Category : aktuelles

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Der Tintensklave

Fontane? Mmmh. Dieser preußische Goetheverschnitt und Märkische Heimatdichter? Ein Fall für Gestrige und angestaubte Geister, sagen viele. Einer für Deutsch-Lehrerinnen und Männer-Gesangsvereine. Aber nichts für Menschen von hier und heute. Tja. Der Meister sagte über sich selbst, er sei „mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose“. Dieses Talent zu würdigen, schlägt des Dichters Geburtsstadt Neuruppin, eine Autostunde von Berlin entfernt, mächtig auf die Werbetrommel. Der 200. Geburtstag ist zu feiern, mit Worten, Taten, Ausstellungen, Inszenierungen und dem ganzen Gedenk-Gedöns. Fontane gibt es natürlich auch als Playmobil-Figur. Das kleine Neuruppin geht den großen Fontane 2019 sehr ambitioniert an. Nicht was der Dichter geschrieben hat, steht im

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Aus Kellern und Dachböden

Wer ist Anna Hönigsberg? Sie „wohnte“ im Block L112. In Theresienstadt. „Judenlager.“ Eine alte Postkarte, abgeschickt in Italien von einer Melanie Friedrich, abgestempelt am 13. Mai 1943. Ist die Karte angekommen? Wurde sie gelesen? Was ist aus den beiden Frauen geworden? Aus Absenderin und Empfängerin? Lukas Lev winkt ratlos ab, genau wie sein Freund Jiri Smutny. Die beiden Tschechen haben diese Karte gefunden. Und viel mehr. Briefe, Ghetto-Ausweise, Essensmarken, Flaschen, Teller, Besteck, Knöpfe, Ringe, Schmuck. Sogar eine Handgranate, die stammt allerdings aus dem I. Weltkrieg.     Spuren menschlichen Lebens. Ausgegraben aus meterdickem Schutt in Kellern und auf Dachböden im einstigen Ghetto Theresienstadt. Anna Hönigsberg war im Haus L112 interniert.

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Blicke

Zu den Schönen, Kreativen, Wichtigen zu zählen, ist ein gutes Gefühl. Es ist aber auch anstrengend. Immer on top zu sein. Eine Einladung zu haben. Das Bändchen am Gelenk tragen zu können. Berlin brummt. Jeden Abend feiert die Szene sich selbst. Welche Szene? Es gibt im Swinging-Berlin der späten Zehner-Jahre so unendlich viele wie Tage im Jahr. Oder noch mehr. 24/7. Selbst Profis kommen ins Schwitzen. Wohin gehen? Wen muss man kennen? Was darf man auf keinen Fall verpassen? Film und Fernsehleute, Kunst, Theater, Literatur dazu die versammelte Lobbyisten-Blase aus Politik, Wirtschaft und Investment von Bitcom bis zum Bundesverband der Brauer begehen unentwegt jeden Abend ein Come-Together. Ein Event. Oder

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Mehr Wibke wagen

Was diese Frau alles bewegte. Wibke Bruhns präsentierte die ZDF-Nachrichten – als erste Frau im Blümchenkleid. Damals eine Sensation in der westdeutschen Männerwelt. Fast fünfzig Jahre ist es her. Und stets die gleiche Frage: wie war´s beim ersten Mal? Saß die Frisur? Gab es einen Versprecher? Wibke: „Wir durften an dem Text nix machen zum Wohle der Grammatik. Der langweiligste Job meines Lebens.“ Aber sie wollte keine „Sprechpuppe“ sein. War sie auch nie. Einfach nur Nachrichten verlesen war nicht ihr Ding. Wibke Bruhns mischte sich ein, machte 1972 Wahlkampf für die SPD, für Willy Brandt. Als Nachrichtensprecherin. Das war damals noch möglich und führte zielsicher zum Skandal. Ein einziger Shit-Storm

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Tl; dr

Die Überschrift – ein Rätsel? Funde aus vergangenen Zeiten? Eine chemische Formel? Nichts verstanden? – Da kann geholfen werden. Hier grüßt der digitale Zeitgeist. Tl bedeutet too long – dr = didn´t read. Kurzum: Wenn Geschichten zu lang sind, werden sie nicht gelesen. So einfach ist das. Kein neues Phänomen, aber ein neuer Name. Wenn Texte langweilen, steigt die geneigte Leserschaft aus. Oder fängt erst gar nicht an. Die User im Netz sind höchst sensibel, nervös und ungeduldig. Die nächste News, der nächste Spot. Wisch und weg. Das hohe Gut Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource. Was tun? – Trotzig dagegen halten? Oder mitsurfen und nach Schlagzeilen schielen? Die Klicks und

