in der 33 Meter hohen Kirche zu entdecken. Otto Lilienthal, der mit vierzehn Jahren Anklam verließ, flog mit seinen waghalsigen Apparaten bis zu zweitausend Mal. Bis er im Alter von 48 Jahren abstürzte. Wie einst Ikarus. Längst kann die Menschheit fliegen. Anklam träumt nun wieder einen Menschheitstraum. „Die Macht des Verstandes wird im Fluge auch dich tragen“, sagte der berühmteste Sohn des gebeutelten Städtchens. Das müsste doch zu schaffen sein.

Das Ikareum in Anklam ist im Sommerhalbjahr bereits geöffnet.

32511_7

Michael Najjar. Skyfall. Videoworks. Mehr im: Es Baluard Museum d´Art Modern. Palma de Mallorca. Bis 30. August 2015.

Leben und Struktur

„Am Kanal entlangspaziert auf der Suche nach einem guten Ort. Unter der Fennbrücke steht eine kleine Bank, dahinter ein schmaler Streifen mit Geländer zum Nordhafen. Ich sitze Probe auf der Kante, fühle mich aber nicht ganz wohl“, notiert Bestsellerautor Wolfgang Herrndorf am 22. Oktober 2012 um 21.15 Uhr in seinem Blog „Struktur und Arbeit“. Und weiter:

„Man sitzt beengt, und mit meiner defizitären Motorik, fürchte ich, könnte ich bei Schnee und Eis (ich sterbe im Winter, denke ich) abrutschen, bevor ich Zeit zum Zielen gehabt hätte. Schön die leichte Strömung, die Herbstlaub und tote Körper nach Westen treibt“.

Zehn Monate später am 26. August 2013 gegen Mitternacht beendet Herrndorf das Wüten des Tumors in seinem Hirn mit einer 9mm-Kugel in den Kopf . Der Schriftsteller wurde 48 Jahre alt.

3-format43

Selbstbildnis Wolfgang Herrndorf. 1988.

Jetzt zeigt das Literaturhaus Berlin bislang unbekannte Zeichnungen, Bilder und Karikaturen aus Herrndorfs Nachlass. In den neunziger Jahren hatte der genaue und sensible Autor nach einem Kunststudium in Nürnberg mit großer Sorgfalt für die Titanic und den Tagesspiegel gezeichnet. Ein Brotjob. Irgendwie musste die Miete ja reinkommen. Er fühlte sich Spitzwegs Armen Poeten sehr nahe.

IMG_0979

o.T. Acryl auf Papier. Ein Beispiel von Herrndorfs 600 hinterlassenen Bildern, Zeichnungen und Karikaturen.

Anfang des 21. Jahrhunderts gab Herrndorf die Malerei auf und widmete sich mit gleicher Präzision und Liebe zum Detail der Schriftstellerei. Seinem Debüt „In Plüschgewittern“ folgten die Erfolgstitel „Tschick“ und „Sand“. Der Rest ist so traurig wie bekannt. Im Februar 2010 übernimmt ein unheilbarer Gehirntumor das Drehbuch seines Lebens. Je erfolgreicher er wird desto verzweifelter seine Lage. Herrndorf schildert in seinem Tagebuch „Arbeit und Struktur“ beklemmend und ohne jedes falsches Pathos den Countdown bis zu seinem selbstbestimmten Ende am Kanal. „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“

IMG_0978

Herrndorf interpretiert Picasso, wie der spanische Altmeister Adolf Hitler interpretiert haben könnte.

 

„Wolfgang Herrndorf: Bilder“. Bis 16. August 2015 im Literaturhaus Berlin.