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„Top of the world“

Eine lange Schlange vor dem Jazz-Club Village Vanguard. Anstehen für das zweite Konzert. Warten auf Ben Wendel. Ein Kanadier in New York. Am Ende der Straße leuchtet das One World Center. Errichtet auf den Trümmern des World Trade Center. Manhattan kurz vor halb elf abends. Gelbe Taxen huschen vorbei, hupen, halten. Starten durch. Die Menge verharrt geduldig. Der erste Durchgang ist vorbei. Das Halb-neun-Publikum strömt die Stufen aus dem Basement nach oben, verlässt den Club, wird verschluckt vom unablässigen Strom der Menschen, Autos, Busse, Bahnen. Unten im Bauch des Vanguard viel roter Plüsch an den Wänden. Schwarz-Weiß-Fotos von Jazz-Größen. Sparsame Beleuchtung. Es ist klein, eng, dunkel und voll. Jeder Zentimeter

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Was uns blüht

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Eine alte Weisheit. Immer wieder neu erlebt. Was hatten die frisch vereinten Deutschen vor dreißig Jahren für Träume, Hoffnungen, Erwartungen. Meinungsfreiheit. Blühende Landschaften. Viasfrei bis Hawaii. Die friedliche Wende hat sich in ein lautes, verzagtes Jammern, Klagen und Verdammen verwandelt. Geh ins Offene, empfahl Hölderlin. Doch wohin? Ohne Geländer? Ohne Führung? Selbstbestimmt gar? Das verquere Ding mit der Einheit. So viel Frust war nie. Der Osten wütend, der Westen genervt. Die SPD ausgelaugt, die AfD stark. Tonnen an Büchern, Schriften und Rechtfertigungen versinken im trockenen Sand wie ein heißer Sommerregen. Der gemeinsame Grund scheint ausgelaugt und verstaubt zu sein wie der Waldboden in unserem

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Mann mit Fahrrad

Ein Mann steht stumm mit seinem Fahrrad am Straßenrad. Er schweigt. Dabei hätte er viel zu sagen. Touristen ziehen vorbei, fotografieren ihn. Oder sie knipsen sich, am besten ein Selfie mit dem stummen Radfahrer. Der Mann mit Mütze und skeptischem Blick steht in Oslo. Direkt an der Karl Johans Gate, dem Kurfürstendamm der norwegischen Hauptstadt. Wartet er? Ist er verabredet? Was hat er vor? Er kann nichts sagen. Er ist aus Bronze. Ich bewundere den stillen Zeitzeugen. Ein Freund hatte mir den Tipp gegeben, ihn in Oslo zu besuchen.     Gunnar Sonsteby heißt der unbekannte Radfahrer mit der kecken Schiebermütze. „Freiheitskämpfer 1940-1945“ ist auf einem Schild vermerkt. Während ich

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Geschlossene Gesellschaft

Ganz im Süden von Manhattan. Richtung One World Center. Wo einst zwei Türme standen, ragt ein schlanker Superturm noch kühner in den Himmel. Zu seinen Füßen Greenwich Village. Gleich nebenan das Viertel um die High Line. Ein schickes neues Stadtviertel entlang einer stillgelegten Hochbahn. Früher der Schlachthof New Yorks – heute Szeneviertel mit Restaurants, Clubs, Cafés. Wohnen als Investment oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu den zahlungskräftigen Happy Few. Hier ist alles sündhaft teuer. Das Sandwich an der Ecke ist nicht unter zehn Dollar zu haben. Aber bitte mit Avocado! Der In-Frucht des New Yorkers. Ein paar Ecken weiter das legendäre White Horse Tavern. Kneipe. Und Mythos. Hier feierte der Waliser

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Take a walk

Reisender kommst du nach New York, heißt es: Los geht´s. Immer die Fifth Avenue lang. Geradeaus. Gen Süden. Vorbei am Central Park. Zwischen Häuserschluchten, hupenden Autos, eilenden Passanten, kichernden Touristen und misstrauischen Polizisten. In den Himmeln ragen Hochhäuser dünn wie Bleistifte. Lustwandeln wie einst Fontane? Geht nicht in dieser Stadt. Manhattan erhöht den Blutdruck. Kostenlos. Alles andere ist eine Nummer größer als anderswo und auf alle Fälle sündhaft teuer.   Warte nicht, bleib nicht stehen! Business wird gemacht. Wo eilen die Menschen hin? Zu Events, Meetings, Partys? Der New Yorker ist busy. Time is money. Schaufenster mit prächtig-schrillen Angeboten. Teure Accessoires, zum Beispiel ein Damentäschchen in Dackelform von Gucci. Dazu

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